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Peter Hagen: öÜHmneraö Tonne es braunen 8olduten ehernes Dentmut Wir marschieren. Eine große, graue Straße geht in die Nacht hinaus. Schwarze Bäume flechten mit dem blattlosen Gewirr ihrer Aeste einen Kuppelgang über mrseren Weg. Wir find eine lange, graue Schlange. Wir sprechen nicht, weil wir müde sind, und weil uns die Nacht ge packt hat. Die Nacht, in deren dunkles Gesicht die Erde Mit tausend Regenpfützen starrt. ^Rumm, rumm — rumm, rumm!" Mit leichtem Schlürfen pochen unsere Stiefel auf die Wraße. Eintöniger Takt, der wohl kein Ende nehmen wird. Unsere Schultern gehen beim Marschieren aus und nieder. Auch unsere Schultern sind grau. Wir sind eine graue Kolonne in langen, alten Militärmänteln. Koppel haben wir umgeschnallt und Brotbeutel. So marschie ren wir. Durch die Nacht, durch die Nacht... An der Spitze unserer Kolonne dudelt eine Mund harmonika. Ihre Töne steigen wie kleine Seifenblasen «l die Luft und zerplatzen dann irgendwo. Wir hier hinten hören nicht, was der da vorn spielt, wir fangen immer nur geheimnisvolle Bruchstücke einer Melodie auf, die uns der Nachtwind ans Ohr weht, wenn die Straße zwischen den lehmigen Aeckern eine scharfe Kurve macht. Aber gerade diese wenigen Melodien- schnörkel sind schön. Sie sind wie das Lied dieser Nacht, durch die unser grauer Marsch geht. „Rumm, rumm ..." So marschieren wir schon vier Stunden. Zuerst haben wir gesungen. Aber dann wurden wir müde. Da schritten wir schweigend weiter. Die Beine fügten sich in den Takt der Kolonne, in die ses dumpfe, stampfende und schlürfende Rumm-rumm. Von den feuchten Aeckern und Wiesen steigt der Ge- ruch der nassen Erde, den uns der Wind zuträgt. Manchmal bucken wir zum Himmel empor, aber da sehen wir nur ein Gebrodel kochender Wolken, die so fest und schwer sein müssen wie der aufgeweichte Boden. Es ist eine große und gewaltige Nacht, in der es nichts Kleines gibt. Weit und wild ist das Ackerland, breit und lang ist die Straße, schwer und bewegt ist der Kimmel. Uno endlos ist unser Marsch. Wir sind die grauen Kameraden dieser Nacht, als wären wir mit unseren langen Mänteln und unseren schweren Stiefeln den Aeckern ringsumher entwachsem Frucht einer Saat, die vor mehr als hundert Fahren mit dem Blute preußischer Soldaten hier verstreut wurde. Ueber diesen märkischen Boden donnerten die Kanonen der Befreiungskriege. Vielleicht singt die Mundharmonika davon. Wir hier hinten wissen es nicht. Wir sprechen auch nicht davon. Wir marschieren und wissen nur, daß unser Marsch einen Sinn hat. Bor mir schwanken drei breite graue Rücken auf und ab im Takt des Marsches. Drei gleiche graue Rücken. Immer habe ich einen von ihnen vor meinen Augen. Ich sehe, wie sich der Schulterriemen über das derbe graue Tuch strafft, wie das Koppel den Mantel um spannt. Ich beobachte das Hüpfen des prallen Brot- deutels, das Auf- und Niederschlagen der Mantclschötze, zwischen denen bet jedem Schritt ein Stiefel zu sehen ist. Ein hochschäftiger Stiefel, vom Regen aufgequollen und mit Dreck bespritzt. Die fingerdicken Sohlen quietschen beim Marschieren. Aber das gehört zum Lied dieser Marschnacht. Ueber dem Mantelkragen steigt ein fester, brauner Hals auf. Dann kommt Helles Haar und schließlich die dunkle Mütze. Das ist mein Vordermann. Einer von Hunderten, einer von Millionen. Das ist mein Kamerad Tonne. Wir nennen ihn lo. weil er Georg Thone heißt, und weil sie ihn schon auf der Schule Tonne