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Amtsblatt Les Rates und des Rolizeiarrrtes der Ltadt Lemzig. Anzeigen-Preis lür Inserate au« Leipzig und Umgebung die ögespattrn« 80 mm breit« Petitzeil, LS di« 74 m»a breit« Reklamegeil« l von autwärt« ltU Reklamen l.2l) ulkt Inserat« von Bebärdcn im amtlich«» Deil di, 74 mm breite Petitzeil« «0 SeschLitianzeigen mit Ptatzporschrtften »n» in der Abendausgabe >m Preis« erhöht. Rabatt nach Daris. BeilaaegrbLhr S p. Dausen» egN. Postgebühr. Iesterteilte Sufrräg« kännen mch» zurück gezogen werden, flür da« Erscheinen an bestimmten Tagen und Plätzen wird kein» Äarantt« übernommen. »nzeigen-Annahme r Nugusto-platz 8^ b«i sämtlichen Filialen u. allen Annoncen, itlpebltlonen de« In» und Aurlande«. Panpt-Filiale lverNnt Tart Duncker, »erzogt. Bahr. Hosbuch» Handlung, Lützowstiatze IL (Telephon VI, Nr. 4M3). Haupt-Filiale LreSdenr Seestrohe «, l (Telephon 4S2U, Freltsg, üen l3. Mal l9!0. 104. Jahrgang. Lanütagslchlutz. Dresden, 13. Mai. Der Landtag ist heute mittag unter den üblichen Zeremonien geschlossen worden. Nachdem vormittags in beiden Kammern noch die letzten Arbeiten er ledigt worden waren, fand mittags 12 Uhr ein feier licher Gottesdienst in der Frauenkirche statt, dem Mitglieder beider Kammern sowie die Minister bei wohnten. Oberhofprediger v. Ackermann hielt die Predigt. Mittags 2 Uhr, also eine Stunde nach der sonst üblichen Zeit, erfolgte dann im Königlichen Resi denzschlosse die feierliche Verabschiedung des Landtags durch den König. Eine Viertelstunde vorher ver sammelten sich im Stucksaale der zweiten Etage die Minister, die Herren vom königlichen großen Dienst sowie die Herren der ersten und der zweiten Klaffe der Hofrangordnung und die nicht im Dienste befind lichen Kammerherren, um dem Könige im Zuge nach dem Throne und von da zurück vorzutreten. Die Herren vom diplomatischen Korps, am Kö niglichen Hofe vorgestellte fremde Kavaliere sowie zahlreiche andere Herren vom Zivil und Militär ver sammelten sich von 121/2 Uhr an in den Paradesälen des Schlaffes, und zwar in voller Gala, jede Trauer war für diesen Tag abgelegt. Im Vestibül des Treppenhauses war eine Ab teilung des Kgl. Schützenregiments Nr. 108 und im Vorzimmer zur Französischen Galerie eine Ehren wache des Kgl. Eardereiterregiments angetreten, die den ankommenden Herren die militärischen Ehren bezeigungen erwies. Auf der großen Haupttreppe standen Kgl. Livreediener in Gala. Die Mitglieder der beiden Kammern nahmen im Thronsaale Aufstellung, und zwar das Direktorium und die Mitglieder der Ersten Kammer vor dem Throne rechts, die der Zweiten Kammer links. Eben dort stellten sich auch die Diplomaten und die frem den Kavaliere auf. Im Turmzimmer wurden den Landtagsmitgliedern von einer weiteren Ehrenwache des Eardereiterregiments beim Passieren nochmals die militärischen Ehren erwiesen. Nachdem alle Herren ihre Plätze eingenommen halten, erschien der König, der Eeneralsunisorm mir dem grünen Bande des Ordens der Rauten krone trug, mit dem Kronprinzen und dem Prinzen Johann Ee 0 rg im Stucksaale und begab sich unter Vortritt und Geleit der Minister, der Kgl. Kammerhcrren und des gesamten königlichen großen Dienstes und des prinzlichen Dienstes in feierlichem Zuge, dem die Kgl. Leibpagen voranschritten, in den Thronsaal. Als der Zug das Turmzimmer passierte, blies das dort aufgestellte