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politische Umschau. Line unerhörte velelülgung ürs üeutlchen Volkes. vor einigen lagen berichtete ein westdeutsches Blatt, daß das polnische Sokoltum aus Galizien einige hervorragend« Vertreter nach Deutschland, zumal in da, rheinisch-westfälisch« Industriegebiet, senden wolle, um di« deutschen Sokolgruppen zu besuchen und für ihren weiteren Ausbau zu beraten. Demgegenüber machen die „Mitteilungen des Berejns für das Deutschtum im Ausland" auf folgende Tatsachen auf merksam. In Lemberg erschien bereits im vorigen Jahre eine Ansichtskarte, die einen Sokol in voller Tracht (rotes Hemd und Barett mit Falkenfeder) zeigte, der einen deutschen Soldaten mit einem furchtbaren Fußtritt zum Land« hinausbefördert, so daß Pickelhaube und Gewehr des Stürzenden über die Erde rollen. Dieser Unverschämtheit hat das galizisch« Sokoltum nun. offenbar dadurch ermutigt, daß sie unbeanstandet blieb, «ine unerhörte Beleidigung des deutschen Volkes folgen lassen. Vor kurzem erichien in Lemberg im gleichen Verlag und in gleicher Aufmachung «in« zweit« Karte. Sie zeigt einen tot niedergestreckten deutschen Soldaten, dessen Blut den Boden rötet. Ueber ihm st«ht triumphierend der siegreiche Sokol, den einen Fuß auf dem Leib« des getöteten Feindes, und schwenkt die polnische Fahne. Darunter eine polnisch« Inschrift, deren Üebersetzung lautet: „Mit Gewalt werden wir es ihnen nehmen!" Hier wird also offen verkündet: Der Feind ist der Deutsche. Sokolkraft wird das deutsche Heer siegreich über winden und der Siegespreis, der preußisch« Osten. ..Preußisch-Polen", wird ihnen, den Deutschen, mit Gewalt entrissen werden! Das ist ein offenes Geständnis d«r letzten Ziele des Sokoltums. für das wir den übermütigen Herren Polen in Galizien Dank schulden. Die deutschen Ge meinden, die im naiven Glauben an die rein turnerischen Zwecke dieser Milizarmee der zu künftigen polnischen Erhebung den Sokols ihre Turnhallen überlassen, werden hoffentlich ihre Beschlüsse revidieren. Aber es ist doch im höchsten Grade befremdend, daß diese Karten, die in Lem berg usw. offen verkauft werden, der Beachtung der k. k. österreichischen Behörden ent gangen sind, ja daß sie sogar, wie die uns vor liegenden zeigen, von den kaiserlichen Post ämtern des uns befreundeten und ver bündeten Oesterreich anstandslos gestempelt und befördert werden. Sollte unserem Kaiser!, deutschen Generalkonsul in Lemberg diese Angelegenheit un- bekannt geblieben sein? Wir erwarten dringend eine Aufklärung und ein entschiedenes Einschreiten gegen diese brutale Verhöhnung unseres deutschen Empfindens auf dem Boden eines verbündeten Staates! Jeluitenuilks. Das neueste Motuproprio Pius' X. verhängt be kanntlich die Exkommunikation über jedwede Privatperson, die in Kriminal- oder Zivilsachen ohne Erlaubnis der kirchlichen Behörde irgendwelche kirchlichen Personen vor ein weltliches Gericht zitiert. Dieier Eingriff in die Gerichtsherrlichkert des Staates ist so ungeheuerlich, daß der klerikale „Bayerische Kurier" zu Jesuitentricks greifen muß, um den Eindruck des neuesten Beweises hierarchischer Maßlosigkeit abzujchwächen. Der „Bayer. Kur." stellt nämlich unsere Offiziers-Ehrengerichte als ein Gegenstück der geistlichen Vorinstanz hin. die durch das Motuproprio geschaffen wird; dürfe doch kein Offizier bei einer Beleidigung ohne weiteres zum Richter gehen, sondern vorher müsse er, wenn er nicht aus der Liste der Offiziere gestrichen, ,,d. h. exkommuniziert", werden wolle, das Ehrengericht hören. Der charakteristische Unterschied, der zwischen den Offiziers-Ehrengerichten und der geistlichen Borinstanz