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Nach ürr Generstttreikserklärung. Die Lage in England ist nur wenig ver» ändert. Der Streit der Eisenbahner breitet sich langsam aus, ohne jedoch bislang eine ernstere Gefahr zu bilden. Die Desamtlage ist naturgemäß nach wie vor außerordentlich ernst und die Einzelstreits wuchern üppig fort. DieStreik- ausjchreitungen nehmen gleichfalls ihren Fort gang. Die Ansicht der Regierung. Im Unterhause verlas gestern Churchill einen langen Bericht über die Lage des Streiks. Er erwähnte, daß im Zusammenhang mit dem Ausstand der Eisenbahnangestellten mehrfach Ausschrei tungen gegen das Eigentum der Bahnen versucht worden seien. um den Betrieb der Bahnen zu hemmen. Jedermann müsse wissen, daß solche Handlungen schwere Ver brechen seien, worauf Zuchthausstrafe stehe Die Regierung werde alle nötigen Schritte tun, um den ungestörten Transport von Lebensmitteln, Brennmaterialien und anderer wichtiger Güter auf den Bahnen und in den Häfen sicherzu stellen, und werde dafür sorgen, daß alle Dicnstzwcigc, welche für die Gemeinschaft un umgänglich nötig sind, im Betriebe bleiben. Churchill fuhr fort: Die Negierung wird so vorgehen, nicht weil sic auf der Seite der Arbeit geber oder Arbeitnehmer steht, sondern weil sie verpflichtet ist, um jeden Preis die Oeffent - lichkeit vor Gefahr und Elend ,u schützen, das die allgemeine Hemmung der Industrie nach sich ziehen würde: sie würde auch zu einer Hungers not unter den großen Massen der ärmeren Bevölkerung führen. Die Negierung glaubt, daß die Vorkehrungen. die sie zur Aufrechterhaltung des Eisenbahnbetriebes und der Ruhe getroffen labe, sich als wirksam er weisen. Sollte dies nicht der Fall sein, werden Maßnahmen von weit größerer Ausdehnung schnell getroffen werden. lBeifall bei den Unionisten.) Es ist klar, sagte der Minister, daß man die en Tat sachen nicht entgehen kann und vaß sic, da die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung und die Sicherheit des Lande; hiervon betroffen werden, weit wichtiger sind als sonst etwas. lLautcr Beifall bei den Unionisten.) Schließlich erklärte Churchill, daß irgendeine Mitteilung über den Stand der Verhand lungen augenblicklich unvorteilhaft sei. Ueber die weitere Ausbreitung der Streikbewegung wird gemeldet: * London, 18. August. lE. D.) Der Hilfs- sekrctär der Gesellschaft der Eisen bahner erklärte, die Vorschläge der Negie rung seien vormittags von dem gemeinsamen Aus schuß der Vereinigungen beraten worden, hätten aber in keiner Weise die Lage geändert. * London, 18. August. tPriv-Tel.) Die Schiffer und Schauerleute, die auf der Themse beschäftigt sind, werden heute in den Ausstand treten. Für kommenden Dienstag erwartet man den Streikbefehl für alle Industrie- und Trans portarbeiter der vereinigten Königreiche.^'" * London, 18. August. (Lig. Drahtmeldg.) Die Hälfte der Leute der drei bedeuten sten Lon doner Untergrundbahnen (Tubcs) hat die Arbeit eingestellt. Auch auf der Metropolitain- nnd den Distrikt-Untergrundbahnen verkehren wenig Züge, dagegen gehen die Kontinentalzüge fahrplan mäßig ab. Ueber die Wirkungen des Streik» liegen folgende Telegramme vor: London, 18. Aug. (Eig. Drahtm.) Trotz de» Streiks kam der Londoner Expreßzua. der die Verbin dung mit dem Dampfer nach Vlißingen herstellt, mit der Post und den Passagieren nach dem Kontinent in Llueensborough mit nur 20 Minuten Verspätung air, wäh-end die durchgehenden Wagen der Great Western Railway auf der Victoria-Station nicht mehr den Anschluß nach Queensborough erreichten. London, 18. August. Die Wirkungen des Aus standes in London sind bisher