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Bezugs-Prers Abend-Ausgabe Anzeigen Preit ibr u«tp»ca und P»r»tte durch »nie,« Troaer und Eoedtlrur« Umal tSultch tu» rxui» gebracht « PZ. «ona1l„ 2.7-Mk. vtetteUahkl. Bei unlern Atltalrn u. An» nadmestcuen adarhoit 7S Ps. monatig LLS VIl. vierleljührl. Durch »t, P,ft: tuuer-alb Dr»Nchland» und der deutlchen Ndldnien vterteljähri. S.M Vit., monati. LL> Mk. auejchl. Posrdestellaeld. ferner in Belgien. Dänemark, den Donaustaaten, Italien eurembura, Niederlande, Nor wegen. Oellerreich. Ungarn. Nujgand. Schweden, «chweti u. Spanien. In allen übrigen Staaten nur direkt durch di« Eeschajtsstell« de» Blatte» erhältlich. Da» U«ti>,>»»i Lagedlau «richetn» 2mai täglich. So in u. Aerertag» nur morgens. Abonnemcnlü-Änirahm« Johanni»,all« 8, bei unseren Trägern. Filialen, Spediteuren »red Annahmestellen, iowt« Postämtern und Briefträgern. MpMtr Tageblatt s 146SL lNochi-fchl.« («nchtnufchiu»» t.!i4 6S3 Tkt.-Itnschl.^i4 8ss Amtsblatt -es Aales «n- -es Volizeiamtes Ser Lta-t Leipzig. fiir Inserat« au» Letpjlg und Umgebung die lspaltigePetitretle LPs .bteNeklame- ,ril« > Mt. von au»wärt» Ä> Ps, Neklamrn t^V Mk^ Inserat« von Behörden im amt lichen Teil di« Petit,eile 5« Pi Eeschästsan,eigen mit Plauvorichriftrn u. in der Abendausgabe im Preis« erhöht. Nadatt nach Taris. Beilagegedühr Gesamt auslag« 5 Pik. p Tausend «rkl. Postgebühr. Tetldeilage Höher. FelteNetlt« Aufträge können n»<dt »urüa- gezogen werden Für da» Erscheinen an bestimmten Tagen und Plätzen wird kein« Garantie übernommen. Anzeigen - Unnahm«. Johanni»,uss« 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen» Expeditionen de» In» und Aurland«». Druck uub Vertu, de» U«t»,i,e, Tage blatt«» E. Pol,. Inhabern Paul Nürstem vedaktto» »ab Geschllstsstell«: Iohannisgaüe 8. Haupt-Filiale Dresdea: Eeestrah« 4. l (Telephon 4621). Nr. 2l3 Vonnersma, üen S. tlugull lSll. los. Jahrgang. Die vorliegende Ausgabe umsaßt 6 Setten. Oie Msrokkvkrilis. Die Verhandlungen zwischen den Herren v. Kiderlen und Cambon schreiten nur langsam vorwärts. Es wird immer augenscheinlicher, wie durchaus jalsch die französischen Blätter die Sachlage beurteilten, als sie von den Besprechungen des Reichskanzlers irnd des Staatssekretärs des Auswär tigen mit oem Kaiser eine Beschleunigung der deutsch französischen Aussprache erwarteten. Die Borträge der beiden Leiter der auswärtigen Politik beim Monarchen haben im Gegenteil insofern ein wenig verheissungsvolles neues Moment in die Erörterungen über die Maroktofrage getragen, als dabei bereits die Möglichkeit eines Scheiterns der Ver handlungen ins Auge gefakt wurde. Waren in Kiel, vor der Abfahrt des Kaisers in die nordischen Gewässer, die Richtlinien der deutschen Stellungnahme bei den Besprechungen init dem französischen Botschafter festgelegt worden, so haben Kaiser, Kanzler und Staatssekretär in Swinemünde bereits die Konsequenzen erörtert, die aus dem eventuellen Abbruch der deutsch-französischen Verhandlungen für die deutsche Politik zu ziehen wären. Auch auf französischer Seite scheint man mit der Möglichkeit eines negativen Resultats der jetzigen Verhandlungen zu rechnen, die schon seit einem Monat dauern und nicht einmal in den Hauptfragen ein auch nur annähernd greifbares Ergebnis gezeitigt haben. Wenigstens wird im „Temps" und anderen der französischen Regierung nahestehenden Blättern bereits Stimmung für eine internationale Kon ferenz zu machen gesucht. Die französische Regie rung ha: allerdings bisher in Berlin einen dahingehenden Wunsch nicht zum Ausdruck gebracht. Ueder die Stimmung der französischen Kolonial- prege schreibt uns unser Pariser t-.