Pius' X. klafft, besteht in der Tatsache, dan das Motuproprio in keinem Falle den geistlichen Geschädigten betrifft, sondern stets nur den geistlichen Schädiger im Auge hat. Diesem will der Papst, gleichviel ob es sich um Kriminal- oder um Zivilsachen handelt, eine bevor rechtete Stellung geben, um zu verhüten, daß aus der Schandtat des geistiichen Frevlers für die römische Kirche unliebsame Schlüsse gezogen werden. Ist deshalb der Vergleich des „Bayer. Kur." voll kommen veriehlt, so ist es auch ganz haltlos, wenn das Münchener Zentrumsblatt die neue geistliche Vorinstanz mit dem „stark üblichenSchiedsgerichts- oerfahren. das auch die Gerichtsherrlichkeit des Staates durchbricht", in Parallele stellt. Denn der artige Schiedsgerichte werden als solche von den beteiligten Parteien, sei es grundsätzlich, sei es im einzelnen Falle, als zuständiges Gericht aner kannt; die geistliche Vorinstanz dagegen wird allen Privatpersonen ohne Unterschied ausgezwungen — mit Hilfe des schwersten Druckes auf das Ge- wisien, den die römische Kirche kennt, der Exkommunikation. Je empörender gerade die An wendung dieses Druckmittels ist, um so tatkrästiger müssen nch die Staatsregierungen gegen den neuesten päpstlichen Eingriff zur Wehr setzen. Die Finten aber, die anzuwenden der „Bayerische Kurier" sich genötigt sieht, veranschaulichen aufs deutlichste die Verlegenheit, in die Pius X. durch sein Motuproprio das Zentrum gestürzt hat. Grlstz eines Dienst--Unfall -Mlorgegeletzes. Wie man uns schreibt, sind die Vorarbeiten für ein Unfall-Fürsorgegesetz im öffentlichen Dienst ab geschlossen, so daß demnächst mit Refforts der Bundes staaten in Beratungen über die Gestaltung der Vor lage emgelreten werden kann. Bekanntlich hat der Reichs lag mehrfach an die verbündeten Regie rungen das Ersuchen gerichtet, einen Gesetz entwurf vorzulegen bei Arbeiten, welche frei willig zur Rettung von Personen und zur Bergung von Gegenständen vorgenommen werden, unter be sonderer Berücksichiigung der bei solcher Tätigkeit vorkommenden Feuer-, Wasser- und anderen Ge fahren. Daß die Reichsregierung bisker einen solchen Gesetzentwurf nicht eingebracht hat, lag lediglich da ran, daß die Reichsversicheiungsordnung eine Um gestaltung der Unfallversicherung brachte, die natur- gemag zunächst abgeschlossen sein mußte. Das Reich hatte im Jahre 1901 durch das Neichsgesetz über die Betriebsunfallfürsorge den Angestellten, die in Reichsdetriebea beschäftigt sind, eine weitgehende Fürsorge gegen die Folgen von Be triebsunfällen zuteil werden lassen. Nunmehr sollen auch die im Dienst erlittenen Unfälle eine angemessene Fürsorge finden. Der kommende Gesetzentwurf wird jedoch die Unfallfür sorge nicht aut Beamte beschränken, sondern auf alle Personen ausdehnen, die freiwillig im öffentlichen Dienst bei der Rettung von Personen und Gegenständen zu Schaden kommen. Hierhin ge hören auch beispielsweise die Angehörigen der frei- willigen Feuerwehr, deren es im Deutschen Reich etwa 1'/< Millionen gibt. Der Personenkreis, auf den sich das kommende Unsallsllrjorgeaesetz erstreckt, ist mithin ein sehr beträchtlicher. Man kann an- nehmen, daß dieser Gesetzentwurf die erste sozial- politische Vorlage sein wird, die den neuen Reichstag zu beschäftigen hat. Oeutlches «eich. Leipzig, 25. November. * Berlin und die Teuerung. Die Gemeinden Ber lins beantragten in einer gemeinsamen Eingabe an den Reichskanzler für die Dauer der Teuerung die Ermäßigung der Zölle für Brotgetreide, die Wiedereinführung des Jdentitätsnach- weises oder Reform der Bestimmungen der Einsuhrscheine im Interesse der in ländischen Derbraucher, die Aufhebung der Zölle auf