keine sehr ernsten. Es herrscht wohl eine beträchtliche Störung, jedoch keine Stockung im Verkehr. Heute morgen sind 15 000 Mann in der Hauptstadt ein- getroffen und in den Parks in der Nähe der Eisen bahnstationen im Mittelpunkt der Stadt und in einem Lvarenlager in Eastend untergebracht worden. In der Provinz breitet sich der Ausstand all mählich aus. In einer Anzahl großer Städte, darunter Manchester und Liverpool, ist der Eisen bahnverkehr vollständig lahmgelegt, ohne daß jedoch Ruhestörungen vorgekommen sind. London, l8. August. lE. D.) Einige Eisen bahnlinien arbeiten fast normal. Auf anderen wieder ist der Verkehr ernstlich gestört. Die Nachtposten und Fahrgäste auf der Fishguard- route wurden ausgehaltcn. Die Passagiere aus Irland können nicht landen. Nach einer Meldung aus Birmingham ist Westengland gänzlich von der Midlandsbahn abgcschnitten. Die Di rektionen der Südlinien erklären, daß der Betrieb fast ungestört ist und nur wenig Leute fehlen. Der Vertreter der Angestellten bezeichnen dies als unwahr. >«. Köln, 18. August. lPriv.-Tel.) Infolge des Streiks in England stockt die Zufuhr von eng lischer Kohle. In Cardiff liegen die Dampier, die zur Fahrt nach Deutichland vorgesehen waren, wegen des Streiks fest und können nicht abfahren. Ersatzdampser sind nicht zu erlangen. In Schott land weigern sich die Hafenarbeiter, Kohlen zu verladen. Neue Streikausschreitungen. London, 18. August. lPriv.-Tel.) Heute nacht hielten streikende E rdarbeiter einen von Mans field nach Kirkby verkehrenden Personenzug auf, iitdem sie große Steinblöcke auf die Schienen wälzten und jo den Zug zum Stehen brachten. Sie zwangen den Lokomotivführer unter Droh- und Schmähworten, den Zug wieder nach Magsficld zurückzu bringen. Keine Vertagung des englischen Unterhauses. London, 18. August. (Eigene Drahtmeldung.) Wie ursprünglich vorgesehen war, sollte das Haus sich heute dis zum 24. Oktober vertagen. In der heutigen Sitzung erklärte Lloyd Georg«, daß im Hin blick auf die kritische und unruhige Lage m der Industrie es nicht für wünschenswert gehalten werde, daß das Haus sich eher vertage als bis man klarer sehe, ob es möglich sei, die Beilegung des Streikes zu erzielen und demgemäß Las Haus nur bis zum 22. August zu vertagen. Die Vorlage über die Verschärfung des Gesetzes gegen Vie Verletzung des Amtsgeheimnisses und gegen Spio nage wurde in letzter Lesung angenommen. Letzte Telegramme. - London, 18. August. (Eig. Drahtmeldung.) Der Ausstand der englischen Eisenbahner ist in Nord england und in Südwales vollständig, in MittßfeNgland teilweise und in Siidcngland so gut wie gar nicht durchgeführt. Die Arbeiter führer schätzen die Zahl der Ausständigen auf 200 000. Die Stockung des Verkehrs wird noch erhöht durch die erschreckten Ferienreise ir den, die nach ihren Wohnsitze«' zurückzukehren trach ten. Diele Tausende sind in ihren Sommerfrischen festgehalten. 12 000 Bergleute in Cumberland sind zum Feiern gezwungen. Die Brauereien in Burton stehen fast gänzlich still. Die Mannschaften der Kriegsschiffe in Portsmouth haben den Befehl erhalten, sich bereit zu halten, Garnisondienste zu leisten. London, 18. August. (Eig. Drahtmeldung.) Die Schiffseigentümer und Hafenarbei ter sind nach einer Beratung im Ministerium zu einem günstigen Ueberein kommen ge langt, wonach die Streitigkeiten der Entscheidung des Arbeitsministers Burns oder eines Schieds richters, der vom Präsidenten der Liga bestellt ist, unterworfen werden sotten. d London, 18. August, 10.15 Uhr abends. (Eig. Drahtmeld.) Auf dem Euston Road und im benach barten Arbeiterviertel herrscht eine große Er