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Sette 2. Nr. 19§. 10S. Jahrgang. Leipziger Tageblatt. Ftettsg. tS. Nprtt l9l2. Die italienische Flotte vor -en Dardanellen. Italien hat die Antwort der Pforte auf die Ver. mittlungsanfrage der Mächte nicht abgewartet: Kestern am Tage der türkischen Parlamentseröffnung, als der Großwesir Said-Pascha in der von ihm ver lesenen Thronrede mit Bestimmtheit erklärte: „Kein Frieden ohne Tripolitanien!" haben die italienischen Kriegsschiffe mit der schon recht lange angedrohtcn Dardanellcnaktion begonnen. Es lägt sich zur Stund« noch nicht übersehen, ob dieses Porgchen nur den Charakter einer Demonstration trägt, um die gestern in Pera zum ersten Male versammelten neuen türki schen Deputierten den italienischen Friedens bedingungen gefügiger zu machen, oder ob Italien tatsächlich die Entscheidung um Tripolis vor Kon stantinopel herbeiführcn will. Man gel»e sich über die Tragweite des italienischen Entschlusses keinerlei Illusionen hin! Die italienische Negierung ist in den Tagen, da sie ihr Heer und ihre Marine zur Untätig keit verdammte, durchaus nicht müßig gewesen, sie scheint die Fäden gut geschürzt zu haben. An allen maßgebenden italienischen Stellen zeigt man jetzt eine erhöhte Zuversicht in das Gelingen der von langer Hand vorbereiteten Aktion großen Stils. Zu zweifeln, daß man für dies« Rußland nunmehr end gültig gewonnen hat, hieße künstliche Blindheit heucheln. Gewiß rechnet man auch damit, daß bei der Dardanellenaktion das eine oder das andere Schiff seinen Untergang findet. Im übrigen aber verläßt man sich auf die freundwillige Assistenz Rußlands. In Afrika kann Italien nicht weiter vordringen, zu Hause selbst kann es von seinem Annexionsgesetz nicht mehr zurück. Also lautet die Parole: biegen oder brechen! Uebcr den Beginn der italienischen Aktion liegt folgendes Telegramm vor: Avn-tantinvpel, 18. April. (Tel.) Hier wrrd die btach'ichl verbreitet, daß 27 italienische Kriegsschiffe heute früh vor dem Vcnstanst der Darda nellen erschienen und daS Bom bardement auf die Befestigung von kumkalesi begannen. <?in Schuß der Festung soll ein italienisches Krieg lö sch tff getroffen haben. Diese Nachricht wird durch nachstehende Londoner Lepesche bestätigt: * London. 18. April. (Tel.) Lloyds De- peschen-Agentur teilt ein Telegramm mit. wo nach bei der Einfahrt in die Dardanellen Kanonendonner gehört worden sei und ein italienischer Angriff vermutet wird. Zuver- , lässige Informationen stehen noch aus. Auch au» Paris liegen Depeschen vor. nach denen eine italienische Flotte in Kunikal« angekomme» ist. Ein italienisch«, Schiff ist bereit» gesunken. * Di« Darbanellenbefestigungen. Die Dardanellen, die nach der alten Stadt Dar- dano» benannten vier festen Schlösser beiderseits der Meerenge Hellespont, gelten als Schlüssel von Kon stantinopel. Den 1 Kilometer breiten Meereseingang aus dem Acqüischen Meer bewachen die 1658 von Moham med sV. angelegten neuen Schlösser 2 cddi l-B ahr auf europäischer und K u m Kalossi (10 Kilometer von den Ruinen vor Troja entfernt) auf asiatischer Seite. 