genannt haben. Außerdem ist er auch kräftig gebaut und hat feste Muskeln, so daß der Name Tonne schon deshalb seine Berechtigung hat. Es ist zufällig Tonne, der vor mir marschiert. ES könnte auch Rudi Leisener sein oder Max Feldmann oder irgendein anderer. Sie alle sind meine Kame raden. Aber es ist Tonne, der mein Vordermann wurde in dieser Nacht, und dessen Leben ich hier erzäh len will, Lie alle haben ein ähnliches Schicksal, die hier in unserer Kolonne find. Und wenn ich von dem Leben des SA-ManneS Lonne berichte, dann ist's das Schicksal eines deutschen Arbeiterjungen; es könnte auch das von Rudi Leisener oder von Max Feldmann, oder von irgendeinem anderen sein. — Der Wolkenkessel da oben ist übergekocht. Ein feiner Regen sprüht auf uns herunter, wie Dampf beinahe, der sich niederschlägt. Wir klappen Len grauen Mantelkragen hoch .,. Als der Krieg ein Ende nahm, war Tonne elf Fahre alt. Er erinnerte sich noch deS Tages, da er mit einer Zeitung durch die Stadt lief, die er für seinen Vater am Bahnhof hatte kaufen müssen. In den Straßen war große Bewegung. Die Leute rannten umher, sprachen miteinander, lasen aus der Zeitung vor. Kinder standen zwischen ihnen mit bleichen, kleinen Ge- sichtern und fingen Gesprächsfetzen auf, die sie altklug weitertrugen. Tonne lief wie in einem Rausch. Etwas Großes war geschehen. Altes war gestürzt. Neues, das besser fein mutzte, war im Werden. Die Wehen einer gequälten Zeit hatten auch den elfjährigen Tonne ergriffen. Im Laufen schrie er den Leuten zu: „Willem is weg, jetzt wird alles bester!" — Das hatte er von den Arber- tern aufgeschnappt, die am Bahnhof beim Zeitungs händler standen. „Willem is weg! Jetzt wird alles bester!" Was sollte denn bester werden? O je, einfach alles! Tonne lief in Schuhen, die Holzsohlen hatten und Schäfte aus graublauem Papierstoff. Er hatte einen Anzug an, dessen harter Kragen ihm den Hals zerrieb und dessen Hosenränder seine Kniekehlen wundscheuer ten. An beiden Stellen wollten die eitrigen Entzün dungen gar nicht wieder heilen. Das war aber längst nicht alles. Tonne erinnerte sich an Bananen und an andere Früchte wie an Märchen aus frühester Jugend. Butter, Wurst und Fleisch? Wann hatte er sich zum letztenmal richtig dran satt ge gessen? Ja, hatte er das überhaupt jemals gekonnt? Gab es nicht immer nur jene ekelhafte Brühe mit ge trockneten Rübenschnitzeln, die man „Dörrgemüse" nannte? Waren nicht dick eingekochte Graupen schon ein Festtagsessen? Und das Brot? Wenn Tonne wenigstens immer Brot gehabt hätte! Aber wie oft hatte die Mutter abends ge- zankt, wenn er Stullen haben wollte, und es nur auf gewärmtes Mittagesten gab. Brot wurde nur auf Kar- ten verkauft. Auch alles andere wurde auf Karten verkauft. Tonne mutzte oft und ost schon früh um vier aus dem Bett. Dann stand er lange Stunden vor irgendeinem Geschäft, zwischen vielen Leuten, die einander miß- trauisch anblickten, die sich anschrien und sich manchmal sogar schlugen. Einmal, als die Mutter krank war, bekam sie auch eine Milchkarte. Tonne mutzte nun auf dem Hof der Mol kerei in einer Menschenschlange stehen und warten. Dort halte er einige andere Kinder kennengelernt. Sie be legten ihre Plätze mit den Kannen uns liefen auf dem Hof umher. Manchmal saßen sie auf dem Backstcinrand der Dunggrube und machten sich über die Erwachsenen lustig. Da war eine ältere Frau mit spitzer Nase und verkniffenem Mund. Am dünnen, scharfen Kinn hatte sie eine haarige Warze, richtig wie die Hexe