Futtermittel, Hülsenfrüchte, Reis, Ge müse, lebendes Vieh, frisches und gefrorenes Fleisch. Schweineschmalz, Speck und Butter, ferner die Aushebung der Kontingentiernng für lebendes Schlachtvieh und die Beseitigung der Grenzsperre gegen dessen Einfuhr unter Wahrung des not wendigen veterinären Schutzes, Beseitigung der Er- schwerungen der Einfuhr krischen Fleuches, Ermög- lichung der Einfuhr gefrorenen Fleisches aus Argen, tinien und anderen Ländern, Schaffung der für dauernde Versorgung dieser Art erforderlichen Ein- richtungen und Herbeiführung von Maßnahmen zur Erleichterung der Zufuhren von Kartoffeln in der kühleren Jahreszeit, insbesondere die Bereitstellung besonderer Kartoffelzüge geheizter Güterwagen. * Bon der Ansledlungskommission. Die Ansied, lungskommijsion hat von dem Rittergute Jadownik lKr. Znin) 1000 Morgen für Anstedlungsz vecke er worben. Das Restgut in Größe von 1050 Morgen wird in der Hand des bisherigen Besitzers durch die Mittelstandskaffe in Posen reguliert. * Streikunterstützungen find nicht Darlehen. Wie die „Inf." mitteilt, haben die sozialdemotratischen Ge- werkichasten in letzter Zeit den ganz neuen Brauch eingeführt, die Streikunterstützungen nur als Dar lehen zu gewähren. Jeder einzelne Arbeiter muß bei Empfang der Streikunterstützungen bescheinigen, daß er sie nur von dem Verbandskassierer als Dar lehen empfangen habe. In manchen Fällen muß er das Darlehen dann zurückzahlen, wenn erstreik brüchig wird. Die Gewerkschaften wollen sich also in diesem Falle vor Streikbruch schützen. Wird er nicht streikbrüchig, dann hört die Darlehnseigen- schaft der Unterstützung bei Ende des Streiks auf. In anderen Fällen, besonders bei jungen Mitgliedern, wird bestimmt, daß das Darlehen während zweier Jahre zurückgefordert werden kann. In diesem Falle wird den Mitgliedern also während zweier Jahre das Recht genommen, von den Gewerkschaften zurückzutreten. Demgegenüber muß darauf hin gewiesen werden, daß diese Abmachungen durchaus nicht rechtskräftig erscheinen. Das Darlehen durch den Derbandstastierer ist nicht ein wirkliches Darlehen, sondern nur ein Scheingeschäft, durch das eine Vertragsstrafe gegen Streikbruch oder gegen vorzeitigen Austritt aus den Gewerkschaften verdeckt werden soll. Das Darlehen ist also rechtlich eine Vertragsstrafe. Das Reichsgericht hat aber be reits in Auslegung des 8 152 entschieden, daß Ver tragsstrafen rechtsunwirksam sind, wenn sie die Ver hinderung des Rücktrittes von Streiks usw. ver hindern sollen. Fernerhin wurde ohne Rücksicht auf die Eigenschaft der Streikunterstützung als Vertrags strafe gerichtlich festgestellt, daß alle Abmachungen auf Rückzahlung von Streikunterstützungen rechtlich unwirksam sind. * Ueberföhrung von Arbeitern in das Beamten verhältnis. 2m Reichstag hat aus Anlaß der jüngsten Interpellation über die Eisendahnarbeiter der Minister der öffentlichen Arbeiten darauf hingewiesen, daß die Eisenbahnardeiter unter Umständen in das Beamtenverhaltnis überführt würden. Wie uns dazu nntgeteilt wird, sind bei der Staatseisenbahn verwaltung insgesamt 115 000 Stellen für diejenigen Arbeiter der Ecsenbahnoerwaltung offen gehalten, die sich im Dienst gut bewährt Haden und die dann in die Beamtenstellungen einrücken und die damit verbundenen Vorzüge genießen. Beim Ablauf dieses Jahres werden wiederum wie alljährlich 6—7000 Arbeiter in das Beamtenverhaltnis überführt worden sein. Es konnten bisher rund 75000 der artiger Stellen mit Arbeitern besetzt werden. Neben der Sicherung des Dienstverhältnisses der Eiiendahnarbeiter, die durch einen jüngsten Erlaß des Ministers erfolgte, erscheint diese Möglichkeit für die Arbeiter besonders