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211 Reichseinigungsamt, ressortierend zum Reichsamt des Innern. Ueber die Frage der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit des Amtes an sich dürfte wohl kaum ein Zweifel bestehen, und nach einzelnen Mitteilungen sollen Vorarbeiten zur parlamentarischen Behandlung dieses Planes schon eingeleitet sein. Ob aber diese Vorarbeiten zu dem gewünschten Resultat, mindestens zur Vorlage eines Gesetzentwurfes führen werden, steht dahin; ist ja schon in der gegenwärtigen Session des Reichstages das Arbeitskammergesetz sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden und ebenso haben auch von den übrigen sozialpolitischen Vorlagen nicht alle Aussicht auf Erledigung. Eine ähnliche Stimmung klang auch aus den Worten des Staatsministers vr. Freiherr von Berlepsch, als kürzlich die Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für Soziale Reform mit einer weitergehenden Propaganda für die Idee eines Reichseinigungs amtes vor die Oeffentlichkeit trat. Nur kurz soll hier das Wesen der geplanten Zentralstelle berührt werden, weil es den Ausgangs punkt für die weitere Untersuchung bildet. Will man versuchen, den Begriff des Reichseinigungsamtes auf seine kürzeste Formel zu bringen, so wären die zwei Schlagworte zu nennen: Initiative und Zwangsgewalt. Wir machen immer wieder die traurige Erfahrung, daß große wirtschaftliche Kämpfe, die sich vielleicht hätten vermeiden lassen, Wochen- und monatelang dauern, Millionenopfer auf beiden Seiten verlangen und die Erbitterung auf den höchsten Grad bringen, weil niemand sich berufen fühlt, die Gegner zu einer friedlichen Verständigung oder wenigstens zum Verhandeln zu bringen. Hier soll das Reichs einigungsamt die Aufgabe haben, die Lage zu beobachten und auf Grund seiner autoritativen Stellung durch rechtzeitiges Eingreifen das Feuer im Keime zu ersticken, bevor es noch eigentlich zum Ausbruch gelangt oder größeren Umfang annimmt. Von einem solchen Eingreifen kann man sich aber nur dann Wirkung versprechen, wenn die Behörde den Parteien die nötige Autorität entgegensetzt und ihre Aufgabe mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgen kann. Die Parteien müssen nicht nur zum Erscheinen, sondern auch zum Verhandeln gezwungen werden können, so sehr dies auch Einzelnen als eine Beeinträchtigung ihrer Selbständigkeit erscheinen mag. Damit ist aber auch zugleich die Grenze für das Wirken des Einigungsamtes, wie das ja in der Natur der Sache liegt, gegeben; ein Zwang zum Abschluß der Verhandlungen etwa auf der Basis einer von dem Amte zu suchenden mittleren Linie kann für ausgeschlossen gelten. Aber nur auf diese Weise, durch die Einleitung von Unterhandlungen, lassen sich vielfach die schweren Kämpfe und die damit verbundenen Nachteile für unser ganzes Wirtschaftsleben vermeiden. Die Organisation des Reichseinigungsamtes wurde bei jener Besprechung nur kurz gestreift, und doch ist dies ein Punkt von durchaus nicht nebensächlicher Natur, da bei verschiedenen derartigen Gelegenheiten schon die Frage der finanziellen Deckung als Folge der Neuorganisierung von den zuständigen Ressorts ausgespielt wurde und das Zustandekommen der betreffenden Unternehmungen verhinderte. Wenn verlangt wird, daß das Reichseinigungsamt aus drei Mitgliedern bestehen soll, denen das genügende Bureaupersonal zur Sammlung und Sichtung des Materials beigegeben wird, so ist mit dieser bescheidenen Forderung vielleicht die Absicht verbunden, die Verwirklichung des Gedankens etwas schmackhafter und unverfänglicher hinzustellen. Jeder mit dem Behörden organismus im Deutschen Reiche einigermaßen Vertraute wird aber eingestehen müssen, daß es ausgeschlossen ist, eine derartig bedeutungsvolle Behörde auf so ungenügender Basis aufzubauen. Es hat wenig wert, hier nur den Bedürfnissen des Augenblickes zu dienen, es ist dagegen sogar direkt schädlich, die Gelegenheit zu versäumen, um eine großzügige Neuorganisierung vorzunehmen. Den Weg, der unseres Erachtens der einzige ist, etwas Ganzes zu schaffen, hat Minister von Berlepsch nur angedeutet, es ist die Verbindung mit der Abteilung für Arbeiterstatistik im Kaiserlichen Statistischen Amt. Es wird zweckmäßig erscheinen, bei dieser Gelegenheit auf die Grundidee dieser Regelung etwas näher einzugehen. Wenn schon eine Organisationsänderung vorgenommen werden soll und die Errichtung einer Reichsbehörde rein sozial politischen Charakters ins Auge