20 Kilometer nordöstlich davon liegen an der engsten Stelle die alten Dardanellenschlösser, die Mo hammed II. gleich nach der Eroberung Konstantino pels «rbauen ließ' Ktlid Bahr („Meeresrtegcl") in Europa und Kale Sultanle (Tjchanak. Kalessi) i» Asien. Weiter nördlich wurden seit 1867 Küstenbatterien erbaut: auf asiatischer Seite die Batterie Med sch idle, unweit nördlich von Kale Sultanie, und Naqara, an der Stelle des alten Abndos, auf europäischer Seite Namasigja südlich und Degirmenburun und Tscham Burun nördlich von Kilid Bahr. Dir italienischen Flotteabewegungea. Der „Agence Havas" wird aus Athen gemeldet: Zwei starke italienische Marinedivisionen, von denen jede aus 12 Einheiten zusammengesetzt sind, eilte morgens, die andere abends, vor der Skyros vorbeigesahren und wandten sich dann nach Norden. Morgens gegen 8 Uhr kamen vor Nbodus -1 italienische Kreuzer an, von denen zwei dimt vor der Stadt vorbeifuhren und ein Schiff, das zwischen Rhodus und zwischen Rnmclicn verkehrt, anhiclten. Sie durchsuchten es, ließen es aber dann ungehindert seinen Weg fortsetzen. Hi Scharmützel vor Tripolis. Die „Agenzia Stefan!" meldet aus Tripoli» vom 18. April: Heute früh wurde eine Kompanie der Truppen, abteilung Tadfura einer Proviantkolonne, die aus Tripolis kommen sollte, entgegengesandt. Plötz lich traf die Kompanie auf eine Bande von 100 R ä u be r n, die in der Oase Raubzüge machen sollten. Die Kompanie griff sofort die Räuber an und zerstreute sie: dabei wurden 6 Räuber getötet und einer verletzt. Der Befehlshaber von Tadjura, der sofort von diesem Kampfe benach richtigt worden war, sandte eine Kompanie Askari und eine Abteilung von Eingeborenen aus Cha- rian aus, die versuchen sollten, den Räubern den Rückzug abzuschneiden. Dabei trafen sie auf tür kische Reiter, von denen sie einen töteten und die übrigen zerstreuten. Später stießen sie auf eine Abteilung von 600 Arabern und einigen Türken. Die Askaris griffen den Feind mit großer Hef tigkeit an und suchten ihn, unterstützt von den Ein geborenen aus Eharian, zu umzingeln. Zwei Stunden lang wurde erbittert ge kämpft. Endlich wandte sich der Feind zur Flucht, verfolgt von den Askaris, die ihm fort während Verluste beibrachten. Die Verluste des Feindes betragen gewiß nicht weniger als 50 Tiche und ILO Verwundete. Die Askaris hatten 2 Tot«, und 6 Verwundete. war, Jnsei Dir Eröffnung der türkischen Kammer. Aus Pera wird gemeldet: Am Donnerstag um 2 Uhr nachmittags wurde das Parlament feierlich eröffnet. Zugegen waren der Sultan, der Thronfolger, zwei Prinzen, das diplomatische Korps, di« Minister, die Würdenträger und ungefähr hundert Deputierte. Auch fast alle Senatoren wohnten der Eröffnung bei. Der Grobwesir verlas die Thronrede, welche außer der inneren Politik und den Vorfällen in Kreta und an der persischen Grenze folgendes besagte: Der zu Unrecht und im Gegensatz zu dem Vertrage von Italien begonnene Krieg dauert trotz de» allseitig geäußerten Wunsches nach Frie den an. Auch wir wünschen den Frieden, aber kein anderer Frieden kann den Krieg beenden, als der. welcher unsere Souveränitätsrechte tat sächlich unversehrt aufrecht erhält. Die Thronrede erinnert weiter an die Differenzen zwischen dem letzten Parlament und der Regierung, welche die Auflösung der Kammer nötig mach ten. Die Wahlen seien verfassungsgemäß vor sich gegangen. Die Thronrede fordert dann die Depu tierten auf, ihr« Tätigkeit hauptsächlich auf die Voll endung der Versa sfungsreorsion und oas Studium der Gesetzesvorlagen, welche dem Parlament zugehen, zu richten. Die Thronrede fetzt auseinander, daß, um die Wiederbelebung von Handel, Industrie und Landwirtschaft zu verwirklichen und dem Reiche die absolute Sicherheit der Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit und Gleichheit zu gewährleisten, eine Spczialkommission unter dem Minister des Innern nach Rumelien geschickt werden soll, welche die lokalen Bedürfnisse seststellen und an Ort und Stelle ohne Verzug die