wertvoll. * Disziplinarverfahren gegen Pfarrer Traub. Im Vorverfahren oer Difziplinarangelegenheit gegen Piarrer Liz. Traub in Dortmund war Pfarrer Traub, wie schon gestern von uns mitgeleilt, für gestern Freitag, zur Anhörung über die Anschuldigungspunkte vor das Königs. Konsistorium der Provinz Schlesien in Breslau, dem das Berfahren aus Traubs Antrag überwiesen ist, geladen worden. Das schlesische Kon sistorium hat den Anklagebeschluß dahin erweitert, daß Pfarrer Traub hinreichend verdächtig erscheint, seine vorgesetzte Dienstbehörde, das König!. Kon sistorium der Provinz Westfalen zu Münster und dessen Mitglied, den Konsistorialrat Dr. Richter, aus Anlaß der Verhandlungen über die Errichtung einer zweiten Psarrstelle in Hilchenbach durch Artikel in der „Christlichen Freiheit", evangelisches Gemeinde blatt für Rheinland und Westialen von 1010 und durch einen Vortrag im Jahre 1910 öffentlich be leidigt bzw. durch Verbreitung falscher Tatsachen heraogewürdiat zu haben. — Außerdem werden Pfarrer Traub Ausführungen zur Last gelegt: 1) in seiner Broschüre „Staatschristentum oder Bolkskirche", 2) eine Reihe Artikel aus der von ihm beraus- aegebenen Wochenschrift „Christliche Freiheit" zum Fall Jatho usw., sowie 3) mehrere Vorträge ähn lichen Inhaltes. * Postalisches Uebereinkommen zwischen Deutsch, land und Brasilien. Zwischen dem Deutschen Reich und der Regierung der Vereinigten Staaten von Brasilien ist soeben ein Uebereinkommen abgeschlossen worden, wonach vom 1. Dezember d. I. ab Post pakete ohne Wertangabe bis 5 tzß zwischen Deutschland und vorerst 14 größeren Städten in Brasilien ausgetauscht werden können. Zu diesen Städten gehören u. a. Rio de Janeiro, Bahia. Pa- ranaaua, Pernambuco. Petropolis, Porte Allegre, San Paulo. Santos usw. Bis 1 kx ist süber Ham burg und Bremen) 2,60 .6 zu zahlen, und bis 5 tz? 3,^0 Nachnahmepakatete sind auch zulässig. * Reichstagswahlvorbereitungen. In M.-Glad bach-Rheydt wurde der Fabrikbesitzer Karl Zahn als nationalliberaler Reichstagskandidat ausgestellt. — In Donaueschingen hat das Zentrum den Reichstaasabgeordneten Duffer, in Speyer.Lud- wigshasen den Landgerichtsrat Schöndorf, in Germersheim.Bergzabern den bisherigen Ab geordneten Wilhelm Spindler, im Wahlkreise Frankenstein.Münsterberg den bisherigen Ab geordneten Graf Han» Praschma auf Schloß Rogau wieder ausgestellt — In Gebweiler ist Zentrums- kandidat Altvürgermeiiter Thumann—JnStolp- Lauenburg »st liberaler Kandidat Direktor Schwuchow in Steglitz. — Im Wahlkreise Ulm unterstützt die Deutsche Partei bei der Reichstags wahl den volksparteilichen Kandidaten Haehnle gegen die Zusicherung der Volkspartei, bei den Land tagswahlen in Ulm und Geislingen die deutsch parteilichen Kandidaten zu unterstützen. — Zentrums kandidat in Borkum ist Prof. Dr. Werkamp. — In sämtlichen Wahlkreisen Rheinlands und Westfalens ist als Zählkandidat der Polen der Bolksschriftsteller Chociszewski in Gnesen aus gestellt. — In Westpreußen wird das Zentrum in sämtlichen Wahlkreisen besondere Kandi daten aufstellen. — Gemeinsamer liberaler Kan didat im Kreise Ohligs ist Rechtsanwalt Bie- santz-Köln. — In Mersedurg-Querfurth stellen die Konservativen den Gutsbesitzer Niete aus Star- siedel bei Lützen auf. Suslsnü. Oesterreich-Ungarn. * Erzherzog Franz Salvator. Aussehen erregt hier die Meldung von dem bevorstehenden Rücktritt des Eizherzogs Franz Salvator. Schwiegersohns des Kaisers, von seiner militärischen Stellung. Von einer anscheinend intere fierten Seite wird heute im „Deutschen Voltsblatt" hierzu ausgeiührt, daß Erzherzog Franz Salvator aus den Posten eines Korpskommandanten Anspruch mache, da die beiden mit ihm