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868 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. Pflicht Anspielungen auf die eigenen Schicksale und Erfahrungen. Im Gegen satz zu den schlaffen Ansichten der Romantiker ist das unauflösliche Ehcgebot das notwendige Sittengesctz, die „Schicksalsmacht" des gesellschaftlichen Zusammen lebens. Die „Wanderjahre" wollen darthun, wie durch politische und sociale Einrichtungen, durch eine neue Erziehungsweise, durch Association des Gewerbe- standes und durch andere zeitgemäße Reformen die harnionische Organisation des Staats und der Gesellschaft begründet werden möchte. „Vom ästhetischen Standpunkte betrachtet, bleiben die Wanderjahrc eine Sandwüste, öde, dürr, unfruchtbar, und unter den Novellen finden sich wenige grüne Oasen". In ihnen eine „Anticipation" der Socialsystcme späterer Tage zu sehen, ist eine kühne Schlußfolgerung. Im innersten Grund ist dieser vermeintliche Socialismus Goethe's nur die Humanitätsidee des achtzehnten Jahrhunderts auf das poli tische Gebiet übertragen; die Wanderjahrc sollen nicht nur eine Fortsetzung, son dern zugleich eine Erweiterung und Vertiefung der Lehrjahre bilden. Während der Freiheitskriege, für welche der nunmehr alt gewordene Goethe eben so wenig Sympathie empfand wie für die Revolutionsbcgeistcrung der frühem Jahre, wendete er wieder dem handelnden und wirkenden Leben den Rücken und flüchtete sich in die Beschaulichkeit des Orients. „Die Ruhe des Alters fühlte sich von jener körperlosen, nebelhaften, unsinnlichen Lyrik angezogen; denn schon ehe er seinen westöstlichen Divan herausgab (1818), hatte seine eigene Dichtung die ähnliche Gestalt angenommen". Das „Erwachen des Epimenides" war nur ein kühler allegorischer Anklaug an die Freiheitskämpse der erwachten deutschen Nation. Auch die Wirkungen der von Lord Byron begründeten „Poesie der Verzweiflung" erlebte Goethe noch und legte in den zahmen Leuten, die von dem klaren Sinne zeugen, den der lebcnsweise Dichter bis ins hohe Alter festgehalten, manche treffende Bemerkung über diese und andere Entartungen der deutschen Literatur nieder. Und kurz zuvor, ehe er als achtzigjähriger Greis ins Grab stieg, übergab er der Nation im zweiten Theil des Faust einen allegorischen Rückblick auf sein eigenes Leben und die Umgestaltung seiner Bildung und Dich tung von der Zeit an, da sich ein Heraustretcn aus der Innerlichkeit und aus dem Dunkel der Naturperiode in das handelnde öffentliche Leben in der Welt und in ihm vollzog. Während im ersten Theil Faust als eine voll ausgeprägte Persönlichkeit auftritt, wenn auch zugleich als „symbolischer Träger des streben den Menschengeistes und der allgemeinen Menschheitsidee", erscheint er im zwei ten mehr als der Inbegriff der Menschheit in den Hauptrichtungen der geschicht lichen Entwickelung. An die Stelle einer Tragödie tritt eine dichterisch behan delte Philosophie der Geschichte. Es erfüllte sich was Schiller vorausgesagt hatte: „die Fortsetzung des Faust wurde eine lehrhaft philosophirende Jdecndichtung, in welcher die schöpferische Phantasie sich zum Dienst der Vernunftidee be quemen mußte".