-Mitarbeiter: Oie unentvehrttüie Konferenz. Paris, 2. August. Der „Temps", das große Kc-lonialblatt, macht heute mit Entschiedenheit Front gegen die Fortdauer der deutsch-französischen Ver handlungen. Eine scharfe und drohende Kam pagne soll beginnen, bestimmt das Werk der Diplo maten zu durchkreuzen. Es ist bedauerlich, daß w. eder einmal die Geschäftsinteressen gewisser Poli tiker gegen die Friccenswünsche zweier großer Länder ausgespielt werden sollen. Es ist kein Ge heimnis, welche Enttäuschungen gewisse Leute an der Kongo-Kamerun-Grenze in den letzten Jahren erlebten: eni großer Rapport der Deputierten lämmer nennt die Männer mit Namen, die vom Staate hohe Entschädigungssummen erwarteten und nicht erhielten, die beim Beginn der Paris-Berliner Verhandlungen eine neue Hoffnung erstrahlen Lunt es rmgeht ihr Leiner. 20 Roman von Joachim von Dürow. (NakhocuN viibvien.) „Weiter, Komtesse!" „Sie sind jetzt auf der Lauer, daß es gut kommen müsse?" fragte sie rasch. „Ich hoffe, ja!" „Delikt nicht dran", klang es gelassen, „wir bleiben aus dem nämlichen dürren Wege. Kleine Freuden blümchen finden srch nur ab und zu. Nachdem also die Klassen absolviert waren, mutzte ich sofort ins Seminar, um mir als Lehrerin mein Brot ver dienen zu können. Tie selige Zeit nach der Schule, in der die Fesseln fallen, habe ich nicht gekannt. Als das Examen, an dessen Resultat sich niemand freute, weil niemand dazu vorhanden war, glücklich absol viert war, waren meine Mittel bis aus wenige Mark erschöpft, und ich war froh, daß sich mir sofort zwei Stellen boten, bei eenen ick nur zuzu^rsisen brauchte. Die eine war iü einem Hause in der Stadt, in der ich all die Jahre gewesen, die andere war auf dem Lande; — Volksschullehrerin auf einem Dorfe. — Ich entschied mich sofort für die letztere. Ich war dort frei, hatte mein eigenes kleines Häuschen, konnrs lachen oder weinen außerhalb der Stunden, ohne jemand Rechenschaft abzulegen. Das schien mir ein großes, großes Glück! An einem richtigen Frühlingstage kam ich hin. Zuerst wollte ich alles an mein Herz nehmen, das H. ll- griin unter meinen Füßen und über mir das an spruchsvolle Blau; den träge hinfließenden Fluß, die braunen, blanken Knospen und die Insekten mit ihrem noch schüchtern einsetzenden Zirpen. Ich hätte der Weite die Arme entgeqenbreiten mögen, tat es viel- leickst auch —. Dann kam so'n verfrorner Frühlingstag, an dem die Spatzen aufgeplustert saßen, und an dem der Mensch sich nach dem warmen Ofen umsah. Zn meinem Stübchen aber war nicht die Spur von einem Ofen, trotzdem stellenweise das Wasser an den Wän den herablief; „den möge sich das Fräulein nur selber setzen lassen", hieß es; „ja, wenn s ein Herr Lehrer gewesen wäre!" Ein Kanarienhahn kostete fünf Mark in dem Dorfe, cm Weibchen nur fünfzig Pfennig, und das war der Maßstab. Das Frieren nahm ja mit dem Sommer ein Ende; schlimmer war noch das Hungern." „Aber, Komtesse!" „Jawohl, hungern — und zwar feste! Die Selbstbeköstigung war in dem Kontrakt ausgemacht, eine Bedienung außerhalb der Morgenstunden hatte ich nicht. Wenn nun die siebzig Kinder gegangen waren, mußte ich fix aufs Rad, um mir aus dem nächsten Dorfe meinen Mittag zusammenzuschaffen. Das Kotelett und zum Abend einen Hering, an der Lenkstange befestigt, ging es dann wieder zurück, um das Kotelet* samt den Kartoffeln dazu zu bereiten. sahen, daher sehr für die Verhandlungen ein genommen schienen, und dann plötzlich ab schwenkten. ... Diese gewissen Leute «lecken hinter der Kampagne, die erneut eingesetzi. Es wird sich zeigen, ob Ministerpräsident Caillaux Rückgrat genug besitzt, um den wturrn vorübergehen zu lassen — lei der befürchten wir aber, daß die Verhandlungen sehr erschwert werden dürften. Es wird Herrn v. Kiderlen - Wächter nichts übrigbleiben, als Herrn Cambon im vornherein zu er klären, was die Vorbedingung der heure vom „Temps" mit solchem Geschrei verlangten neuen Konferenz der Algeciras - Kontrahenten jein würde: Tatsächliche Rückkehr zu den Stipulationen des Vertrags. Entfernung der französischen und spani schen Soldaten aus dem Innern und aus den Hafen städten, völlige Räumung des Schaujalands, genaue geographische Festsetzung der Grenzzone Marokkos, Beschränkung der Jnstruktorenzahl, Einstellung der drahrlojen Telegraphie und militärischen Bahnen, strenge internationale Kontrolle über alle fiskalischen Zoll- und Bauten-Angelegenheiten uiw. Ohne das vorherige Einverständnis Frankreichs mit diesen Prinzipien von Algeciras keine Wiederholung der Konserenz. Erst wenn hierüber in Paris und auch in London Klarheit herricht, wird die Kampagne der Kolonialgejchästsmänner wirkungslos verpusten. Man lese einige Argumente des „Temps": „Es ist unzulässig, daß die deuuch-französische Unterhal tung aus der halbeingestandenen Basis einer teil weisen Auslieferung des Kongos unter den Be dingungen, die sie seit vierzehn Tagen charakterisieren, ohne mögliches Ende fortgesetzt werde. Deutsch land will tundtun, daß es kecne Eile hat. Frank reich will sein Spiel nicht verbessern, indem es sich dieiem Spiel leiht. Wenn die deutsch-französische Auseinandersetzung zu zweien im Rahmen des Vertrags von 1!)o9 und der Algeciras -Akte ver blieben wäre, wäre sie in jeder Hinsicht gerechtfer tigt gewesen. Das ist aber nicht der Fall. Deutsch land jagt uns: „Ich kenne diese Verträge nicht mehr. Ich biete Ihnen Maroktv zur Annexion an Wlr reden nicht mehr vom Sultan oder von Inte grität. Nehmen Sie das Geschenk und bezahlen Sie mich zum Preise, den ich festgesetzt habe." Diese Situation, die ansangs nicht so klar feststand, springt heute in die Augen. Das erlegt der französischen Regierung eine gebieterische Pflicht auf. Deutschland will den Algcciras- Bertrag vernichten. Um ihn vernichten zu können, dazu bedarf Deutschland Frankreichs Mitschuld. Man kann es aber nicht laut genug verkünden, daß diese Mitschuld, wenn wir uns dazu hergäben, die schlimmste Düpene wäre. Deutschland mag secne Verpflichtungen zerreißen, wenn es ihm beliebt und wenn es glaubt, daß seine Interessen ihm dies ge bieten. Die Unterhaltung so fortzuietzen, wie sie jetzt geführt wird, wäre unentschuldbarer Wahn sinn. Auf dem Terrain, auf das uns Deutichland fortzuziehen