ranggleichen Generale der Jn- fanter beim letzten Rooember-Aoancement einen solchen erhalten haben. Die Korpskommandanten, stelle aber, die für den Erzherzog allein in Be tracht kommen könnte, sei die des zweiten Korps in Wien. Nun hat diese Stelle gegenwärtia der General Ritter von Versbach inne, der als Anwärter für den Posten des Kommandanten der kaiserlichen Ar- riSren-Leibgarde gilt. Da aber dieser Posten immer erst besetzt wiro, wenn er durch das Ableben seines Inhabers frei wird, und da der gegenwärtige In haber General Graf Ueküll sich beiter Gesundheit erfreut, io muß der Erzherzog warten, was so viel heißt, als daß er den Posten überhaupt nicht be kommt. Die tieferen Gründe dafür sind dienstlich militärischer Natur und entziehen sich der öffent lichen Erörterung. Der Erzherzog wird daher vor läufig einen längeren Urlaub nehmen und dann wahrscheinlich aus dem aktiven Militärdienst aus scheiden. Frankreich. * Briand — der kommende Mann? Die Kammer bot am Donnerstag, als Briand auf der Redner bühne erschien, einen merkwürdigen und höchst be- zeichnenden Anblick. Auf allen Bänken, mit einziger Ausnahme derjenigen der sozialistischen Gruppen, brach stürmischer Beifall aus und der gewesene Ministerpräsident mußte minutenlang warten, ehe das dröhnende Händeklatschen aufhörte. Fast jeder Satz seiner Rede löste neue Beifallsstürme aus, obschon das, was er sagte, eigentlich kein großes Jntereffe bot. Wenn er versicherte, daß er nicht mit Lockspitzeln gearbeitet habe, daß er während des Eisenbahner - Ausstandes keinen Bombenanschlag durch Geheimpolizeiorgane ausführen ließ, daß er sich für seine Vorgänger an der Regierung mitverantwonlich fühle, so kann man schwerlich Offenbarung von neuen Wahrheiten nennen. Der Kammer kam es auch augenscheinlich nicht darauf an, diesem oder jenem Ausspruch des Herrn Briand zuzustimmen, sondern ihm nn allgemeinen Jntereffe und Sympathien auszuoriicksn. Es herrscht unver kennbar bei der Mehrheit etwas wie ein dumpfes Verlangen nach einem Retter und viele Abgeordnete neigen zu der Ansicht hin, daß dieser Retter wohl Briand sein könnte. * Französische Zeitungen und der Kreuzer „Ber- lin". Französische Blätter veröffentlichen einen Ar tikel der in Tanger erscheinenden „Deutschen Ma rokko-Zeitung", der darauf hinweist, daß der Kreuzer „Berlin" zwar noch vor Agadir liege, daß aber ein Teil der Besatzung und der Kommandant des Schif fes nach Deutschland zurückgekehrt seien. Die fran zösischen Blätter knüpfen an diese Meldung ein gehende Kommentare, Laß die pangermanistische „Deutsche Marokko-Zeitung" mit dieser Meldung nur die Absicht vertrete, Deutschland von seinem Verhal ten in Marokko reinzuwcrschcn, -a eine Abberufung des Kreuzers immer noch nicht erfolgt ist. Selbst verständlich sind die Kommentare der Pariser Blät ter wahrer Unsinn, da die nach Deutschland zurück gekehrte Mannschaft längst durch neue Matrosen er setzt worden ist. * Eisenbahnjtreik in Frankreich. Auf der west lichen Staatseisenbahn ist ein Teilstreik der Bahn angestellten ausgebrochen. 70 Arbeiter haben die Arbeit niedergelegt, da ihnen der gestern fällige Lohn nicht ausgezahlt worden ist. Die Ausständigen haben an ihre Kollegen einen Aufruf erlassen, in dem sie diese auffordern, mit ihnen in den Sympa thiestreik zu treten, falls ihnen nicht heute das sättige Gehalt ausgezahlt werden sollte. Lustland. * Russische Flottenbauten. Dem „Rjetsch" zufolge wird der Reichsduma eine Flottenvorlage über die Ausgestaltung der Ostjeeflotte vorgelegt werden. Als Hauptbasis der Aktionsfähigkeit der neuen Flotte ist Reval gedacht. In fünf Jahren sollen vier große Panzerkreuzer mit 28 000 Tonnen