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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 873 well gab. Fichte ist einer der entschiedensten Vertreter der vorher und nachher vielgc- hörten Anschauung geworden, wonach im „empirischen Ich das absolute Ich", im In dividuum nur das allgemeine Denken denkt, das Individuum also genau in dem Maße richtig und inhaltvoll denkt, als eben jenes allgemeine Denken in ihm fungirt, das besondre, eigenwillige und querköpfige erlischt. Aber die großartige und stärkende Einwirkung dieser Philosophie auf die Zeitgenossen begreift sich erst, wenn inan das Ich von der Seite des Willens betrachtet. Die Acußcrung und Darstellung des reinen Ich im individuellen Ich ist nämlich das Sittengesetz, und nur durch die Sittlichkeit geht das empirische Ich in das ideale Ich zurück. Denn dieses reine Ich, welches Aus gangspunkt für das ganze System sein soll, muß selbstverständlich Grund seiner selbst sein, folglich auch That seiner selbst, folglich reine, einfache, vollendete Thätigkcit. Hier heißt es: „Im Anfang war die That". Daß die Menschen noch von irgend einem Sein außer dem Handeln träumen, das ist blos ein Symptom ihrer natürlichen Ener gielosigkeit; „faul, falsch und feig" nennt der Philosoph sie gelegentlich. Ein rechter Mann weiß, daß der ganze Werth der Erscheinung nur darauf beruht, daß sie „Ma terial unserer Pflicht" ist; daß also ihr ganzes Wesen nicht in ihr selbst, sondern in dem besteht, was nach dem Gebote der Sittlichkeit aus ihr werden soll. Selbstthätigkeit also um der Selbstthätigkeit willen, absolute Freiheit ist der höchste Ausdruck für die sittliche Aufgabe. Dies namentlich der Inhalt seines „Systems der Sittcnlehre nach den Principien der Wissenschaftslchrc". Fichte war der Mann dazu, seine Lehre von dem souveränen Ich, das Schöpfer und Gesetzgeber der Welt ist, durch sein Leben zu illustriren. Wegen eines Aufsatzes „über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung", in welchem die Begriffe der Gottheit und der sittlichen Wcltordnung einander glcichgesctzt waren, vom kurfürstlich sächsischen Consistorium atheistischer Lehren beschuldigt und in eine Unter suchung verwickelt, trat er von vornherein so trotzig gegen die Weimarer Regierung aus, img. daß diese sich veranlaßt sah, seiner Drohung mit Niederlegung seines Amtes wirkliche Entlastung entgegenzusctzen. Seither ist der Streit um das religiöse Recht des Pan theismus nicht mehr von der Tagesordnung verschwunden. Fichte aber fand freund liche Aufnahme im preußischen Staat und wurde Professor der Philosophie zuerst in Erlangen, dann an der neu gegründeten Universität Berlin. A«.' Einstweilen hatte sich in seinen philosophischen Ansichten eine theilweise Umwand lung vollzogen, von welcher erstmalig die „Anweisung zum seligen Leben oder Religions- isos. lehre" Zcugniß ablegte. Die souveräne Rolle, welche früher das „Ich" gespielt hatte, geht hier über auf das nranfängliche, sich ausschließlich im sittlichen Handeln freier Persönlichkeiten offenbarende, göttliche Leben, dessen Mittelpunkt die Liebe bildet, und mit dem das endliche Ich in der Liebe sich einigen, ja darin es ausgehen muh. Jetzt also ist Gott das absolute „Subjcct-Object", dessen ewiger Gedankeninhalt das von ihm selbst als sein Nicht-ich gesetzte Universum ist. So endet hier das rastlose Streben nach dein absoluten Punkte, wo alle Gegensätze schwinden, in religiösen Gcdanken- reihen, wie sie später von den Philosophen und Theologen des sogenannten „speculati- ven Theismus" wieder ausgenommen worden sind, während sich an die erste Form des Systems direct die Gedankenschöpfungcn Schelling's und Hegcl's anschließen. Denn das Grundschema der „Wissenschaftslchre", wonach das Ich sich selbst setzt, das Nicht-ich setzt und sich als eins erkennt mit dem Nicht-ich — dieser Prozeß der Thesis, Antithesis und Synthesis blieb auch für diese Denker die Form aller Erkenntnih, die beherr schende Methode des Systems. Beim deutschen Volke aber ist Fichte in ehrenvollem Andenken geblieben als kühner Vorkämpfer für Volkssreiheit, sowohl gegen die über lieferte Politik der europäischen Cabincte und Regierungen („Zurückforderung der Denk-