regung. Die ganzen Bezirke sind von mächtigen Volksmengen umgeben, die den Wachmannschaften gegenüber Feindseligkeiten an den Tag legen. Oer Geburtstag Kaller /ranz Hasels wurde gestern in Oesterreich wie im Reiche überall festlich begangen. Ueber die Feier der Leipziger österreichischen Kolonie haben wir bereits im Abendblatte ausführlich beuchtet. Aus Dres den wird uns gemeldet: Die Feier in Wilhelmshöhe. Wilhelmshöhe, 18. August. (Eig. Drahtmeld.) Mittags fand anläßlich des Geburtstages des Kaisers Franz Josef bei den Majestäten eine größere Tafel statt, zu der u. a. die Herren der österreichisch-ungarischen Bot schaft in Berlin geladen waren. Bei der Tafel saßen die Majestäten einander gegenüber. Rechts vom Kaiser folgten zunächst der öster reichisch-ungarische Botschafter Graf v Szoegyeny Marich, Generaloberst v. Plessen, der Militärattache- Freiherr von Vienerth, links der Reichskanzler, Botsck-aftsrat Freiherr v. Flotow, Staatssekretär v. Kiderlen-Wächter. Rechts von der Kaiserin saßen zunächst Botschafter Freiherr Mar schall v. Bieberstein, Prinzessin Viktoria Luise und Obcrpräsident v. Hengstenberg; links von der Kaiserin der kommandierende General Freiherr v. Cchcffer-Boyadel, die Hofstaatsdame Gräfin v. Keller und der Chef des Militärkabinetts Frei herr v. Lyncker. Der Kaiser, in der Uniform eines österreichischenFeldmarschalls, erhob sich im Verlaufe des heutigen Mahles zu einem Trink- spruch, in dem er, zum österreichisch-ungarischen Botschafter gewandt, sagte, er bitte seine Exzellenz, seiner Majestät dem Kaiser der Kaiserin und seinen allerherzlichsten Glückwunsch zum Geburts tage zu übermitteln, mit dem Wunsche, daß Gott ihm noch ein langes Leben bescheren möge. Er trinke auf das Wohl seines ho ch verehrten Freundes und treuen Verbündeten Seiner Majestät Franz Josef, Kaisers von Oesterreich und Königs von Ungarn. Die Kapelle des Infanterie-Regiments Nr. 167, welche bei der Tafel konzertierte, spielte die österreichische Hymne. Die Feiern in Oesterreich-Ungarn. * Wien, 18. August. (Eig. Drahtmeld inq.) Der 81. Geburtstag des Kaisers wurde in der ganzen Monarchie festlich begangen. Die Blätter ver» öffentlichen herzlich gehaltene Festartikel. In den Kirchen uiid sonstigen Gotteshäusern finden feierliche Gottesdienste statt. Wien zeigt reichen Festschmuck auf den Straßen. In Iichl wohnten die Mitglieder des Kaiserhauses und Prinz Leopold von Bayern mit Familien dem Hochamte in der Pfarrkirche bei. Der Kaiser hörte die Messe rn der kaiserlichen Villa. In üer Marokkosrrgelegentrejt veröffentlicht die ,^Nordd. Allgem. Ztg." eine Note, die zwar sachlich nichts Neues bringt, die aber die Gewißheit gibt, daß die Verhandlungen in der letzten Zeit weiter gekommen sind. Aus Berlin erhalten wir folgendes Telegramm: Berlin, 18. August. (E. D.) Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" schreibt: Wie wir hören, ge- denkt sich der französische Botschaft« r Ca mbon in den nächsten Tagen nach Paris zu begeben, um über den Verlauf der bisherigen Verhandlungen in der Marokkofrage seiner Regierung münd lich Bericht zu erstatten. Nach der Rückkehr des Botschafters werden die Verhandlungen wieder ausgenommen. Auch in Paris scheinen gestern weitere Bcsvre- chungen in der Angelegenheit stattgefunden zu Haven. Ein Pariser Telegramm besagt: Paris, 18. August. (E. D.) Der Minister- vräj ident hatte heute vormittag eine lange Unterredung mit den Ministern de S a l v e s, Delcassd und Meisimy. Aus dem Susgebiet wird von dem Hebelgriff auf die Manncsmannschen Ingenieure noch gemeldet: 1'.« '. Berlin, 18. August. lPriv.