Gehalt, neun kleinere Kreuzer und Linienschiffe, 36 Torpedojäger und eine entsprechende Anzahl von Unterseeboten ge baut werden. LSchsMer Landtag. Die Erst« Kammer trat heute mittag 12 Uhr zu einer kurzen Sitzung zusammen und beschloß in Uebereinstimmung mit der Zweiten Kammer das Gesetz, betr. die vorläufige Erhebung der Steuern und Abgaben im Jahre 1912, nach der Vorlage anzunehmen. Als Berichterstatter fungierte Oberbürgermeister Dr. Beutler, der auch auf die Debatte in der Zweiten Kammer anläßlich dieser Vorlage verwies. — Nach der Entgegennahme der Anzeigen der IV. Depu tation über vier für unzulässig erklärte Petitionen war die Tagesordnung erledigt. Nächste Sitzung: Mittwoch, den 6. De zember, mittags N12 Uhr. Tagesordnung: Petitionen. Zweit« Kammer. (:) Dresden, 24. November. Die Zweite Kammer beschäftigte sich heute mit der Interpellation des Abg. Dr. Nietham mer und Genoffen, den GLterwagenmangel aus de« sächsischen Staats« «isendahnen vetreffend, und mit der allgemeinen Vorberatung über den An trag des Abg. Brodaus und Genossen auf Einführung der 4. Wagenklaffe auf allen Schmal- sparliaien der Staatseisenbahnen oder Herabsetzung der Fahr- preise der 3. Klaffe auf die der 4. Kläffe. Die Interpellation des Abg. Niet« Hammer lautete wie folgt: „Was gedenkt die Königliche Staatsregierung gegen den Handel und Industrie schwer schädigenden, andauernden Gllter- wagenmangel auf den sächsischen Staatseisenbahnen zu tun?" Der Antrag des Abg. Brodaus und Ge- nassen hatte folgenden Wortlaut: „Di« Kammer wolle beschließen, die Königliche Sraatsregierung zu er suchen, für die Schmalspurlinien der Königlich Sächsi schen Staatseisenbahnen die 4. Wagenklaffe einzu führen oder die Fahrpreise der 3. Klaffe auf die der 4. Klaffe der Normalspurbahnen herabzusetzen, und die hohe Erst« Kammer zum Beitritt zu diesem Be schlüsse einzuladen." Am Ministertische: Staatsminister v. Seyde- w i tz und eine Anzahl Räte des Finanzministeriums. Der Minister erklärte sich bereit, die Interpellation zu beantworten. Abg. Niethammer (Natl.) begründete zunächst die Interpellation in ausführlicher Weise. Die Klagen über den Wagenmangel seien aus allen Teilen Sachsens gekommen. Man sei schon daran gewöhnt, daß sich ein derartiger Mangel von Zeit zu Zeit ein stelle; daß dieser Mangel redoch so lange anhalte, wie in der letzten Zeit, das sei eine ungewöhnliche Erscheinung. Die Eisenbahnverwaltung schneide sich ins eigene Fleisch und habe den Schaden selbst zu tragen, wenn sie den an lie ge langten Wünschen nicht Rechnung trage. Ein Grund des Wagenmangels sei auch das viele Leerläufen der Eisenbahnwagen, wo durch gleichfalls viele Verstimmungen zwischen den Beamten und dem Publikum vorkämen. Weitere Nachteile seien Frachtoerluste und eine Unord nung der Statistik. Er wolle gern die größere Pünktlichkeit des Personenverkehrs gegen früher an erkennen, der Wagenmangel sei jedoch vorhanden und die Industrie habe hierdurch noch größere Nachteile als die Eisenbahnverwaltung selbst. In früheren Jahren seien viel zu wenig Einstellungen für den Bau von Güterwagen im sächsischen Etat erfolgt und es sei hier eine falsche Sparsamkeit geübt worden. Auch der Grundsatz, die Lokomotiven so lange als möglich im Betriebe zu erhalten, sei nicht richtig. Gegenwärtig liefen noch Lokomotiven aus den 60er Jahren, die doch längst ins alte Eisen ge hörten. Tie Verhältnisse hätten sich in den letzten Jahren durch den Beitritt Sachsens zum Staatsbahn wagenoerbande mehrfach geändert. Wahrscheinlich hätten wir jedoch noch schwierigere Verhältnisse, wenn der Verband nicht vorhanden sei. Die Inter pellation bezwecke in erster Linie eine