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888 L. Vom Wiener Kongreß bis zur Julirevolution. ein neu herangewachsenes Geschlecht sich mit dem Ausrufe Faust's : „Welch Schauspiel! Aber ach ein Schauspiel nur", davon abwandte. Die Kräfte, welche die spätere Er nüchterung bewirken sollten, waren zwar allenthalben, namentlich auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, schon wirksam. Aber man schätzte sie noch nicht in ihrer ganzen Tragweite. Vielmehr schien in den zwanziger und dreißiger Jahren der deutsche Geist einen dauernden Abschluß gesunden zu haben in dem künstlichen Gewebe des Systems, worin Hegel's Meisterhand alle Fäden der Zcitbildung zusammengcfaßt hatte. Deutsch land feierte nach den Zeiten seiner Kunstblüthe jetzt seine philosophische Kraftperiode; man glaubte die Spitze der Pyramide menschlicher Gedankenarbeit erstiegen zu haben. Kirchen- und Staatsmänner, Beamte und Künstler, Angehörige aller Bcrufsclassen und berufslose Liebhaber der Wissenschaft — Alles mußte sich mit der Philosophie auseinander setzen. Die philosophische Kunstsprache wurde allgemeines wissenschaftliches Darstellungsmittcl und drang sogar ein in die gewohnte Alltagssprache. Philosophie Am erkennbarsten wird die Einwirkung des Systems auf das Denken der glcich- dn Geschichtt. Ästigen und auch nachfolgenden Generation auf dem Gebiete der geschichtlichen Betrach tung. Hegel strebte nach einer „Philosophie der Geschichte", er suchte in den wirren Bahnen der Menschen und Völker den regelmäßigen Fortschritt des Gedankens nachzu weisen ; er wollte gründlich ausräunien mit jener, einst vielgerühmten und vielgeübten, sogenannten pragmatischen Methode, welche nicht selten die große Welt zu einem Schau platz der kleinsten Kleinigkeiten machte, die bedeutendsten Ereignisse aus willkürlichen Einfällen oder bewußten Berechnungen Einzelner erklärte; er wollte zeigen, daß auch die Geschichte im Grunde nur Logik ist; Alles Frühere ist auch hier nur die Voraus setzung des Späteren; alle Gegensätze vermitteln sich zu höheren Einheiten im Leben so gut wie im Buche. Alles ist auch hier „Prozeß", „Entwickelung" — Worte, welche nie so oft gebraucht worden sind als in den Jahren der Hegel'schen Alleinherrschaft. Jetzt gab es in der Geschichte nicht mehr blos ein Nacheinander von Zahlen, es gab ein Nach einander von Stufen; die Weltgeschichte wurde zur großen, ganz regelmäßig und symmetrisch gebauten Wendeltreppe, auf welcher man aus dem Hauche der Grüfte zu der sonnigen Höhe der Idee emporstieg. Der Menschheit wurde, nachdem ihre philo sophischen Lehrjahre zu Ende zu sein schienen, gleichsam noch nachträglich eine Ucber- sicht des vieltausendjährigcn Lehrcursus in die Hand gegeben, nach dein sie bisher unterrichtet worden war, ein Verzeichniß der Stationen und Elasten, der Pensa und Lectionen, welche durchzumachen oder, um in der ins Leben übergcgangenen Sprache des Systems zu reden, der „Momente", welche „aufzuheben", der Standpunkte, welche zu „überwinden" waren, bis endlich alle Gegensätze in ihrer „höheren Einheit" erkannt, alle Widersprüche versöhnt waren. Beispielsweise stellt Hegel's Geschichte der Philoso phie ein geschlossenes System für sich dar, gebildet von der genetischen Exposition des Begriffs, dasselbe in zeitlicher Projection, was die Logik als zeitloser Fortschritt der reinen Vernunft ist. Heraklit folgt im Anfang dieser Geschichte auf die Eleaten mit derselben Nothwendigkeit, womit im Anfang der Logik das Sein durch das Nichts hin durch seinen Uebcrgang zun» Werden findet. Die Moral von dieser organischen Ge schichtsbetrachtung fiel dann natürlich iminer zu Gunsten der Gegenwart aus, so gewiß alle Entwickelung nur von unten nach oben gehen kann. Diese Gcschichtsphilosophic ist mithin unbedingt optimistisch. So erschien der denkenden Gemeinde des damaligen Deutschlands zu einer Zeit, wo thatsächlich das politische Leben tief erkrankt war und lauter Mißbildungen erzeugte, Alles nichtsdestoweniger in schönster Ordnung, die ganze Weltgeschichte war ein lebendiger Prozeß des sich selbst bewegenden Begriffs, sie war in allen ihren Theilen gleichsam zur Vernunft gebracht; Alles Wirkliche war vernünftig geworden.