Maßnahmen treffen soll, die geeignet sind, die Bevölkerung zufriedenzustellen. Die als notwendig erkannten Reformen sind in Vor bereitung. Aehnlrche Kommissionen werden entsandt werden, um die Bedürfnisse der anderen Provinzen zu studieren. Die Thronrede spricht wieder von den Pourparlers über den Bau der Anato li sch en Bahn und den geplanten Linien Monastir —griechische Grenze und Ku- manoro —bulgarische Grenze, die noch fortgesetzt werden. Das bereits abgeschlossene Ab kommen über die Linie Uesküb —Kalkan de- len —Gostioar wird dem Parlament unter breitet. Die Frage desIemen, die so viele Jahre Blut vergießen hervorgerufen hat, ist zum guten Ende geführt worden. Dank der weisen Maßnahmen und militärischen Anordnungen des Eeneralstabschefs Isset-Pascha ist Ordnung und Ruhe wiederhergestellt. Gleichfalls sind militärische Vorkehrungen getroffen worden, die Ordnung auch in Assir wiederherzu stellen. Das verbrecherische Attentat, dem der Fürst Kopassis, ein treuer und ausgezeichneter Be amter, zum Opfer gefallen ist, hat uns tief bewegt. Was Kreta anbetrifft, haben England, Frankreich und Rußland versichert, daß sie einig seien, die Souveränitätsrcchte der Türkei aufrechtzuerhalten und keine diesen Rechten zuwiderlaufenden Hand lungen dulden werden. Die Regierung wird sich be eilen, je nach den Ereignissen die zur nachdrücklichsten Verteidigung unserer Rechte geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Die Rede behandelt dje sehr befriedigenden Fortschritte im Heere und wünscht, daß das Heer die nötigen Rüstungen erhielte, um den höchsten Grad der Vollendung zu erreichen. Die An strengungen hätten kein andere, Ziel, als di« Auf. rechterhaltung und Verteidigung de» Rechtes de« Lande». In einer gemäßigten, aber festen Politik hat die Regierung nur die Verteidigung ihrer Rechte im Auge, wobei sie aber sorgfältigst die Rechte anderer respektieren will. Die Be ziehungen zu den Großmächten und Nachbarstaaten sind dauernd vertraulich und aufrichtig, entsprechend dem gegenseitig betonten Wunsch, in gutem Einver nehmen zu leben. Diese Beziehungen sind geeignet, sich noch weiter zu entwickeln und zu befestigen. In der persischen Erenzfrage ist «ine gemischte Kommission eingesetzt worden, um die gegenseitigen Rechte festzustellen. Wir wünjch«n, daß ein Ein verständnis erzielt werden möge. Wenn ein solches nicht zustande kommt, und einige Punkt« strittig bleiben, werden diese dem Schiedsgericht in Haag unterbreitet, dessen Spruch natürlich aus geführt werden würde. Die Thronrede empfiehlt schließlich ernstlich allen, einig zu sein und die Interessen des heiligen Vaterlandes über alles zu setzen. Weiter liegt aus Konstantinopel folgende Depesche vor: Das Komitee für Einheit und Fort schritt beschloß, daß die Türken nur in Friedens verhandlungen treten können, wenn Garantien für die Erhaltung der effektiven Souveränität in den afrikanischen Provinzen geboten werden. „Tanin" und „Sabah" sekundieren diesen Beschluß auf das kräftigste. Italiens äuherffe Feiedrnsbrdingungrn (Von unserem römischen Mitarbeiter.) Viel ist es nicht, was die italienische Negierung abläßt von ihren Forderungen, die sie den fünf friedenoermittelnden Eroßmäctsten mitgibt für ihren so unheimlich lang vorbereiteten „Schritt" in Kon stantinopel. Wie ich von vorzüglichst informierter Seile erfahre, ist die römische Regrerung bereit, inso fern entgegenzukommen, als sie die Anerkennung des Kalifats durch di« Eingeborenen von Tri- politanien und der Cyrenaika zugestehen will. Diese künftigen