im Märchen. Diese Frau sagte: „Ihr habt jüngere Beine, ihr könnt länger stehen als ich!" Damit knuffte sie die Kinder zurück und drängte sich vor. Weil sie immer ein schwar zes Kopftuch trug, und weil an diesem Tuch lange seidene Fransen baumelten, hatten ihr die Kinder den Namen „Naupenkönigin" gegeben. Einmal hatte die Raupenkönigin ein kleines Mädchen zurückgestotzcn. Als es still vor sich hinweinte, hatte eine Frau der Alten ihre Meinung gesagt. Die Raupen- Änigin hatte etwas erwidert, und auf einmal war der chönste Zank da. Die Frauen schimpften und schrien, ließen einander an, und zerrten sich an den Kleidern. Es war so komisch, daß sogar die alten mürrischen Männer, die in der Schlange standen, zu lachen be- gannen. Dadurch geriet die Raupenkönigin schließlich so in Wut, daß sie ihrer Feindin mit den Fingernägeln einen langen blutigen Kratzer durchs Gesicht zog. Darauf ritz ihr die andere Frau das schöne Rauventuch vom Kopf und ballerte ihr die Milchkanne auf die hoch, gestreckte Haarfrisur. Und da — o Gott, es war zu ulkig! — löste sich der falsche Zopf der Naupenköniam und hing ihr über den Rücken — aber mit dem dicken Ende nach unten . . Ja, so waren die Menschen damals — giftig und ge- hässig und gemein. Stundenlang mutzte der kleine Tonne zwischen ihnen stehen. Bei schönem Wetter mochte es noch angeben. Dann färbte die ausgehende Sonne die grauen Wände der Häuser rosig, dann kamen aus den Mauerritzen die Spatzen hervor und piepsten. Aber an kalten Wintertagen war es schrecklich! Dann trippelte Tonne in seinen Holzschuhen herum, um die Füße nicht »u erfrieren; die Hände hatte er in die Aermel seines dünnen Mäntelchens geschoben und die rauhe Pudelmütze tief über die Ohren gezogen. Die alten Leute hatten unter den Nasen blanke Tropfen, vor denen sich Tonne ekelte. Dagegen bestaunte er einen Mann, dessen dicker Schnurrbart schon nach kurzer Zeit steif fror. Einige Minuten vor acht kam dann die Mutter mit ihrem karrierten Umschlagetuch. Sie brachte die Schul» Tonne lief durch die Straßen. Das alles hatte nun ein Ende! Der Willem war schuld, und der war wegf Nun mutzte alles besser werden! An diesem Tage war ihm ein Schleier von den Augen gefallen. Bisher hatte er gehungert und gefroren, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Es mutzte eben so sein. Manchmal hatten am Abend noch die Glocken ge» läutet. Dann waren sie alle zur Straßenecke gelaufen, wo im ersten Stock eines grauen Hauses der Pfarrer wohnte. Die Kinder waren als erste zur Stelle ge» wesen. Aber bald waren auch ältere Leute gekommen, und der Pfarrer hatte vom Balkon aus verlesen, daß wir wieder einen schönen Sieg erfochten hätten, daß die Russen oder die Franzosen geflohen wären, und daß unsere Soldaten 1000 Kanonen erobert und 10 00Ü Feinde gefangen genommen hätten. Da hatten sie denn alle Hurra geschrien und ein Lied gesungen. Das war so feierlich gewesen, datz dem kleinen Tonne oft dis Tränen in die Augen getreten waren. Sein Vater war ja auch bei den Soldaten und eroberte Kanonen und nahm Feinde gefangen . . . Jetzt aber faß der Vater schon feit einer Woche mieden zu Haus. Er hatte einige Pakete mitgebracht und ein schweres Gewehrs das er hinter den KleiderschranÜ stellte. Fünf Tage noch dauerte sein Urlaub, dann mutzte er wieder hinaus. Tonne war stolz auf seinen Vater. Er hatte ein ganz dunkelbraunes Gesicht mit einem Hellen Kinnbart, rauchte Zigaretten und warf ditz Stummel einfach auf den Fußboden. „Mann." sagte