sucht, würden wir all unsere Waffen aus unseren Händen fallen sehen: zuerst würde uns der Sultan entschlüpfen, den wir zu Unrecht ver nachlässigen, dann Europa, das wir mit Deutschlands Einverständnis 1906 den Entscheidungen zugejellten und das wir heute ignorieren. Man würde uns vielleicht entschuldigen, unsere Verpflichtungen zu vergessen, wenn wir dabei gewinnen würden. (Ahall Sie verletzen, um einerseits die Auslieferung des ganzen oder halben Kongos möglich u machen und andererseits ein neues deutsches Ver sprechen volitischer Verzichtleistung in Marokko zu erkalten, das hieße das Lächerliche zum Ungehörigen gesellen. Man sage uns nicht, daß man nicht ohne <-toß die begonnene Unterhaltung einstellen könne. Frankreich unterhandelte mit Deutschland seit Anfang 1905, als der Sultan eine internationale Konferenz verlangte: daraus entstand kein Krieg. lDer Sultan folgte damals einer deutschen uud sogar französischen Aufforderung! D. Red.) Frankreich kann heute aus dem ersten Gedankenaustausch schließen, daß eine zweite Konferenz nötig ist. Es kann dies nicht nur, es muß. Einer Verletzung der Algeciras-Akte an geklagt, schuldet es nicht nur Deutschland, sondern allen seine Verteidigung. Wenn die französische Re gierung jetzt noch das Schweigen iortsetzt, beunruhigt uns das. Richt öffentlich zu versichern, daß die Al- geciras-Akte noch immer in Kraft sei s!!!). ohne die Gegenwart der andern Unterzeichner die Liqui dation vorzunehmen, sich in verdächtigem Alleinsein kompromittieren zu lassen, das hieße einen un berechenbaren Fehler begehen. Wir fürchten, daß Herr Caillaux und seine Kollegen aus übertriebener Sorge und aus ver schiedenen Gründen sich zur schlimmsten aller Verhandlungen mit Deutschland sortreißen lassen." Und' in gesperrtem Druck schließt das Blatt mit der Warnung: „nicht in der tollkühnen, unkorrekten und verderblichen Haltung zu veiharren". „Europa muß an der Debatte teilnehmen". Zum Lllendshnunglück bei Jüterbog. Das gestrige Eisenbahnunglück bei Jüterbog hat nun noch ein viertes Opfer gefordert, der schwer verwundete Heizer des D-Zuges 47 ist seinen Ver letzungen erlegen. Ueber die Aufräumungs arbeiten liegt folgender Bericht vor, der die Schwere des Unglücks deutlich charakterisiert: Das Telegraphengestänge war um gerissen, die Drähte lagen zerrissen und spiral förmig aufgerollt neben dem Bahndamm. Dadurch war jede telegraphische Verständigung mit den Nachbarorten gestört. Beamte des Bahnhofs Niedergörsdorf eilten der Unfallstelle zu, und andere begaben sich nach einem mehrere tausend Meter von der Unsallstelle entfernt belegeneu Gehöft, das tele phonisch mit Jüterbog verbunden ist. Von dort aus wurde nun sofort ein Hilfszug mit zahlreichen Acrzten, Krankenwärtern und Arbeitern nach der Unfallstelle abgelassen, während wenige Minuten später die Station Wittenberg gleichfalls ihren Hilfszug nach der Unfallstelle dirigierte. Kegen drei Uhr nachmittags langten beide Züge kurz nach einander dort an. Rasch wurde nun an üie Rettungssrvetten gegangen, an denen sich später noch eine Abteilung der Feldartillerie-Schießschule, die gerade die Unfall stelle passierte, beteiligte. Nach und nach langten in Wagen und Eilmärschen auch die Sanitätskolonnen und Feuerwehren der benachbarten Orte an. Zn sengender