Untertanen sollen ebenso wie ihre Re ligionsgenossen in Tunis. Algier und Aegypten das gesetzlich anerkannt« Recht haben, in dem Kalifen das Oberhaupt ihrer Re- ligion auch weiter zu verehren. Zu werteren Konzessionen würde sich nach den mir gewordenen Er klärungen die Regierung unter leinen Umständen verstehen können. Sie hält unbedingt fest an der bereits zum Gesetz erhobenen Annexionssouveränität über die neuen Provinzen. Zur Zahlung einer Geld entschädigung ist sie bereit, wenn die Türkei unter dieser Bedingung sofort Frieden schließt und ihre Truppen aus dem Eroberungsgebiet zurückzieht. Dies« also modifiziert« Friedensschlußbedmgung ist weiter nichts als eine versteckt« Form eines Ulti- matums, das die fünf Großmächte der Pfort« zu überreichen gedenken, wenn die vorher mit Italien schon vereinbart« Flottenaktion an den Hauptküsten plätzen von Tripolitanien kurz nach der Eröffnung des türkischen Parlaments in Szene gesetzt worden ist. Der Kanonendonner an den Küsten soll gewissermaßen die Friedensoperation der fünf Ge sandten unterstützen. Freilich fürchtet man in Ita lien, die tückische Regierung könnte letzten Endes das neue Parlament vertagen. Dann allerdings würde die Friedensvermittlungsaktion und die sie begleitende Schrffskanonade auslaufen wie La» Hornberger Schießen. .. Die Sänüel-Mlchel. Von Paul Burg. Ich habe sie wiooergesehen, die Händel-Urschel, und es war wie ein Gruß der Heimat und Jugend, des Glückes, der mich in fremder Welt den, Alltag entriß und mit seligen Träumen umschmeichelte. Einsam stand ich wohl eine Stunde lang auf spiegelndem Parkett mitten unter Berühmtheiten und Frauenschönheiten, sonst einer der Unentwegten im Kreise der Schwärmer, heule ein Fremder, Welten Vergessender. Die Glocken läuteten zum dritten Male schon und die festliche, raunende Menge flutet zurück in den strahlenden Theatersaal, Elsas Licbcs- stibel zu lauscksen, den Braut,ug zu erwarten. Ich ft«he noch immer im verwaisten Vorraum grab unter dem vielflammigen Leuchter und höre ein feines Klingen im Ohr aus vergessenen Kindertagen. Am grünen Hügel das Dorf, vom dicken, stumpfen Turm des alten Kirchleins überragt. Di« Abend glocke tönt über den stillen, versonnenen Gottesacker ins Kantorhäuschcn hinüber, ruft den Alten am einsamen Pult aus seinen Träumen, klingt in den Pfarrgarten, wo der freundliche Pastor friedsam mit seiner Pfeife unter den abendlichen Bäumen wandelt, klingt in die Höfe und Hütten überall Abcndfrieden, Feierabend. Das war meine Heimat, ich wuchs im Ruch der gesegneten Felder, froh mit den Lerchen, «in Dauern bub. Als sie mich in die Schule steckten, entlief ich manchen Tag dem dumpfen Gefängnis und trieb's in Feld und Wald nach eignem Willen, oft gescholten, nimmer gebessert. Bis die Urschel kam. Sommeriag war's. Der Kantor ließ seine Schule ailf sich warten. Das erstemal. Spät trat er ein, trug ein Kind auf dem Arm und setzte es behutsam neben sein Katheder auf den Boden. „Nehmt den kleinen Gast freundlich auf. Sein Vater ist tot; er war mein Sohn. Die Mutter ist in die Welt gegangen. Mein Weib selber liegt ltnge schon drülxn hinter den Eschen. So muß sich das Entlein mit dem Ahn' begnügen, wie er eben ist." Uns Buben stand das Maul offen. Dle Mädchen sahen mit schwesterlicher Lieb« auf das kaum ein Jahr alte Kind und nahmen sich seiner augenblicks an. E» war unter ihnen seit dieser seltenen Schulstunde ein Wettstreit der Liebe, die kleine Waise zu betreuen, und weil der alte Kantor ein Bücherhocker, aber auch em gerngesehcner Mann im Dorfe