-Tel.) Zu der von französischer Seite gemeldeten Nachricht von der Gefangennahme d reier Agenten der Mannes manns in der 65 Kilometer von Agadir entfernt liegenden Stadt Tarudant im Sustale erklärt die „Preß-Zentrale" von unterrichteter Seite: Die Brüder Mannesmann haben eine geolo gische Expedition in Las Sustal entsandt, als deren Leiter der österreichische Mincningenieur Hamer ist. Hamer und zwei seiner Begleiter sind in Tarudant von Eingeborenen, die anscheinend von franzosenfrcundlichcr Seite aufgehetzt worden sinh, belästigt und jogur tätlich bedroht worden. Hamer hat sich soforr an den österreichisch-ungarischen Gesandten in Langer Baron von Callenberg ge wandt und um den Schutz seiner Negierung gebeten. Wahrscheinlich wird die österreichische Regierung die Maßnahmen für den Schutz ihres Staatsangehörigen dem Deutschen Reich übertragen, das in greifbarer Nähe in Agadir ausreichende Machtmittel besitzt, um jeden Ucbergriff gegen europäische Staats angehörige zu verhindern. Telegraphisch wird uns noch gemeldet: D Tanger. 18. August. (Agcnce Havas.) Nach richten über Tarudant besagen, Laß die Stadt von den Huaraleutcn eingenommen war, daß aber die außerhalb der Mauern gelegene Kasbah, in der sich zwei Europäer, ein Deutscher und ein Oester reicher, beide Agenten der Firma Mannesmann, be fanden, unbeschädigt geblieben sei. Jetzt sei die Ruhe wiederhergestellt. 9 Köln, 18. August. (Eigene Drahtmeld.) Der Spezialkorrespondent der „Köln. Ztg." erfährt von unterrichteter Seite: Der Gouverneur in Tarudant, Kabba, der ein Freund der Deutschen ist, habe sich mit großer Mühe des die Stadt angrelfen- den Huarastammes erwehrt und sei ferner in der Lage, die unter seinem Schutz noch lebenden Deut schen vor allen Eventualitäten zu sichern. Die Ur sache zu den Unruhen sei nicht in Fremden- feindschaft, sondern in persönlichen Miß helligkeiten zwischen dem genannten unbe deutenden Stamm und dem Kaid Kabba zu suchen. Alle übrigen Stämme halten zu Kabba. XX Wilhelmshöhe, 18. August. (Eigene Draht meldung.) Der Reichskanzler kehrt heute abend direkt von Wilhelmshöhe nach Berlin zurück. Staats sekretär v. Kiderlen-Wächter begibt sich auf einige Tage nach Süddeutschland zum Besuch des er krankten früheren Umerstaatssekretürs Stemrich- Badenweiler und zur Erledigung einiger Privat angelegenheiten. Luther als Tröster üer Leipziger Von Paul Pasig. verboten.) Das Herzogtum Sachsen, zu dessen westlichen Grenzstädten vor allem auch unser Leipzig gehörte, sträubte sich bekanntlich, im Gegensätze zum Kur - fürstentum Sachsen, dessen Herrscher Friedrich -er Weise, Johann der Verständige und Johann Friedrich der Großmütige Luthers treueste Freunde und tatkräftige Anhänger der neuen Lehre waren, unter Herzog Georg, geboren am 24. August 1471, seit 1500 Herrscher in den albcrtinischcn Erblandcn, hartnäckig gegen die Einführung der Reformation, und erst der am 17. April 1539 erfolgte Tod dieses Fürsten ebnete der neuen Lehre auch im albertinischen «achsen die Bahn. Gleichwohl hatte auch hier, und ganz besonders in den dem Kurfürstcntume benach barten Landcsteilen, darunter auch Leipzig, das Evangelium Eingang gefunden und zählte viele mutige Betenner. Herzog Georg war im Grunde keineswegs gegen jede Reformation. Denn er hatte die offenbaren Mängel der päpstlichen Kirche zur Ge nüge kennen gelernt. Aber die Art und Weise, wie sie sich vollzog, jagte ihm nicht zu. Nach seiner An sicht hätte die Kirckjencrneuerung sich von oben, d. h. unter Führung der kirchlichen und weltlichen Autori täten, vollziehen müssen. Daß ein schlichter Mönch es wagte, an dem ehrwürdigen tausendjährigen Ge bäude