schnelle Hilfe und eine Abstellung der Uebelstände, da sich im be vorstehenden Frühjahre der Verkehr durch die bevor stehende starke Beförderung der Düngemittel wieder erheblich steigern werde. Staatsminister v. Seydewitz weist auf den er höhten Verkehr im letzten Jahre nicht nur in Sachsen, sondern in ganz Deutschland hin. Deshalb sei auch überall Mangel an Güterwagen vorhanden gewesen. Nach den bestehenden Vereinvarungen innerhalb des Gütcrwagcnvcrbandcs solle immer nach Möglichkeit ein Ausgleich geschaffen werden. Bei der Be sprechung der Frage müsse er auch des großen Ver kehrs außerhalb Sachsens gedenken. Hieran sei die erhöhte Tätigkeit der Industrie und des Handels her vorragend beteiligt. Ebenso sei durch die Trocken heit die Binnenschiffahrt teilweise ganz und teilweise erheblich gestört gewesen. Hierdurch seien in Preußen große Massentransporte, die man sonst zu Wasser aus geführt habe, auf die Eisenbahn verwiesen worden, wodurch wieder zahlreiche Wagen bedeutend längere Strecken gelaufen seien als sonst. Der Kohlenvertehr habe unter den gleichen Verhältnissen gelitten und die Güterwagen seien aus den Kohlenstrecken oft vier Tage lang unterwegs gewesen, während die Wagen sonst in einem Tage hin und her laufen konnten. Einen großen Einfluß auf die Hebung des Verkehrs hätten auch die Frachtermäßigungen auf Futter- und Düngemittel gehabt, ebenso sei die Mißernte im all gemeinen und der Ausfall der Rübenernte im be sonderen hier mit in Betracht zu ziehen. Hierzu kämen auch noch die Truppentransporte usw. Aus allen diesen Gründen könne es nicht wundernchmcn, wenn die sächsische Staatseisenbahnverwaltung nicht alle an sie gestellten Anforderungen erfüllen konnte. Grundsatz sei es, sämtliche Verbandswagen in Deutsch land möglichst gleichmäßig zu verteilen. Die Einzel verwaltungen seien gehalten, Wagen an andere Ver waltungen nach Bedarf abzugebcn. Der Vorwurf, daß die sächsisch« Verwaltung in früheren Jahren mit dem Bau von Güterwagen zurückgehalten habe, sei nicht berechtigt. Leistungsfähige und guterhaltene Maschinen würden selbstverständlich im Betriebe ge halten. Im gegenwärtigen Etat seien jedoch nicht weniger als 70 Stück neue Maschinen gefordert wor den. Uebrigens sei der Güterempfang in Sachsen größer als der Güterversand und es gingen hier mehr beladene Wagen ein als aus. So seien im September 1911 33 368 und im Oktober 1911 31065 leere Wagen von hier nach auswärts gegangen. Die Regierung sei sich selbstverständlich der schweren Schä digungen, die der Wagenmangel mit sich bringe, roll bewußt und sei infolgedessen auch bemüht, ihnen zu begegnen. Infolgedessen seien für eine Vermehrung -er Güterwagen im Etat 1909/10 11^ Millionen Mark gefordert worden. Für die nächsten beiden Jahre sei eine weitere Vermehrung der Güterwagen seitens des Verbandes in Aussicht genommen wor den. In der letzten Zeit seien rund 150 Millionen Mark seitens der beteiligten Verwaltungen zum Bau von Güterwagen ausgebracht worden, so daß gegenwärtig rund 545 000 Güterwagen im Betriebe seien. Es sei dies eine Vermehrung um rund 10 Prozent in Len letzten beiden Jahren. Selbstver ständlich seien auch noch weitere Maßregeln zur Be hebung des Mißstandes angcordnet worden. Der Bau neuer Wagen werde beschleunigt, mehr Güter sonderzüge seien eingestellt und für eine schnelle Ab fertigung der Ellterzüge sei Sorge getragen worden. Jedenfalls liege der Mangel nicht an unzulänglichen Maßnahmen der Verwaltung, sondern an den Natur ereignissen und an den abnormen Verkehrsverhält nissen. Auch für die Zukunft sei bereits das Not wendige verfügt worden, um dem Mangel zu be« <ÄoH»t144444»4t§ 29 ^«^444 19 A«44444^