war. ließen es die Bauern geschehen, daß klein Urschel bei Saat und Ernte hier und dort von dem und jenem Zöhr auf den Feldern und in den Gehöften herumgeschleppt uns durchgefiittert wurde. Nur Sonntags um di« Kirchzeit gab der Kantor seine „Ursula", wi« er sie mit stolz auf hochdeutsch nannte, niemand heraus, er putzte sie mit großväter licher Umständlichkeit und trug sie stolz auf den Orgelchor. Neben der Orgelbank saß klein Urschel spielend während des Gottesdienst«», und wir Buben auf der Chorbank drehten di« Köpf« nach ihr, winkten ihr und neckten da, kleine, vergnügt« Balg. Der alte Kantor Kühne war ein großer Händel, freund. Selten vernahmen wir ein ander«? Prä ludium als das herrliche O hält' ich Iubals Harf und Mirjams Ton und Klang!" Und die kleine kugelrunde Urschel mit ihrem blanken g«lbblonden Haarschopf saß quiekend und krähend vor Lust bei der Orgelbank, starrte mit großen staunenden Auaen nach dem Großvater, der sein Spiel vergaß und beglückt zu ihr niederscrh. Oester als einmal geschah es, daß Urschel während der Predigt nicht Ruhe h(«lt und uns Buben auf der Empore fröhlich entgegenkreischte, dann zog der Pfarrer auf seiner Kanzel die Stirne nicht kraus, hielt auch in seiner Predigt nicht inne; er blickte nur lächelnd nach dem Orgelchor und auf allen Gesichtern der andächtigen Gemeinde spiegelt« sich das Lächeln wieder. Sangen wir das Ausgangslied, kräht« Kein Urschel lustig dazwischen, daß unsere Weise mehr als einmal in frohes Lachen überging. So war das einen Sonntag wie d«n andern. Die dicke, klein« Urschel lernte bald laufen und rannte uns oft davon. Einmal purzelte sie im Eifer die halbe Emportreppe herunter, stieß sich «in Loch in den blonden Kopf und unterbrach mit ihrem jämmerlichen Geschrei die fromme Predigt, derweil alles bestürzt herzulief. Später einmal kroch sie zwischen die Balgen und wäre beinahe erdrückt. Auf den Kirchboden kletterte d«r kleine Wildfang und rief aus dom Schalloch die Leute unten an, daß darob ein allgemeines Rennen nach ihr«m luftigen Sitz statt fand und wiederum die Predigt gestört ward. Aber der gut« Pfarrer lächelte zu allem und sprach dem be stürzten Kantor gut zu, di« Urschel wird mal ein ganzer Kerl werden. Nicht anders als nenne jeder im Dorf sie sein eigen Kind, wuchs die Waise heran und setzte sich hintenan auf die unterste Schulbank, den Lehren Grcßoüterchens zu lauschen, als sie noch nicht einmal ganz vier Jahr« alt war. An mir hatten kluge Leute gewiss« „Begabungen" entdeckt und riot«n dem Barer an, mich aufs Gym nasium zu schicken. Vorerst soll der Kantor sein Heil versuchen, ward über mich entschieden. So saß ich nun manchen schönen Tag in der Kantorei, lernte Weltgeschichte und Lateinisch. Auch Musik, und dabei war ich fortan jeden Tag mit der Urschel zusammen. Der alt« Kantor unterwies uns an seinem morschen Spinett, lehrt uns manche, vierhändig« Stück in leichtem Satz, Händel vor allem und Akozart, Menuette, Arien. Das liebe, alte Spinett! Niemals im Leben hab« ich wieder so schöne, innige Musik vernommen, als wenn Urschel- flinke Finger darauf den fröhlichen Grobschmied hämmerten. Das war ja auch vom alten Georg Friedrich Händel. Ich brachte dies« Weisheit herum, und seitdem nannten sie die Waise im Kantorhaus die „Händel-Urschel". Ich kam dann doch auf da» Gymnasium in di« Stadt. In den Ferien dah«im strich ich mit der Händel-Urschel durch Wald und Auen. Lang« Stunden saßen wir schwatzend am Bach, erzählten uns von Römern, Griechen und alten Deutschen. Urschel mochte di« alten Deutschen lieber: sie war ein kluge» Mädchen und blieb mir keine Antwort schuldig. Vor allem sang sie gern. Wenn der Abend dunkelte, klang ihre weiche Stimme au» dem Kantor garten ins stille Dorf, und die Menschen vor den Türen lauschten auf und schwiegen. So vergingen die Jahre, Urschel wuch, heran und wurde das fröhliche Gewissen unserer Dorfes. Al, sie am Konfirmation»' tage vor dem Altar stand, hatte ich kurz zuvor da, Abiturientenexamen bestanden und rang mit dem strengen Vater schwere Kämpfe durch, studieren zu dürfen. Ich war damals ein Bursch, den Kopf und di» Mappen voller Pläne. Schöne Wissenschaften wollt' ich studieren. Der Pfarrer, in den letzten Dingen unser aller Ratgeber, lächelte dazu und riet dem Vater: Laßt ihn gewähren! So saß ich jenen Kirchtag im Gestühl und stritt mit mir um mein Schicksal. Da sah ich unsere Händel- Urschel vor dem Altar knien, sah den Pfarrer sie segnen. Rings war tein Auge trocken. Ich sah die Sonne im goldenen Kclock des Mädchens spielen und wurde mit der ganzen Keckheit Les welten stürmenden Mulus gewahr, daß Lie Händel-Urschel ja eine wahrhaftige Schönheit geworden war. wie man ihrer weit und breit nicht begegnete. Hatte ich sie in den letzten Jahren ein wenig aus den Augen verloren, so suchte ich die Jugendfreundin jetzt zu allen Stunden, und mein Herz schlug laut und schnell, war ich ihr nahe. Der alte Kantor nannte sie mit Stolz das Glück seines Alters. Die Wochen flogen für mich dahin wie im Rausch, und als ich ins erste Semester ging, war nicht bloß mir allein im Dorfe gewiß, daß ich in die Händ«l-Urschel bis über de» Haarschopf verliebt war. Sie schwebt« mir vor als mein Stern. Als stolzer Brauder mit Mütze und Band kam ich wieder in mein Dorf und warb so ungestüm und jugendkeck um Urschel, daß sie erschrak. Als wir im Herbst voneinander schieden, waren wir nicht mehr die Alten. Ein ungewisses Ahnen war zwischen uns, das Aengste schafft und süße Seligkeiten. Bis zur letzten Stunde sand ich nicht den Mut, von Liebe zu sprechen. Wieder kam ich heim ins Dorf, das Herz so voll Liebe und Hirn und Mappen übervoll von Plänen und Entwürfen. Wenn die andern beim Becher saßen, schrieb ich mir in stillen Winternächten Sehnsucht und Liebe von der Seele. Tiefunterst in meiner Lade verbarg ich Gedichte und Geschichten, sogar ein Drama in Versen. Urschel begegnete mir freundlich wie in allen Jahren zuvor. Gewaltig wuchs mein Mut mit den kommenden Maien, und eines Tages geschah es: im Kantorgarten ergriff ich ihr« Hand und gestand ihr meine Liebe. Wenn ich mich heute jenes Nachmittags erinnere, so steht mir immer eins noch unverlierbar vor dem Gedächtnis. Ich hörte den Dorfhirten in seinem Garten Holz sägen und sehe mich fragend, bestürzt vor der Iua«ndaespi«lin stehen. Sie hat sich abgewandt, jetzt blickt sie mich wieder an, unter Tränen, und schüttelt« den Kopf. Ich dring« mit Bitten in sie. „Friedel, davon darfst du nicht wieder sprechen. Ich bleibe bei Großpapa." „Aber so sag doch ein Wort: Liebst du mich denn nicht? Ein wenig nur. ein ganz klein wenig!" Sic reicht mir die Hand hin. „Friedel, du bist mir immer wie alle im Dorf ein guter Bruder gewesen. Wa» willst du denn mehr von mir?" Darauf hab« ich sie ohne Antwort verlassen, bin wie ein Närrischer durch» Dorf in den Wald gerannt und zur Nachtzeit erst heimgeschlichen. Andern Tage» saß ich wieder im Wald«, das Herz voller Groll gegen Menschen und Welt. Wie ein Märtyrer kam ich mir vor. Und da hab« ich auf ein mal gewusst, daß ich «in Dichter war. Diese müssen unglücklich in der Liebe