mit kühnem Mute zu rütteln, das widersprach seinen Anschauungen vom Gottesgnadentum und der göttlichen Legitimation des Papsttums aufs ent- ichicdcnste. Auch mochte der Herzog in dieser seiner Ansickst meist durch seine Ratgeber beeinflußt sein, wi* Luthers Wort vermuten läßt, „daß der Herzog, wann er sein eigen Wort redete, friistlich genug zu reden verstanden habe". Die geradezu himmelschreienden Mißstände, die in dem damaligen Zustande der lauschenden Kirche be gründet waren, trugen natürlich wesentlich zum Ein dringen und zur Verbreitung der neuen Lehre bet. Wir erinnern z. B. an die F a st n a ch t s m u m m e - reicn, die im Jahre 1499 sogar in Leipzig einen Mord herbeiführten, indem eine Magd, die sich weigerte, an einem Lurch die Stadt geschleppten Pfluge zu ziehen, den Vermummten, der sie dazu nötigen wollte, niederstach. Was sagen wir ferner dazu, daß am Palmsonntage, der bekanntlich zur ernsten, dem Leiden des Erlösers gewidmeten Passionszeit gehört, und die „stille Woche^' einleitet, ein auk Räder gestellter hölzerner Esel, auf dem eine buntbemalte geschnitzte Figur saß. unter großem Ge pränge aus der' Thomaskirche nach dem Marktplatze gefahren wurde, wo unter Beteiligung der mit Palmen, und Weidenzweigen herbeigeeilten Mönche eine förmliche Komödie ausgesührt wurde? Aehn- liche Posscnspielc wiederholten sich am Himmelfahrts tage, wo man Oblaten, Rosinen und Mandeln unter die Menge warf und nicht selten im Gotteshause blutige Raufereien entstanden, sowie am Fronleich namsfest. Und zur Unterstützung solch gottesläster lichen Unfugs hatte Herzog Georg noch im Jahre 1513 ein Kapital von 2000 Gülden gestiftet? Selbst die Universität war zu ohnmächtig, dem Unwesen zu steuern, ja man geht wohl nicht zu weit, wenn inan ihm eine wenigstens indirekte Förderung . desselben zur Last legt. Pflegte man doch von den damaligen Leipziger Theologen zu sagen: „Wer einen Leipziger Professor der Theologie sieht, der gewahrt auf einmal alle sieben Todsünden." Luthers bekannte Flugschriften sowie seine Pre digten in Leipzig, deren erste er am Peter-Paulstage 1519 über Matth. 16, 13—20 in der Pleißenburg hielt, trugen wesentlich zur Einführung der neuen Lehre bei. Aber die Versuche der Leipziger, einen evangelischen Prediger zu gewinnen, scheiterten an dem Widerstande -cs Herzogs und des Bischofs von Merseburg, deren Einfluß auf die Behörden maß gebend war. Die Münzerschen Baucrnunruhen kamen hinzu, die vielfach auch von Herzog Georg, gleich Len Verirrungen der Wiedertäufer, mit der Lehre Luthers in einen Topf geworfen wurden, um den aktiven Widerstand gegen diese zu begründen. So blieb den bedrängten Evangelischen Leipzigs nichts weiter übrig, als im benachbarten Kurfürstentum Sachsen Trost uiid Erbauung zu suchen. Hier, in dem unweit Naunhof und Grimma, zwei kleine Meilen von Leip zig entfernten Orte Eichen (ursprünglich ein nach einer Eich« genannter Wallfahrtsort mit einem wundertätigen Marienbilde) oder zur Eiche ver kündigte seit 1530 Johann Pfeffinger, später Leipzigs erster Superintendent, das Evangelium. Hierher sowie nach Holzhausen, wo gleichfalls evangelisch gepredigt wurde, walfahrteten die evange lischen Leipziger in dichten Scharen, um das reine Gottcswort zu hören und das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu empfangen. Aber darum brachen die Verfolgungen mit um so größerer Härte über sie herein. Schon der Verdacht, lutherische Bücher zu besitzen, reichte hin, sich den ärgsten Widerwärtigkeiten auszusetzen. War doch be reits früher (1527) ein Nürnberger Kolporteur, der eine evangelische Flugschrift „Von der neuen