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926 O. Das achtzehnte Jahrh. in den vier ersten Jahrzehnten. Auflösung des LehnS- uerus. standcs; wer etwas gelernt hatte, wurde wohl als Federfuchser und Tintenkleckscr ver spottet und man bezweifelte, ob er ein braver Soldat sein könne. Erst als unter Frie drich Wilhelms Nachfolgern die äußere Fertigkeit der Truppen mit der geistigen Aus bildung der Führer verbunden wurde, erlangte die preußische Armee jene innere Tüch tigkeit, die sie zum unerreichten Muster gemacht hat. Das Heer Friedrich Wilhelms war noch zum größten Theil durch Werbungen, oft auch gewaltsame Pressungen zu- saunncngcbracht. Im Jahre 1733 wurde daneben das „Kantonssystem" cingcführt, das Reich wurde nach Bezirken cingethcilt und diese den einzelnen Regimentern zur Ergänzung angewiesen, mit der Bestimmung, daß jeder Bürger und Bauer mit gewissen Aus nahmen und mit Berücksichtigung der Abkömmlichkeit beim bürgerlichen Gewerbe und deni Landbau kricgsdicnstpflichtig sei. Wer und wie viele wirklich ausgchobcn wurden, war gänzlich willkürlich und unbestimmt, und die unvollkommene Einrichtung hatte sehr viele Mißbräuche und Unbilligkeiten im Gefolge, war aber immerhin ein ver heißungsvoller Anfang, an Stelle des Söldnerwesens ein nationales Wehrsgstem zu setzen. Und dieses große Heer erforderte keine fremden Subsidien, sondern war lediglich auf die Erträge des Landes gegründet, und vermöge des Baarschatzcs jeden Augenblick schlagfertig. Eine wahre Manie und seltsame Leidenschaft des Königs war die Vorliebe für großgewachsene Soldaten. Um „lange Kerle" habhaft zu werden, wurden Millionen ausgcgebcn und die schnödesten Gewaltthaten nicht gescheut. Ein Mann von sechs Fuß und darüber war nirgends, er mochte preußischer Untcrthan sein oder nicht, davor sicher, in den Soldatcnrock gesteckt zu werden. Mit List und Gewalt wurden die langen Leute selbst im Auslande aufgcgriffen und mehr als eine ernste politische Verwicklung ist wegen solcher rechtsverlctzcnden Pressungen entstanden. Wer den König am sichersten gewinnen wollte, machte ihm ein Geschenk mit hochgcwachscncn Soldaten. In ganz Europa waren die preußischen Werbeoffizicre gefürchtet und gehaßt, und wer einmal den blauen Rock trug, für den war cs kaum mehr möglich loszukommcn. Dem König soll auf der Welt nichts so nahe gegangen sein, als der Tod eines langen Grenadiers; seine gesammte Leibcompagnie ließ er in Lebensgröße abmalen, fast das Einzige, womit er die Kunst unterstützte. Es war eine Art Geisteskrankheit des Königs; das Heer gewann durch diese seltsame Spielerei nichts. Es ist begreiflich, daß eine solche, aus aller Herren Ländern zusammengcbrachte, oft genug aus dem Auswurf der Nationen bestehende Truppe nur durch die härteste Zucht und Strenge in Ordnung zu halten war; auf Desertion, Insubordination und Vergehen gegen die militärische Disciplin standen die schärfsten und entehrendsten Strafen, gewöhnlich der Tod. So war das Heer be schaffen, welches Friedrich Wilhelm mit gutem Grund als seine eigenste Schöpfung betrachtete. Merkwürdig, daß bei dieser außerordentlichen Vorliebe für alles Militärische der König doch den Krieg scheute. Seine Regierung ist friedlicher verflossen, als die seiner meisten Vorgänger und Nachfolger. Wir kennen die Bethciligung Preußens an dem nordischen Krieg, welche den Besitz von Stettin und den Odermündungcn, das alte Ziel des großen Kurfürsten, cinbrachte (S. 850. 898). Das und eine kurze Theilnahme an dem unfruchtbaren Reichskrieg gegen Frankreich in den Jahren 1734 und 1735 waren aber auch die einzigen Feldzüge während der Regierung Friedrich Wilhelms. In jener rheinischen Campagne lernte Friedrich der Große zum erstenmal den Krieg kennen, brachte noch dem damals freilich schon altersschwachen Prinzen Eugen seine Huldigungen dar und bildete sich über den Werth des kaiserlichen Heerwesens ein für die Folgezeit maßgebendes Urtheil. Die Früchte der militärischen Organisationen und der gewaltigen Steigerung derprcußischen Wehrkraft sollte erst der Nachfolger Friedrich Wilhelms pflücken. Unter den veränderten Militärverhältnissen, wie sie durch die Nothwendigkeit der stehenden Heere begründet wurden, war der ritterliche Dienst des Adels, der auf dem