sein. Ich reiste andern Tages ab, gescholten von den Meinen, ohne Abschied von der Händel-Urschel. Zwei Jahr« blieb ich d«r Heimat fern und trieb einen Kult mit meiner unglücklichen Liebe. In meine Bücker klang des Heimatdorfes Feierabendgrläut, zwischen den Seiten d«r gelehrten Bände sah ich llr- schels blonden Kaps, sah ihre Tränen. Sie tropften auf mein Herz. Für diese Welt war ich verloren. Meine Mutter schrieb mir, im Dorf sei manches anders geworden. Letzte Sveihnacht habe die schöne Händel-Urschel in der Kirche gesungen. Ein Gast des Barons, ein berühmter Meister und Komponist, habe denselben Tag noch den alten Kantor besucht und stundenlang auf ihn und Urschel eingeredet. Bald nach Neujahr sei die Händel-Urschel mit ihm nach Berlin ereist. Es heißt, man wolle eine große Sängerin aus ihr machen. Aber ö«r alte Kantor Kühne sei vor lauter Sehnsucht ganz verzweifelt und hinfällig geworden. Letzten Sonntag habe man ihn nun begraben. Der Urschel habe man feinen schnellen Tod offenbar noch verheimlicht, denn sie sei nicht beim Begräbnis zugegen gewesen. lleber Lies«m Brief« packte mich die Wut gegen das Schicksal noch mehr. Ich fuhr auf einen kurzen Besuch heim und bat die Eltern um mein Erbe. Der Vater nannte mich einen Narren und drohte, mich hinauszuwerfen. Da bin ich andern Tages ohne Erb teil abgereist. Mein letzter Weg ging an das Grab des alten Kantors. Von allen lieben Stätten nahm ich Abschied, letzten Abschied. Wieder in der Stadt, habe ich mich zum Militär gemeldet und am Rhein mein Jahr abgodient. Der Vater schickte jeden Monat pünktlich Geld genug, aber sonst keiihe Zeile, keinen Gruß. Ich leistete gerade meine elfte Uebung als Unteroffizier ab, da geschah zweierlei. Die Mutter schrieb mir, Händel-Ursch«l habe das Grab ihres Großvaters besucht; sie sei «ine große Schönheit, aber von Herzen noch ganz die alte, liebe Urschel, und habe auch nach mir gefragt. — Die alten Wunden brachen wieder auf und bluteten. Das andere Ereignis war der Ausbruch der da maligen Wirren in China. Ich hatte daheim nichts zu verlieren und ging als Freiwilliger mit übers Meer. Drüben im fernen Osten fand ich nach Ausgang der Kriegszeilen viele Landsleute und verweilte länger, studierend und mich nach der deutschen Hei mat, meinem Dorfe sehnend. Der Vater verzieh mir all«s, weil ich als Offizier wiederkam. Seine heitere Frage, ob ich mich denn noch für einen Dichte halte, bejahte ich und suchte mir ein Brot, wie es dem Dichter behagt. Ich ging zur Presse. Da» war ein saurer Anfang die ersten Wochen. Aber dann kam ein Tag, der alles gutmachte, der die Schleusen öffnete, daß all mein Können und meine ganze Kraft fortan frei strömen konnten, mir und manchem vielleicht zur Freude. Ich habe jenen Taa noch im Gedächtnis, aks wäre er gestern gewesen. Morgen, kam der Verleger unseres Blattes, ein Mann von großem Ansehen und Einfluß, in die Redaktion gestürmt. „Es ist mir gelungen: ein ausgehender Stern am Kunsthimmel, di« herrlich« Ursula Kühn« wird am Sonntag bet dem großen Fest singen. Hier kennt sie noch niemand. Aber jeder muß sie kennen, genau kennen bis dahin. Bringen Sie sofort einen Aufsatz über die Künstlerin, sie verdient es; ein Interview, einen Leben»abriß. eine in die Zukunft schauend« Kritik." Der Chefredakteur zeigte wohlwollend auf mich, den N«uling. „Das ist etwas für Sie. Daran können Sie sich die journalistischen Sporen verdienen. Geben Sie sich rechte Mühe. Uebermorgen früh erwarte ich den Auf satz au, Ihrer Feder." Wie ich an jenem Tage vom Redaktionsburea«