Wand- lung eines christlichen Lebens" verbreitete, auf dem Markte enthauptet worden, und da die Bekenner der neuen Lehre ohne weiteres mit den Anhängern Münzers zusammengeworfen wurden, teilten sie deren Schicksal, das in Enthauptung oder, mildesten Falles, in Landesverweisung bestand. Um nun, wie man zu sagen pflegt, einmal „reine Wirtschaft" zu machen, hatte der Klerus für die Fastenzeit 1533 ein besonders sinnreiches Mittel er dacht, die Anhänger Luthers herauszufinden. Es wurde ein „B e i ch t ze i che n" geschlagen, eine Art Münze, die den Beichtenden eingehändigt wurde. Fand man nach Beendigung der Fasten in einem Hause kein derartiges Zeichen, so waren seine Be wohner der lutherischen Ketzerei verdächtig und der Strafe verfallen, die in der Regel in Ausweisung und Güterkonfiskation bestand. Das Mittel verfehlte seine Wirkung nicht: cs fanden sich 80 Bürger, mit Frauen und Kindern 800 Seelen, die kein Beicht zeichen besaßen und nun erbarmuno«le,o vertrieben wurden. Sie fanden in Eilenburg, Grimma, Witten berg und anderen kurfürstlichen Städten freundliche Aufnahme. Aber näMdem war ihr köstlichster Trost die herzliche Teilnahme, die Luther selbst an ihrem herben Lose bekundete. Zwei Tro st sch reiben sandte er ihnen, das eine, das sich auf die Bittschrift bezieht, die die Vertriebenen an Herzog Georg um Rückkehr gerichtet hatten, freilich ohne Erfolg, das andere über den Empfang des Abendmahls ni beiderlei Gestalt. In dem ersterwähnten heißt es: „Allen meinen lieben Herren und Freunden im Herrn, so aus Leipzig um Christus willen verjagt sind, sämtlich und sonders. Gnade und Friede in Christo; sonst ist doch kein Friede, bis der Herr selbst komme und den Feind des Friedens stürze. Meine lieben Herren und Freunde in Christo! Es hat mir Wolf N. Euer aller Suppli kation (Bittschrift), an Euern gnädigen Herrn ge richtet, gezeigt, welche mir gar wohl gefällt, denn ich sehe es gerne, daß Ihr dem Teufel zwei Kerzen an zündet. Denn solches bringt Euch desto größeren Glimpf (Ehre) und dem starrigen Kopfe größeren lln- qlimpf und Schande. In dem Falle, wo es nicht helfen will bei dem ungelenken Manne und nicht zu haben ist ein Zeugnis vom heiligen Geist über Euern redlichen Wandel, so habt Ihr daran mehr denn genug, daß beide. Gott und die Welt, auch Herzog Georgens eigene Leute zeugen, daß Ihr christlich und allein um Christus willen solches tut und leidet. Denn es weiß jedermann, daß Euch Herzog Georg aus keiner andern Ursache halben angreift (sonderlich jetzt, wie alle Welt weiß), denn daß uns Lutherischen der Kaiser Friede gegeben hat, was den elenden Kopf betrübet. Aber haltet fest; Christus hebt an zu regieren und will des Spieles ein Ende machen. In unserm Fürstentum hat's freilich keine Not, daß Euch jemand sollte belästigen oder im Handel hindern, weil unser gnädigster Herr bleibt bei dem Bekenntnis (Augsburg 1530), welches ausgegangen ist; darum bitte ich: gebt dem tollen Kopfe nur gute Worte, wie Ihr denn jetzt auch tut in dieser Supplikation. Hilft's, so hilft's, hilft's nicht, so schadet's nichts, ja, fördert Euch vor Gott. Der wird den Teufel und die Seinen bald finden. Es heißt: „Ich bin ein Gott der Elenden und kenne die Hoffärtigen von ferne." Seid getrost, lieben Freunde, es muß sauer vorherqehen, ehe das Lachen kommt. Ditteia non rnominit, gui non ^ustnvit ainara (Süßes schmeckt nicht, wer nicht' Bitteres gekostet). Gott der Vater stärke Euch durch seinen reichen Geist in Christo Jesu und nicht in Herzog Georgen. Denn Christus lebt und Herzog Georg stirbt: das ist gewiß und wird sich bald be weisen. Amen." Das andere Sendschreiben