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882 u. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. schauen vermochte. Zu solch kühnem „Construiren", welches auf dem Boden der Naturwissenschaften bald seinen vollendetsten Bankrott erleben sollte, trat dann aber vielfach auch ein dreistes Aburtheilen gegenüber allen anders gearteten Denkweisen. Alles, was den Jdentitätsstandpunkt und die Kunstschwärmcrei nicht zu theilen vermochte, hieß „flach", „seicht", „impotent" u. dgl. Selbst Schiller entging in den Schelling-Schlegel'schcn Kreisen nicht den Urtheilssprüchcn eines hochpcinlichen Gerichts. Am erhabensten aber fühlte man sich über den im Rationalismus »ernüchterten Protestantisinus. Im Gegensätze zu ihm begann man mit Wollust zu wühlen in den Mysterien der Aegypter und Griechen, das schlüpfrige Terrain der orientalischen Symbole und Culte zu untersuchen, mit dem mittelalterlichen Mariendienst und Frauencultus zu liebäugeln. Kurz die romantisch philosophirende Zeitgenosscnschaft war vielfach wie von einem Taumel ergriffen, und als man allmählich wieder zu sich kam, fand sich, daß einstweilen seltsame Dinge geschehen waren. Nicht blos hatte Friedrich Schlegel seine väter liche Religion aufgcgeben, die Schwenkung ins Mittelalterliche war ans der ganzen Linie bemerkbar geworden; die Romantik sah zuletzt wesentlich romanisch und römisch aus. Hegel's Bedeutung in der Geschichte der Philosophie wird es bleiben, daß er diese ihr drohende Gefahr zeitig bemerkt, daß er die einbrcchende Verwüstung von ihr abgewendet, daß er sowohl ihren deutschen, wie ihren protestantischen Charakter gerettet hat. Wie die romantische Poesie an unbegrenzter Nebelhaf tigkeit und Ziellosigkeit litt, so war auch Schelling, in welchem sie den ihr eigcn- thümlichen Philosophen gefunden hatte, nie dazu gekommen, seinen Gedanken eine feste und dauernde Form zu geben. Gegenthcils war Hegel vor Allem der große Meister in der exactcn, bis ins kleinste Geäder symmetrischen Form. In seinem System erst verliert die Jdentitätsphilosvphie völlig jene abenteuerliche Gestalt, die sie bisher aufgewiesen hat. Vor den scharf umrissenen Bestimmt heiten der Hegel'schen Logik, vor der unendlichen Fülle dieses Gedankenwörter buchs erblaßten die luftigen Gebilde der Naturphilosophie. An die Stelle des Einfalls trat der klare Gedanke, an die Stelle der improvisirenden Keckheit der mühsam gefundene strikte Beweis. Scho» die berühmte Vorrede zu der „Phä nomenologie des Geistes" enthält den gründlichsten Absagebrief an alle Gefühls und Phantasieschwelgerei. Schonungslos wird das Unsittliche in jenem ästhetisch speculativen Enthusiasmus aufgedcckl, darin das Schöne, das Heilige, das Ewige, die Religion, die Liebe der Köder gewesen, um Lust zum Anbeißen zu erwecken; schneidend ein philosophischer Standpunkt verurtheilt, für welchen Alles kurzer Hand Eins und dasselbe ist und das Göttliche selbst sich in eine Nacht verwandelt hat, in der freilich „alle Kühe schwarz sind". Gegenüber solchen Extravaganzen sind es nun die Mächte des Maßes, der Methode, der Form, der Bestimmung, des Begriffs, wofür Hegel in die Schranken tritt. Anders als der in wenig Jahren alles Feuer der Produktionskraft verpuffende Jugend- und