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I. Reactionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 801 senden Offizieren und Reitern, deren verwildertes und erschöpftes Aussehen die ausgestandenen Leiden und Beschwerden ankündigte und die Höflinge erbleichen machte, lenkte der König allmählich ein. Er sandte seinen Sohn zu den Truppen, um sich von deren Zustand zu überzeugen. Das kalte, herzlose Benehmen des hochmüthigen Angoulcme gegenüber den tapfer«, aufopfernden Kriegsmännern konnte keine Sympathie erwecken; verstimmt und hoffnungslos kehrte er in das Schloß zurück. Nun erkannte man die Nothwcndigkeit, die Verordnungen zu widerrufen und die Minister zu wechseln. Der Herzog von Mortemart, Gesandter in St. Petersburg, ein Pair von gemäßigt freisinnigen Grund sätzen, der gerade in einem französischen Seebade sich auf Urlaub befand und auf die Kunde von den Pariser Vorgängen nach St. Cloud geeilt war, sollte ein neues Cabinet bilden, zu dem unter andern General Ge'rard und der redege wandte aristokratisch-liberale Abgeordnete Casimir Perier beigezogcn werden soll ten. Selbst die Herstellung der Nationalgarde und die Ernennung Lafayette's zum Commandanten wollte Karl zugcstehen. Mortemart trug Bedenken, eine so schwierige Mission zu übernehmen. Erst als der König, den sein bisheriges Selbstvertrauen gänzlich verlassen hatte, nach langem, vergeblichem Zureden mit bewegter Stimme die Worte sprach: „Sie weigern sich also, meine Krone, den Kopf meiner Minister und vielleicht den mcinigen zu retten ?", willigte der Her zog mit schwerem Herzen ein. Vitrolles, Semonville und d'Argout sollten°den Abgeordneten in Paris die Botschaft überbringen. Die Unterhändler waren sehr betroffen, als sie bei ihrer Ankunft an der Barriere de l'Etoile auf ihre Frage, wo General Gerard zu finden sei, die Antwort erhielten: bei der provisorischen Re gierung im Stadthaus. Mühsam gelangten sie durch die von Barrikaden durch schnittenen Straßen nach dem Gebäude. Man begehrte ihre Vollmacht; aber sie hatten nur mündliche Aufträge. Die Municipalcommission hielt sich nicht für befugt, unter solchen Umständen mit ihnen in Unterhandlungen einzugehen, und wies sie an die im Hause Laffitte versammelten Dcputirten. Der Ruf aus den Reihen der Aufständischen, der den Abgesandten beim Eintritt entgegen schallte: „Keine Bourbonen mehr!" war nicht ermnthigcnd. Dennoch wiesen die Volksvertreter, die noch einige hervorragende Männer aus der Bürgerschaft, wie Thiers, Mignet u. A. beigezogen hatten, die Eröffnungen der Botschafter nicht von der Hand. Sie hatten noch immer nicht den rechten Muth gefunden und fürchteten, daß die Revolution über sic hinausgehen möchte. Denn bereits hatten sich in einem Cafe der Richclieustraße einige alte Carbonari und Demo kraten , an ihrer Spitze Bastide, Hubert, Trelart, Boinvilliers, Teste, Pierre Lcroux u. A. zu dem Plane vereinigt, man müsse den Sieg des Volkes zur Er richtung republikanischer Institutionen benutzen. Als Barrikadenkämpfer und »Volksfreunde" wie sie ihre Gesellschaft bczeichnetcn standen sie dem Aufruhr uähcr als die reichen und vornehmen Kammermitglieder. Die Abgesandten erhielten den Bescheid, sic sollten in St. Cloud die nöthigen Schriftstücke ein- Weber, Weltgeschichte. XIV. 51