bezieht sich auf die durch die Beichtzeichen geschaffene Lage der Evangelischen und ist im Ausdrucke noch schärfer und rücksichtsloser als das vorangehende. Es heißt da nach der üblichen Einleitung: „Ich habe vernommen, liebe Freunde, wie etliche unter Euch fragen lasten, ob sie mögen mit gutem Gewißen eine Gestalt des Sakramentes empfahen unter dem Schein als hätten sie beiderlei Gestalt empfangen, damit Eure Obrigkeit möchte zufriedengeftellt werden. Zveil ich aber Euer keinen kenne noch weiß, wie Euer Herz und Gewißen stehet, so ist dies mein bestes Bedenken: Wer dessen berichtet ist und in seinem Gewißen für Gottes Wort und Ordnung hält, daß beiderlei Gestalt recht sel, der soll sich bei Leib und Seele nicht wider solch sein Gewißen, das ist wider Gott, halten. Nun aber Herzog Georg auch sich unterstehet, die Heimlichkeiten Les Gewissens zu erforschen, wäre er wohl wert. Laß man ihn betröge als einen Teufelsapostel, wie man immer tun könnte. Denn er hat solch Forderns nicht Recht noch Fug und sündigt wider Gott und den heiligen Geist. Aber weil wir müßen denken nicht, was andre böse Leute tun, es seien Mörder oder Räuber, sondern was uns zu leiden oder zu tun ge bühret, so will in diesem Falle das Beste sein, daß man trötzlich dem Mörder und Räuber unter die Augen sage: Das will ich tun! Nimmst du mir darum mein Gut und Leib, so hast du es einem andern ge- nommen denn mir, dem du es dürr bezahlen mugt, wie 1. Petr. 4, 5 steht: „Jesus Obristus parntus «Kd fuckicaro vieos ot ruortuos" („Jesus Christus ist bereit, zu richten die Lebendigen und die Toten")...." Der Schluß des am Karfreitag des Jahres 1533 ge schriebenen Briefes betont, daß man dem Teufel „das Kreuz ins Gesicht schlagen und nicht sich pfeifen und hofieren", d. h. mit ihm keine Umstände machen solle usw. Aus diesem Bilde erklärt sich auch zum guten Teile die maßlos starke Ausdrucksweise beider Trostschreiben. Denn der glaubensstarke Luther sah in dem Vorgehen des den Evangelischen feindlich ge sinnten LanLesherrn die Ränke des Satans, dem gegenüber eben kein Zurückweichen, im Gegenteil mutiges Trotzen und Draufgehen die beste Waffe sei. Außerdem darf nicht vergessen werden, daß jene Zeit überhaupt in der Ausdrucksweise eine starke Tonart liebte, zumal im Eeisteskampfe, und von „Europens übertünchter Höflichkeit" noch nicht viel wußte. End lich muß man Luthers eigenste Persönlichkeit nicht außer acht lassen, deßen in herzlicher Teilnahme an dem traurigen Lose der Verjagten überwallendes Mitgefühl die Ausdrücke so wählte und nieLerjchrieb, wie sein Empfinden, gepaart mit Eifer für die gute Sache und Zorn gegen die Bedränger, sie ihm gerade eingab. Uebrigens soll nicht verschwiegen werden, daß letzterwähnter Brief nicht eigenhändig von Luther geschrieben war. aber seine Namensunterschrift trug. Gleichwohl glaubte der dem Reformator durch aus gnädig gesinnte Kurfürst, der von dem Schreiben Kenntnis erhalten hatte, dem übereifrigen Gottes streiter seine unebrerbietigen Ausdrücke gegen Herzog Georg verweisen zu müßen. Es ist eben schwer, den Geist zu dämpfen, und Menschliches, Allzumenschlichcs mischt sich zuweilen gerade in die edelsten und erhabensten Fragen des geistigen und religiösen Streitens hinein. Denn auch die herrlichsten Geistcskümvfer sind und bleiben un vollkommene, irrende Menschenkinder. Als Zeugnisse mutigen Eintretens für die gute Sache bleiben Luthers Trostschreiben an die vertriebenen Leipziger für alle Zeiten bedentungsvoll und tragen dazu bei, deßen uns vertrautes Bild als Glaubensstreite! wie al» Menschen zu vervollständigen und um so werter zu machen.