Sonnenglut arbeiteten nun viele hundert geschäftige Hände mit Feuereifer, um etwa unter den Trümmern liegende Personen zu bergen. Der erste, der aus den Trümmern herausgezogen wurde, war der Lokomotivführer, dessen Leiche gräßlich verstümmelt war. Bald darauf stieß man auf die Leiche des Packmeisters, die gleichfalls bis zur Unkenntlichkeit ent- stellt war. Trotz der lauten Axtschläge und des starken Krachens des brechenden Holzes vernahmen die Rettungsmannschaften plötzlich zu ihrem Schrecken leises Wimmern aus dem Trümmerhaufen. Mit verdoppeltem Eifer wurde fortgearbeitet, und wenige Minuten später war der Körper Les Heizers herausgeholt. Der Unglückliche lebte und war trotz der schrecklichen Verletzungen oei Bewutzt- lein. Sein ganzer Körper war über und über mit Brandwunden bedeckt, die von dem ausgeströmtcn Dampf der Maschine herrührten. Unter üen Händen der Aerzte verlor er wieder die Besinnung. Nasch wuroe er in Len Sanitätswagen gebettet und nach Jüterbog gebracht, wo er Auf nahme im Johanniter-Krankenhause sand. Wenige Minuten nach seiner Einlieferung in das .Kranken haus erlag er seinen schweren Ver letzungen, ohne das Bewußtsein wiedererlangt au haben. Auf der Unfallstelle wurden die Rcttungs- .^eiien inzwischen fortgesetzt, und bald war auch die Leiche des Zugführers gefunden. Die Trümmer wurden nun noch einmal sorgfältig durch sucht, Verletzte oder Tote aber nicht mehr entdeckt. An andern Stellen wurden während Lieser Ar beiten die Verletzten verbunden. Eine in Wiesbaden wohnende Dame, die bereits krank den Zug in Leip zig bestiegen hatte, um nach Berlin zu fahren, wo sie sich einer schweren Operation unterziehen wollte, hatte einen schweren Nervenchot erlitten, daß die Aerzte sich längere Zeit um sie bemühen mußten, ehe sie wieder jo weit hergestellr war, um die Weiter reise antreten zu tonnen. Zehn Passagiere, die aber nur ganz leichte Hautabschürfungen oder nur Beulen üavongetragen hatten, wurden gleichfalls verbunden. Sämtliche Reisenden wurden dann später in einem -ixtrazuge erst nach Jüterbog und dann mit den fahr planmäßigen Zügen weiter nach Berlin befördert. Ehe das Mittag fertig war, kamen die Kinder meistens wieder. Auch gab es Tage, an denen man, an Leib und Seele müde, überhaupt auf ein warmes Essen verzichtete. Zuweilen schenkte irgend eine der Bauernfrauen mir ein Huhn oder eine Gans. Unter den Dank mischte sich die schwere Sorge, wo sich jemand finden würde, der das Umbriugen übernahm. Und nun das Braten! Ich fühlte mich so unerfahren, daß es mir unlollegialijch dünkte, gegen die arme Gans vor zugehen. Den Ofen in meinem Zimmer konnte ich nur durch Privatunterricht mir erschwingen, und wenn ich dann müde und Loch schlaflos von meinem Lager aus in Len Mond starrte, war mein «llerschlimmster Feind der Zweifel an mir selbst. Leise, leise kroch es an mich beran und war fest geworden, ehe es über eine Lippe gekommen: Man hatte über mich bestimmt; was ich als Beruf ergriffen, war kein Nachgeben eines mneren Triebes. Ich tat meine Pflicht, aber ich tat sie ohne Freude. — Ich mußte leben von ihr. Mitten in diese Zeit hinein fiel eine kleine Epi sode, die mich aus all meinen Nöten mit einem Schlage hätte hsrausbringcn können: Ich hatte Ge legenheit, mich zu verheiraten." „Nun — und?" „Ich konnte es