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MORGENRQJT ÜBER DIE STADT! über Mandelstams Gedicht "Dem Chor Gundula Seil bes jungfräulichen Stimmenwoge ns ..." Im äs dunklen Ungestalten, mitten in der Suche, begegnet mir ein Gedicht wie eine Stadt. Vier strenge (alexandrinische) vierzeilige Strophen, die aufeinander zu laufen, deutlich® wie Handelsstraßen, und einen Ort bilden, Zeit, Architektur, Darbe und menschliche Ord nung, von der die Rede ist. Die Stadt ist Moskau; als Zentrum kristallisieren sich heraus die Kirchen des Kreml und deren Hauptkathedrale Mariä Himmelfahrt mit ihren .fünf. -Kuppeln. Die Kirche bildet im religiösen Sinn ein Symbol für die Stadt (das himmlischd Jerusalem) wie Moskau selbst als "das dritte Rom". Aber dem Dichter ist die christliche Bedeutung nur ein Beispiel, einer der denkbaren Hintergründe, welcher von den wechselnden realen Be schreibungen gestreift wird. Die Stadt ist zuerst zu hören als Gesang einer Gemeinde frommer Frauen. Dieser Chor bleibt nicht auf einen Innenraum beschränkt, wie auch das Wort "jungfräulich" aufhört, sich allein auf Nonnen zu beziehen, und seinen Reichtum zurückgewinnt. der vom aen AkmeisxER herkommt, führt die Begriffe auf die Dinge zu rück, die sie sind, nihht, die sie nur bedeuten. An den aus sich selbst neu und stark gemachten Wörtern erheben sich die Bilder des Gedicht? so plastisch und farbig wie die beschriebene, die wirkliche Stadt. ctus dem frommen Chor, der sich über ergießt, der dennoch keine der Stimmen aus seiner Fülle verliert.,., .baut sich die Stadt. Be deutet nicht die Kirche, nein, ist die Stadt. £Stadt auch im politi schen Sinn, als integrierender Ort weltlicher Gewalt, als intensivste Art menschlichen Gemeinwesens.T Sie hat keine Zeit, mystisch zu bleiben, sie wird durch einen Namen befestigt (Uspenskij sobor), die Melodien bekommen Halt in den stei nernen Bögen: den Gewölbebögen, die das Dach stützen über denen, die stehen und singen, den Bögen, die nach außen drängen, die Fassade nach oben abschließen. ■^Ä^tritt dem Bau als Zeuge gegenüber, erkennt in den Bögen Brauen,. . . ein Wesen, einen Partner in dem Bauwerk, beginnt sich in seiner Staat zu bewegen. _j2r diesem gedachten Blick erst einmal begegnet, identifiziert sich "mit dem Charakter der Architektur: Er blickt unter diesen Brauen hervor von der Fassade herab auf die Stadt, zu der er gehört, zwischen den gemalten Erzengeln über dem Portal stehend^^m dio -Statik deB-aU'k, Baues* zu halten haben xks als Verkörperung deir^noftStruktion. Der Dich ter bleibt Zeuge, er benennt, was er sieht, doch er sieht, was ihn begeistert. Wundersgan sieht die Stadt aus von hier oben und geginnt zu schweben, es ist noch Moskau und gleichzeitig alleStädte, die mythische Stadt. Orte und Zeiten überblenden einander?»v%lickt jene Reihe rückwärts hinauf, die hinter dieser Stadt steht: außer den rus sischen Traditionen sind anwesend italienische, byzantinische, römi sche, hellenische. Es ist die Akropolis (auf Wirklichkeit nie gestanden hat), auf der er jetzt in Wahrheit auch steht- Das athe nische Heiligtum und Machtzentrum bleibt ihm abstrakt der Stadt hier gegenüber, der russischen Fülle in Namen (Wort) und Schönheit (Körper- lichkeit), nach der er sich sehnt, selbst inmitten der Sehnsucht nach klassischer Antike- .Er, -der Zeuge, läßt sich nicht aus: Moskau ist ihm nicht allein die .Stadt, .es ist sein Ort. Was entscheidend dafür ist, daß^ey^jes al3 die Stadt beschreibt. Hier, in der Gegenwart (1916), läuft für^»^ie Geschichte zusammen, auf einen Schnittpunkt von Zeit und Raum, auf eine reale Situation, das muß- erwähnt—werden, dli!f>c$m Hintergrund dafür bildet, daß die scheinbar zeitlose .Vision darauf projiziert werden kann. Die Großartigkeit des Bildes^ ist gerade nur deshalb noch möglich, weil außerhalb alle Tendenzen ms .Stürzen geraten sind: Krieg, Krise, Zusammenbruch, die den Inhalt der Stadt zu zerstö ren drohen, fast ist nur noch die tote Kh Hülle^Jjjrrig. Die' Stadt muß erneuert werden, ein Ausweg muß gesucht werden^r^T^Sücht ein 'Bild, um die Stadt in Bewegung zu setzen, zu befreien.