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Araurige Zeichen der Zeit. Wie in aller Welt ist eine so bodenlose sittliche Versunkenheit, wie sie in wiederholten Mordversuchen auf einen ehrwürdigen und geliebten Greis, den Be herrscher von Millionen dankbarer Nnterthanen, sich documentirt, in einer Zeit nur möglich, die sich ihrer hohen Cultur rühmt, in einer Nation, die erst durch ihn die Machtstellung unter den Völkern der Erde erlangt hat, nach welcher sie seit Jahrhunderten sich sehnte? Wo ist die deutsche Treue und Bieder keit geblieben, wenn das Banditenthum die mörderische Kugel zu wiederholten Malen auf Denjenigen ent sendet, welcher für Deutschlands Einheit und Frei heit mehr gethan hat, als alle Kaiser und Könige vor ihm! Man will am Tage des letzten Attentats un zählige verweinte Augen auf den Straßen Berlins gesehen haben, und wahrlich, was wir am 2. Juni erlebten, ist ganz dazu angethan gewesen, Thränen des Schmerzes und der Wuth, aber auch die Röthe der Scham auf dem Antlitz jedes Deutschen Hervor zurufen! Der Schutzgeist unterer Nation muß trauernd sein Haupt verhüllen, um des Frevels willen, dessen sich zwei entartete Söhne des Vaterlandes schuldig gemacht und durch welchen sie dem deutschen Namen einen Schandfleck angcheftet haben vor allen Völkern der Erde! Auch dem blödesten Auge ist es jetzt klar geworden, daß die Socialdemokratie auf den Umsturz der bestehenden staatlichen Ordnung aus geht, ja daß sie die Anwendung physischer Gewalt nicht zu verschmähen gedenkt, wenn auch immerhin das schauerliche Mittel des Meuchelmords nur von einzelnen besonders exaltirten Köpfen für zulässig gehalten werden mag. Der socialistische Staat kann nicht hervorgehen aus allmäligen Reformen, denn er ist das directe Gegenthcil aller der Zustände, die bei uns gesetzliche Gültigkeit haben; mit ihm ver trägt sich weder die Monarchie noch überhaupt eine obrigkeitliche Autorität nach dem Zuschnitt des modernen Staates. Darum kann er nur das Resultat einer Revolution sein, und die bedeutendsten Führer der socialdemokratischen Agitation haben in Versammlungen und Schriften kein Hehl daraus ge macht, daß ohne- harten und blutigen Kampf ihr Zukunstsstaat nicht werde errichtet werden können. Dies Alle« kann den Organen der Regierung kein Geheimniß gewesen sein; um so bedauerlicher, daß man dem Anwachsen der Bewegung nicht schon längst mit den schärfsten Mitteln entgegen getreten ist, deren Anwendung die bestehenden Gesetze gestatteten! Das für die Wahl zum Reichstage eingeführte allgemeine Stimmrecht gab der großen besitzlosen Masse eine Bedeutung, die nur paralisirt oder gar herabgedrückt hätte werden können, wenn alle übrigen bürgerlichen Kreise im vollen Umfange ihre Schuldigkeit gethan hätten. Den Willen dazu durfte man so lange nicht bei ihnen voraussetzen, als die ungeheuere Gefahr, mit welcher die socialistische Bewegung Staat und Kirche, Eigenthum und Familie bedroht, nicht Allen zum Bewußtsein gekommen war. Man hat das Kind heranwachsen lassen, bis es seine bestialische Natur nicht mehr zu verleugnen vermochte. Jetzt nun geht s« los mit dem Anklagen und Hetzen gegeneinander, jetzt beschuldigt eine Partei di« andere, jetzt «acht man bald die Gesetzgebung der letzten Jahre, bald den Culturkampf, bald sogar da» Verhalten der national-liberalen Partei verantwortlich für da» An wachsen der Socialdemokratie und für alle grüßen Schäden, die unser Volksleben aufweist. Aber für wahr, nicht einzelne Parteien trifft die Schuld, nicht der oder jener Beamte hat seine Pflicht verabsäumt, sondern Volk, Kirche und Regierung haben in unbe rechtigter Vertrauensseligkeit und trauriger Indolenz dem Treiben der Socialdemokratie zugeschaut; Nie mand hat eben erwartet, daß sie ihre Theorien ge waltsam würde in die Praxis überzuführcn wagen ; die Abnahme eines soliden, anständigen Betragens und die Zunahme brutaler Unverschämtheit in den unge bildeten Schichten der Bevölkerung hat man wohl bemerkt, aber nicht, wie es nöthig gewesen wäre, zu bekämpfen gesucht. Daß aber die socialistische Revolution in meuchel mörderischen Attentaten vorspukt, daß bereits eine unerhörte Rohheit wie ein krebsartiges Geschwür gar manche Kreise unseres Volkes angefressen hat, — wer darf sich darüber wundern? Ein Zug tief be- klagcnswerther Frivolität characterisirt die Gegenwart seit länger als einem Decennium ebenso sehr, wie ein immer zunehmender Mangel an aufrichtiger Re ligiosität; der Verkehr in Bierhäusern, Branntwein schänken und auf Tanzböden ganze Nächte hindurch, das schamlose Geplärre sogenannter Chanteusen und die unsittlichen Vorträge der Komiker in den Tingel tangeln sind wahrlich schlechte Bildungsmittel für das Volk. Was aber die Zügellosigkeit einer radi kalen Presse zu leisten vermag in dem Genre ge meiner, unfläthiger Schimpfereien, wie sie der großen Masse der Urtheilsunfähigen den Sinn für Anstand und Sitte raubt, wenn sie nach dem Motto „nur die Lumpe sind bescheiden!" sich mit ebenso großem Eifer selbst bewuchert, wie sie dem Gegner die Ehre abzuschneiden sucht, — dafür sind die Bei spiele wahrlich in Menge vorhanden. Der vergiftende Einfluß einer möglichst pikanten Zeitungslectüre, mit der nicht blos die Organe der rothen und schwarzen Internationale, sondern leider auch nicht wenige radikale Blätter eines Liberalismus psr oxoellenoo den ungebildeten Claffen Tag für Tag regaliren, liegt auf der Hand und doch rufen die eklatantesten Verstöße gegen gewisse Paragraphen de» Paßgesetzes fast niemals eine Anklage ex olüoio hervor, weil ihre Verfolgung nicht durch die Rück sicht auf das öffentliche Wohl geboten erscheint! Darf man sich wundern, wenn unter solchen Um ständen die Preßfreiheit in Preßfrechheit auSartet - Den öffentlichen Ankläger fürchtet auch der rohe! journalistische Klopffechter, — die Privatklage macht .ihm um so weniger Schmerzen, als er weiß, daß die Gerichte in solchen Fällen fast immer zur größ ten Milde geneigt sind! In der kritischen Zeit, die wir zu durchleben haben, darf kein Symptom gering erachtet werden, an dem sich die KrankheitScrscheinungen bemerklich machen und aus dem wir ersehen, wo die heilende Salbe de« Arzte« oder da« scharfe Messer de« Operateur« angewendet werden muß!