nicht, wahrhaftig, ich konnte es nicht! Er war ein junger Gutsbesitzer, „ein hübscher Mann", wie Lie Leute sagten, mit guten, etwas vor stehenden, blauen Augen, rotbäckig, semmelblond und leicht protzig. Er war so lächerlich in seinem Prahlen. Sein Acker, ja das war ein Acker und seine Pferde, ja, das waren Pferde, und sein Schmachten, ja, das war ein Schmachten! Dunkelumrahmte, mandel förmige Augen mögen elegisch blicken! Hellbewim» perte, wasserblaue eignen sich weniger dafür. — Mit diesem Manne als Folie habe ich mir mein Genre eigentlich erst recht klar gemacht: So'n schlank gebauter, häßlicher Streber, bei dem die Geistesblitze in den Augen alle Unschönheit zudeckcn; mit einem Zug gutmütigen Spottes um den Mund, der stand mit einemmal als Gegenstück vor meiner Seele.' „Und diesem Phantom verdankte der Biedere einen Korb?" „Ja. Trotz des schweren, schweren Winters. Daß die Schuloisitation noch so ausfiel, wie sie ausgefallen ist, habe ich oft nicht verstehen können. Es war der eiserne Wille, der den mittlerweile immer schwächer werdenden Körper zwang. — Oft wurde ich mitten in der Stunde ohnmächtig. „Hochgradige Blut armut", sagte der Arzt, „Ueberanstrengung von Geist und Körper; mangelhafte Ernährung!" Wollen Sie mir etwas versprechen, Herr von Ostheim?" „Ich verspreche nie etwas Uubeschenes", sagte er lächelnd. „Sie könnten es schon, insofern es für Sie nichts Großes ist wohl aber für Ihren Nebenmenjchen. Ich hörte Sie sagen, daß bei Ihnen in Moosbach eine Kindergärtnerin installiert werden jolle wie?" „Za; nachdem sich zwei oder drei Kinder verbrannt und verbrüht, während die Eltern auf Arbeit waren. Solche Regungen des Humanismus warten ja immer erst auf Tatsachen, ehe sie selbst zur Tat werden, leider Gottes!" „Nun, so lassen Sie mich für das arme Wurm eine Lanze brechen; neben gesunder Wohnung muß dem Mädchen die Mittagsmahlzeit verabreicht werden, ohne daß sie .hre Erholungsstunde dranzu geben braucht. Jedem Arbeiter wird auch sein Töpfchen warmes Essen zugetragen." „Natürlich! Ich will dies Agnete zur Pflicht machen." „Agnete —", sagte Wanda tonlos. „Genügt das nicht?" „Nein. Jede Pflicht, die man übernimmt, will selbst ausgeführt werden. Versprechen Sie mir, der Sie, wie ich es vernommen habe, Ihren Leuten nicht nur der Herr, sondern auch der Versorger sein wollen, auch die Kindergärtnerin in Ihr Interesse einzu flechten!" Sie streckte Fred zagend die Hand hin, und er er griff diese mit festem, gut tuendem Druck. Wie ist diese Hand jchön, dachte er. Diese schlanken, kühlen Finger! „Selbstredend machten Sie bald ein Ende in dem Dorfe?" sagte er leicht verwirrt. „Ja. Ich oder vielleicht meine Nerven Hütten dem Lewußstein: Du bist hier in einer Stelle, der du in Kräften nicht gewachsen bist, lein zweites Jahr standgehallrn. Auf Lie dunkle Zeit kam übrigens eine belle — der kurze Glanz in meinem Leden! Eine Dame aus dem Nachöargut meines Dorfes, eine Gräfin S., hatte mich ausersehen, sie auf einer See reise zu begleiten. Nun bin ich in bezug aufs Reisen geradezu fanatisch, wissen Sie! Wenn man mir als Kind davon sprach, war es, als hielte man dem Raben oder der Dohle einen blanken Gegenstand bin. Ich Hütte alles an mich reißen mögen, was mir an Reijebüchcrn in die Hand siel. Und nun das Ziel, das mir winkte! Kein