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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 879 Instinkt. Im Menschen sind beide Prinzipien, der Universalwille und der Partikular wille, vereinigt, aber zertrenulich, und auf dieser Zertrcnnlichkeit beruht die Möglichkeit des Guten und des Bösen. „Das Gute ist die Unterordnung des Partikularwillens unter den Universalwillen; die Verkehrung dieses richtigen Verhältnisses ist das Böse". In der Möglichkeit beider beruht die menschliche Freiheit. Kraft dieser hat der Mensch sich in vorzeitlicher, intelligibler Selbstbestimmung zu dem gemacht, was er jetzt ist. Zn dem menschlichen Centralwesen sind alle Dinge erschaffen, so wie Gott nur durch den Menschen auch die Natur annimmt und mit sich verbindet. Indem das Licht in Persönlicher Gestalt als Mittler zur Wiederherstellung des Zusammenhanges der Schö pfung mit Gott erscheint, erhebt sich der Kampf des göttlichen und des dämonischen Reiches auf seinen Höhepunkt, und tritt das Prinzip der Liebe persönlich dem mcnsch- gewordencn Bösen gegenüber. Aber der Geist des Guten siegt, und das Ende der Ge schichte ist die völlige Erhebung des dunkelen Grundes in das Licht des Geistes, die Versöhnung des Eigenwillens und der Liebe, die Herrschaft des Universalwillens, so daß „Gott Alles in Allem" ist. Die ganze bisherige Entwickelung Schelling's zog nirgends so tiefgreifende Folgen ScheMng's nach sich wie auf dem Gebiete der religionsgcschichtlichen und theologischen Fragen. ^ Hier wirkte sie geradezu revolutionär, sofern Schilling der Bahnbrecher jener nachhal tigen Bewegung geworden ist, welche sowohl das Wesen als die besonderen Bestimmun gen des Christenthums auf spcculativem Wege neu entdeckt zu haben glaubte. Wie durch Kant der moralische Charakter, so kam der wirkliche oder angebliche Ideengehalt des Christenthums durch Schilling zur Anerkennung. Er „construirte" dasselbe von der allgemeinen Ansicht aus, daß das Universum überhaupt, also auch sofern es Geschichte ist, nach zwei Seiten differcnzirt erscheine, demgemäß die alte Welt gleichsam die Na- turscite der Geschichte, die neue aber, deren erster leitender Gedanke die mcnschgcwor- dene Gottheit war, den Prozeß des Rückgangs des Endlichen zum Unendlichen reprä- sentire. Gerade diejenigen Dogmen also, welche der herkömmliche Rationalismus am meisten in Mißcredit gebracht hatte und die aus einer, der Zeitbildung abhanden ge kommenen Weltanschauung und Denkmethode beruhten, wie Dreieinigkeit, Gottmensch heit, Versöhnungswerk, boten der speculativen Auffassung natürlich die geeignetsten Handhaben dar und wurden als die tiefsinnigsten Mysterien der Religion nicht blos, sondern ebenso sehr auch als die höchsten Probleme der Philosophie aufgcfaßt. Auf jeden Fall wurde damit das erreicht, daß sowohl für den Inhalt des positiven Dogmas insbesondre, als auch für die weltgeschichtliche Bedeutung dcS ChristenthumS überhaupt ein neues Interesse erwachte. Namentlich aber thcilte sich seit der Schlacht, welche Jacobi 'gegen Schelling geschlagen hatte, das ganze Bewußtsein der Zeit in die thei- stische und in die panthcistische Wcltansicht, und wir werden sehen, wie speziell inner halb der Theologie das Auftreten und die Wirksamkeit Schleiermacher's dazu bcigetragen hat, einer Grundform des Schelling'schen Gottcsbcgriffcs auch religiöse Bedeutung und Geltung zu verschaffen. Nach dem Sinne des späteren Schelling war freilich eine solche Verwerthung seiner Gedanken ebenso wenig, als die Fortbildung, welche ihnen gleich zeitig Hegel zu geben wußte. Mit der Schrift „über die Gottheiten von Samothrake" trat Schelling eigentlich wis. für immer vom Schauplatze literarischer Produktivität ab, um die Periode der Allein herrschaft der Philosophie Hegel's mit langem Schweigen zu begleiten. Erst geraume Zeit nach dem Tode seines Concurrenten, bezeichnet- er in der Vorrede zu Bccker'swn. Uebersetzung einer Schrift von Victor Cousin, die Philosophie Hegel's als eine nega tive, welche an die Stelle der lebendigen Wirklichkeit den todten Begriff setze. Als man daher in Preußen anfing sich vor eben dieser Philosophie zu fürchten, wurde Schelling