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Hoffnung. Wem sollte sie auch mehr vertrauen als dem Bruder, den sie einst als Mädchen so oft nach der Provinz stadt geleitet hatte, als er noch die blaue Gymnasiasten mütze auf dem Ohre trug!? Doch jetzt lag er selber schwer darnieder und konnte seiner Schwester keine Hilfe bringen. Indes — man hoffte. Und ich — hoffte mit. — Wie un endlich stark ist doch der Glaube an die Macht eines gütig waltenden Schicksals! — So begann meine erste Nacht daheim. Ich war ein anderer Mensch, als ich in zwölfter Stunde auf meine Kammer ging, während Vater bei der Kranken zurückblieb. ->- Verschneit in dörflicher Einsamkeit, wie seit langen Jahren nicht mehr, in tiefstem Frieden verbrachte ich die folgenden Tage. Freilich — unser Haus hatte noch nie so viele Frauen aus der Nachbarschaft gesehen wie gerade in dieser Zeit. Alle kamen sie zu meiner Mutter und meinten es gut. Die einen erzählten und fragten ohne Aufhören, andere klag ten über das schwere Los, und die stilleren brachten ihr manchmal eine Kleinigkeit mit. Neugier und Mitleid las sen sich bet solchen einfachen Seelen sehr schwer vonein ander trennen, und man konnte ihnen nicht Löse sein, wenn sie keine rechte Empfindung dafür hatten, wie sehr sie der Kranken mit ihrer Geschwätzigkeit zur Last fielen. — Selten rief Mutter einmal nach mir, nur wenn vor Fieberdurst die Kehle zu sehr brannte und Vater gerade draußen in der Wirtschaft zu tun hatte. Sonst saß ich vorn in meinem Studierzimmer und las das Lied vom Helden Roland, wie es einst in alter Zeit unsere westlichen Nachbarn gesungen und las in den from men Schriften des Mönches Notker von Sankt Gallen aus den Jahren um die Wende des ersten Jahrtausend nach Christo und las über spanische Dichtkunst und spanisches Theater. Im Ofen prasselten die knorrigen Baumwurzeln, und wenn abends die hölzernen Fensterläden vorgeschoben waren, hätte ich am liebsten nie mehr aus meiner Heim lichkeit fortgewollt. Von weither überm Meere, von der Insel im Norden, die die Alten das Eisland genannt haben, und wo das Volk wohnt, das sein Germanentum am reinsten bewahrt hat, kamen Weihnachtsgrüße, Grüße kamen auch aus der glanzvollen Seinestadt von dem Natursohn der wilden Berge Serbiens, der im Sommer auf unseren Feldern be geistert seine Lieder gesungen hatte, Grüße kamen vom Banater Schwabenland —; sie alle hatten uns nicht ver gessen, die fremden Söhne, denen unsere Armut Reichtum geworden, und in deren Herzen tiefere Liebe für unser armes Vaterland glühte als in manches Deutschen Brust. Sv hatten wir denn unsere stille Freude — auch ohne Weihnachtsbaum und ohne Lichterglanz. Und ich sagte: „Sie meinen es alle so gut mit uns . . . Mutter —, siehst Du —, nun mußt Du auch wieder gesund werden! Zn Dei nem Geburtstag . . . ." Und dann suchte ich in dicken Büchern und glaubte dem Übel auf die Spur zu kommen. Zwischen Hoffen und Ban gen gingen die Tage. Da schien ein wenig Besserung vor handen — sie nahm etwas Nahrung zu sich —, aber wieder um kamen neue Leiden und Schmerzen dazu: schlimme Wunden durch das endlose Liegen. Und kein Arzt. Nur ein Sichsügen in Geduld und ein Hoffen. Manchmal hörte ich durch die Bretterwand ihre seuf zende Stimme, wenn der Schmerz zu sehr quälte. Dann geschah es wohl, daß ich mit fast grausamer Härte gegen heiße Tränen'ankämpfen mußte, aber äußerlich ganz ruhig in die Türe trat: „Mutter, kann ich Dir Helsen?" — „Du darfst Dich nicht stören lassen! Du kannst nicht jedesmal kommen, wenn ich klage!" Und sie suchte sich zu bezwingen. — „Aber ruf mich, wenn Du mich brauchst!" Und dann ihr Blick, — und ich wandte mich. Wo sie's nicht sah, geschah's. , Mir, dem