gefaßt wird, so dürfte es sich vielleicht doch empfehlen, gleich einen Schritt weiter zu gehen und diejenige Stelle zu schaffen, die bereits seit langer Zeit als Zentrale unserer sozialpolitischen Betätigung im weitesten Sinne gedacht ist: das Reichsarbeitsamt. Im Anschluß an die Verhandlungen über die Novelle zum Gewerbegerichtsgesetz (vom 30. Juni 1901) und im Zusammenhang mit den verschiedenen Beratungen über den Entwurf bzw. über das Projekt des Arbeitskammergesetzes wurde auch die Notwendig keit der Schaffung einer obersten Behörde betont und von einzelnen Parteien dahingehende Anträge gestellt. Dieses zum Ressort des Reichsamtes des Innern gehörende Amt sollte ein ziemliches Maß von Selbständigkeit bekommen und diejenigen Befugnisse und Obliegenheiten übertragen erhalten, die gegenwärtig die Abteilung für Arbeiterstatistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes inne hat. Ferner bestand auch der Wunsch, diesem neuen Amte einen ständigen Arbeitsrat anzugliedern, dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gleicher Zahl, sowie unparteiische Sachverständige angehören sollten. Als besondere Aufgaben waren gedacht die Feststellung und wissenschaftliche Verarbeitung der Arbeits- und Erwerbsverhältnisse und der allgemeinen Lebensbedingungen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch des kaufmännischen und gewerblichen Mittelstandes, zu denen nach der neueren Ent wicklung der Dinge auch das große Heer der Privatbeamten hinzutreten würde. Auf diesen Grundlagen sollte sodann dem Reichsarbeitsamt die Aufgabe erwachsen, die Anregungen für eine zielbewußte unb einheitliche sozialpolitische Gesetzgebung zu vermitteln und die nötigen Vorbereitungen hierfür zu treffen, sowie die Erfahrungen aus den Sozialgesetzen im Reich, in den einzelnen Bundesstaaten und im Auslande festzustellen und wissenschaftlich zu verwerten, auch das gesamte sozialpolitische Material regelmäßig zu veröffentlichen. Bereits 1904 hatte Graf Posadowsky diesen Weg gezeigt und die Verwirklichung des Planes lediglich von der finanziellen Lage des Reiches abhängig gemacht. Wie bekannt, sollten nach dem neuen Entwurf des Arbeits- kammergesctzes die Arbeitskammern bei Streit zwischen Arbeit gebern und Arbeitnehmern der in ihnen vertretenen Gewerbe zweige über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses als Einigungsämter angerufen werden können, entweder in untergeordneter, wenn es an einem hierfür zuständigen Gewerbegericht mangelt, oder in übergeordneter Weise, wenn die beteiligten Arbeitnehmer in den Bezirken mehrerer Gewerbegerichte beschäftigt sind oder wenn die EinigungsVerhand lungen bei dem zuständigen Gewerbegericht erfolglos verlaufen sind. Ob und wann der Entwurf des Gesetzes über die Arbeits kammern seine Auferstehung finden wird, ist unbekannt. Immerhin kann im Rahmen dieser Betrachtung noch mit den Arbeitskammern als Unterbau gerechnet werden. Wenn nun als feststehend angenommen werden darf, daß der organisatorische Ausbau unser Sozialpolitik seine Krönung in einer Zentralstelle, dem Reichsarbeitsamt finden muß, so ist es doch naheliegend, daß auch die Zentralisierung des Einigungs wesens Aufgabe dieser Stelle sein soll. Wir brauchen nur an den Fall zu denken, daß ein Gewerbe nicht nationalorganisiert ist und deshalb mehrere Arbeitskammern in Betracht kommen. Nach dem ursprünglichen Entwurf wäre diese Möglichkeit noch viel leichter eingetreten, da die fachliche Gliederung auf territorialer, d. h. einzelstaatlicher Grundlage vorgesehen war. Durch die Kommissionsbeschlüsse ist ja nun bestimmt — und es ist zu hoffen, daß diese Fassung auch bei den späteren Verhandlungen wieder ausgenommen wird, — daß die Errichtung der Arbeits kammern durch Verfügung des Bundesrats erfolgen soll; hier durch ist die Möglichkeit vorhanden, für nationalorganisierte Gewerbe eine einzige Arbeitskammer mit Wirkung für das ganze Reich zu errichten. Diese Kategorie von Gewerben ist ;edoch nicht allzugroß und es muß wohl immer mit dem Vorhandensein mehrerer einzelstaatlicher Arbeitskammern für bestimmte Gewerbe gerechnet werden. Damit ergibt sich zugleich die Notwendigkeit des Vorhandenseins einer übergeordneten Instanz, die gegebenen falls, bei Ausdehnung einer Lohnbewegung über das Gebiet einer oder mehrerer Arbeitskammern hinaus, mir überlegener Kompetenz und Autorität eintritt. Das Gleiche ist der Fall, wenn eine derartige Bewegung mehrere Gewerbe erfassen sollte.