geringeres als Australien, Sydney, wo einer der Söhne der Gräfin, der hier entgleist war. wieder emporgekommen und ein kauf männisches Geschäft gegründet hatte. Diese Reise hat meine Nerven wieder zurechtgeflickt und die Riffe in meinem Innern auch so leidlich. Meine Gräfin war kein Engel; sie hatte ihre Launen; oftmals, wenn ich in ihre Kabine trat, um zu fragen, wie fie qeschlafen habe, erhielt ich die Antwort: „Schlecht, in der Aussicht, wieder einen Tag mit Ihnen verleben zu müssen." Trotzdem war sie, wie ich es bald heraus fand. eine von den Braven, die da meinen, sie müßten sich jeder Weichheit schämen. Mit Hilfe einer ge wissen „Wurschtigkeit", die ich mir allmählich zu eigen machte, entdeckte ich dort drüben ein gewisses Talenr zum Ausschlagen in mir. Ehe es sich jedoch Bahn gebrochen, kam eine Depesche, die die Gräfin an das Krankenbett einer ihrer Töchter zurückrief. In einer kleinen Zeit befanden wir uns wieder auf dem Schiffe. Gelegentlich dieser Odyssee habe ich das Groß artigste erlebt, was mir in meinem armen Leben bis jetzt geworden. Wir hatten nämlich einen richtigen Seesturm. Ich sage Ihnen, einen Sturm. Er war das Hohelied der Natur für mich. Ich war nicht seekrank, ich war wie gefeit gegen Furcht. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir den anderen gegenüber herz los vorzukommcn, ich fühlte mich so losgelöst, so be freit, wie nie im Leben! Dabei ein Gedanke den andern überstürzend, wie die LUellen übereinander sich stürzten! Mitten in diesem entfesselten Brausen und Toben um mich herum kam mir plötzlich ein Bild, von dem andere Mädchen vielleicht nicht sprechen würden. Bei dem Standpunkt des gänzlichen Ausgeschlossenseins, auf dem ich nach dieser Richtung hin aber stehe, frage ich nicht danach. Also: Mitten in dem Brausen der Wogen packte mich der Gedanke: „Könntest du so deine Hochzeitsreise machen!" Alle Schrecken würden schwinden, nur Las Große würde bleiben: und schließlich, wenn es hätte sein müssen, dann aus der Fülle des Glückes heraus, ehe die All tagsmiseren uns mit kaltem Flügel gestreift, hinunter in den tosenden Gischt — chne Bangen — ich mit ihm." „Mit dem Häßlichen, Schlanken, Strebenden?" ..Ja!" — „Direkt nach dem Seesturm kam ich zu Meiers auck> in einen Sturm. So viel kleine Meiers da waren, so viel Zünglein habe ich gegen mich heraus gestreckt gesehen, ohne daß Mutter Meier diesen Zünglein gewehrt hätte. Sie war etwas halb in der Bildung, und halbgebildete Leute verziehen ihre Kinder meistens. Non den Meiers kam ich ins Haus Rütenbach usw. usw. usw." „Das darf aber nicht so weitergehen." „Die Galerie wird geschlossen", sagte der Beamte ein wenig mürrisch, und schweigend ständen sic auf — die Zwei. „Wo gehen Sie denn nun hin, Komtesse?" fragte Fred, als sie den Zwinger durchschritten. „Zu Tische nach Hause und dann gleich wieder fort. Ich muß ja meinen Tag genießen." „Wo denn weiter?" „Vermutlich in den Großen Garten. Adieu. Herr von Ostheim." Er sah ihr nach, bis sie um Lie Ecke gebogen war, und wieder kam ihm Las Empfinden: „Du bist ihr begegnet — irgendwo, wohin die Erinnerung nicht reicht!" Es quälte ihn förmlich, er suchte es abzu schütteln: und doch war es wie etwas ans einer anderen Sphäre, dem er sich hingeben mußte. (Fortsetzung in der Morgenausgabe.)