das Weinen fremd. Nur einmal verließ ich sie. Und als ich auf dem schnell- ! sten Wege zurüükehrte aus der Provinzstadt, war ich voll Freude, daß meine Arbeit dort ungeteilte Anerkennung gefunoen hatte. So überjroh sagte ich zu meiner Muner: „Ich glaube, es muß noch em ganz großes Glück kommen. Mutter, Du mußt gesuno werden! — Graubst Du? — Ein ganz großes Glück!" Und beinahe konnte sie sich freuen wie ich. Nur ihre körperliche Schwäche war zu groß. Matt war ihr Lächeln und stark ihr Witte. Wieoerum hörte ich sie manchmal sprechen wie einst und gtaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Da klang ihre Stimme so frisch, so ohne jene Verschleierung, die die Schmerzen daruver legten, daß ich unwillkürlich für mich lächeln mußte. Das war zum Beispiel, wenn Vater kochen wollte und fragte: „Was kommt nun noch daran?" Und sie antwortete: „Essig! Etwas Zucker! Ein paar Gewürz nelken!" Ja, wenn ich dann ihre Stimme horte, war mir, ats wäre sie so gesund, daß diesmal das Schlimmste noch nrcht kommen konnte. Und wie ein alter General mit durchschossenem Bein auf der Bahre, so gab sie ihre Anordnungen an dem Tage, da alles anders wurde. — Mit einem Male ward es ihr Gewißheit: ein Arzt. Die Schmerzen foroerten es unab- weisvar. Auch uns kam es wie Erlösung: ein Arzt! Und die Gemeindeschwester, die sich zufällig emfand, sagte das selbe: ein Arzt! So machte ich mich denn auf am letzten Tage des Jahres. Der Himmel schüttete Schneemaßen herab, und öer Wind verwehte die Wege. Das Dorf, kaum eine Stunde entfernt, schien heute mehr als doppelt so weit. — Ich sprach kurz und knapp und sehr bestimmt und bat den Arzt, alte Instrumente mitzunehmen, da ich überzeugt war, noch heute sei ein Eingriff nötig. Er folgte mir trotz des furchtbaren Unwetters zu Fuß nach der Höhe. Zum Abend waren wir da. Dann begann er sein Werk, und bald hörten wir aus seinem Munde, wie wir geahnt, todernste Worte. Wenn möglich, mußte sie noch heute nach der Klinik zur Operation. Wir hörten es alle drei, und wir wußten, was es zu tun galt, als hätten wir nie anderes getan. Ich bestellte den Pferde schlitten, und Vater machte Stroh und Betten zurecht. Mutter gab kurze Weisungen. Unendlich litt sie, als wir sie samt ihrem Lager zum Gefährt trugen. Schwach war ihr Körper, aber heldisch ihr Geist. Durch Nacht und Wetter kämpfte sich der Schlitten. Ein Telephongespräch war vorausgeeilt. Wie Gespenster glit ten die Wegzeichen im gelbroten Schein der Windlaterne vorüber, und der Schnee fegte querfeldein und peitschte und stach unsere ungeschützten Gesichter. Das Pferd pru stete. In fast unmöglicher Lage klemmte ich an der einen Seite des engen Schlittenkastens, um Mutter nicht wehe zu tun. „Frierst Du?" fragte ich vorsichtig. — „Nein." — Aus dem Berg von Betten und Decken klang ihre Stimme ganz vergnüglich. Es war doch eine große Hoffnung darin. Nach einer Weile zog sie die Decke ein wenig vom Ge sicht und fragte interessiert: „Sind wir jetzt am Gericht?" Und wieder nach einer Weile: „Sind wir schon am großen Kirschbaum?" Und so ab und zu den ganzen Weg. Es schien ihr Vergnügen zu machen, zu erraten, an welcher Stelle des Weges wir waren und so ihr Ortsgedächtnis zu erproben,' denn lange Jahre schon waren ihre Füße nicht mehr im stände, sie so weit zu tragen. — Interessiert, nicht ungeduldig war der Klaug. Manchmal hätte ich wei nen mögen, weil mich dieser Ton an jene Zeiten erinnerte, da dieselbe Stimme, öer gleiche Klang meine Augen auf schloß für die Schönheiten der Natur —, hätte weinen mögen; ich weiß nicht, ob vor Schmerz oder vor Freude. Ich wandte mich zur Seite; meine Augen brannten. Ich mußte das Denken von mir schütteln; denn es trieb mir