die Mutter in komischer Verzweiflung, „du bist doch nickt mehr im Schützengraben, jetzt mutzt du dich schon wieder an Ordnung gewöhnen!" Dann lachte der Vater nur und hatte dabei so kleine Fältchen unter den Augen. Am ersten Tag nach seine« Heimkehr hatte er einen Zivilanzug angezogen; damit lief er in der Wohnung umher, zupfte an den Aermeln, klappte die Taschen auf, und stand lachend vor dem Spiegel. Am nächsten Tage schon zog er seinen alten feldgrauen Rock wieder an. mappe aus gepreßter Pappe und löste ihn ab. Wäh» rend er in der Schule saß, stand dann die Mutter noch stundenlang, um schließlich ein Kleckschen Butter oder einen Hering oder em Viertelpfund Johannisbeer.« Marmelade nach Hause zu tragen. Tonne stürzte ins Zimmer und schwenkte die Zei< tung. „Vater," schrie er, „Willem is weg, jetzt wird alles besser!" Seltsam, der Vater lachte gar nicht! Er nahm Tonns die Zeitung ab, sagte „Affe!" und begann zu lesen. Sein Gesicht blieb sehr ernst dabei. Tonne verstand das nicht, die Arbeiter am Bahnhof hatten sich doch so ge» freut! Wer hatte denn nun recht, die oder -er Vater?, Sicher der Vater, denn der war ja Soldat .. . Der Vater ging in den nächsten Tagen viel auf dis Straße. Manchmal kam er selbst zum Mittagesten nicht nach Haus. Er war plötzlich ein ganz anderer geworden und lachte nun nicht mehr so viel, obwohl er immer noch Zigarettenstummel auf den Boden warf. Er stand viel an den Straßenecken und sprach mit anderen Männern. Wenn Tonne zuhören wollte, jagte ihn der Vater weg. Dann kam eine Zeit, von der Tonne nur noch dis großen Umrisse in der Erinnerung hat. Händler standen an den Straßenecken und boten Schokolade an. Man denke, Schokolade, richtige Schokolade! Sie hieß Kwan-Eta, ihr Papierumschlag war mit einem bunten Jndianerkopf bedruckt, und sie starmnts aus Amerika. Aber Tonne bekam doch keine Schokolade. „Sie ist viel zu teuer!" sagte die Mutter. Eines Tages lag Tonne im Bett. Da hörte er, daß der Vater im Nebenzimmer, in der guten Stube, auf der Zither spielte. Lange Zeit hatte die Zither in einer Pappschachtel auf dem Kleiderspind gelegen. Als der Vater zum letzeumal auf Urlaub war, hatte Tonne sie heruntergeholt, um seine Kunst zu zeigen. In der Schachtel lagen nämlich Notenblätter, die man unter» schieben mutzte. Dann brauchte man nur die Saiten an» zureißen, unter denen ein Notenkopf lag. Und ein Strich, der alle Noten verband, zeigte die Reihenfolge an, in der gezupft werden mußte. Der Vater hatte gelacht, als Tonne „Am Brunnen vor dem Tore" spielte. „Du wirst mal ein tüchtiger Musi kant, Orje!" hatte er gesagt. Aber Tonne wollte seinem Vater zeigen, daß er noch mehr konnte als dieses leichte Lied. Deshalb kramte er ein Notenblatt heraus, auf dem die kleinen schwarzen Punkte besonders eng bei» einander standen. Lange hatte er dran geübt. Nun ging es schon ganz flott. Kaum jedoch hatte er die ersten Takte gespielt, da war der Vater aufgestanden und hatte mit ernstem Ge sicht die Hand auf die Saiten gelegt, so datz sie nicht mehr klangen. „Das darfst du nicht spielen, Junge!" halte er gesagt und das Notenblatt weggezogen. „Sozialisten» marsch" hieß das Stück. Als der Barer wieder abgefahren war, hatte Tonne die Noten gesucht. Aber er fand sie nicht. Sicher waren sie in der Schublade des Wäscheschrankes eingeschlossen, wo die geheimnisvollen Papiere lagen, Taufscheine und andere Urkunden, und wo des Baters Uhr und MutterS Kette und Armband aufbewahrt wurden. ^Fortsetzung fqlgt.)j