Trompeterkorps der Eardereiter den Parademarsch, und beim Eintritt des Königs in den Thronsaal brachte der Präsident der Ersten Kammer, Oberstmarschall Graf Vitzthum von Eckstädt, ein dreifaches Hoch auf den König aus. Der König nahm auf dem Throne Platz, rechts und links von ihm stellten sich der Kronprinz und Prinz Johann Georg auf. Nachdem der König den Helm aufgesetzt, überreichte der vorsitzende Minister im Eesamtministerium, Finanzminister Dr. v. Rü tz e r, die Thronrede, die der König hierauf verlas. Sie lautet: Meine Herren Stände! Indem ich Sie nach einer arbeitsreichen Tagung nochmals um mich versammle, stelle ich mit Befriedi gung fest, daß trotz aller bei den Beratungen zutage getretenen politischen und wirtschaftlichen Gegensätze meine Regierung bei Ihnen dem ernsten Willen begegnet ist, sich mit mir über die Lösung der Aufgaben zum Wohle des Landes zu verständigen. Als das Ergebnis Ihrer Arbeit begrüße ich es, daß die Mehrheit der Ständeversammlung meiner Regierung diejenigen Mittel bewilligt hat, die 'm Haushaltsetat zur Erfüllung der staatlichen Be dürfnisse angefordert wurden. Ebenso gereicht es mir zur Genugtuung, daß auch von den übrigen Vorlagen meiner Regierung, insbesondere die wichtigen Gesetze über das Bergwesen und die Reform der Brandversicherungs anstalt und die Bildung von Gemeinde verbänden, sowie die das Schulwesen an gehenden und einige andere Gesetzentwürfe, nach eingehender Beratung eine Fassung gefunden haben, welche den Absichten meiner Regierung ent spricht. Die Einführung von Sicherheitsmännern beim Bergbau soll, so hoffe ich, dazu beitragen, die dem Leben und der Gesundheit der Bergarbeiter drohenden Gefahren wirksam zu bekämpfen. Das neu» Bcrgschadenrecht wird den Grundeigentümern einen stärkeren Rechtsschutz gegen die nachteilige Einwirkung des Bergbaubetriebes auf die Ober fläche und deren Anlagen gewähren als bisher, und die einheitliche Fassung der gesamten Berg gesetzgebung wird allen, die dieses Sondergesetz an zuwenden haben, seine Handhabung wesentlich er leichtern. Das Gesetz, das die Landesbrandverficherungs- anstalt auf die Grundlage einer weitergehen den Selbstverwaltung gestellt hat, wird hoffentlich dazu dienen, die fernere günstige Ent wickelung der Anstalt zum Nutzen des Landes zu fördern und in dieser Beziehung die mannigfachen Wünsche der Bevölkerung zu befriedigen. Von dem Gesetz über Eemeindeverbände darf er wartet werden, daß es dem Geiste unserer Zeit Rechnung tragend den Zusammen schluß insbesondere der wirtschaftlich schwächeren Gemeinden fördern und die Eemeindeselbstverwal- tung stärken wird. Das Gesetz über das höhere Mädchenbildungs- wesen stellt auch die Mädchenschulen aus gesetzliche Grundlage und eröffnet in einem den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechenden Umfange neue Wege zur Ausbildung des weiblichen Ge schlechts. Das Gesetz über die Nadelarbeits- und sonstigen Fachlehrerinnen an Volksschulen bringt diesen Lehrerinnen eine wesentliche Verbesserung ihrer Anstellungsverhältniffe und bedeutet einen allgemein begrüßten Fortschritt in der Ausgestal tung dieses wichtigen Unterrichtszweiges. Das unter erfreulicher Zurückstellung mancher örtlichen Interessen einmütig angenommene Gesetz über die veränderten Schuldotationen stellt weitere erhebliche Mittel zur Milderung der Belastung der weniger leistungsfähigen Gemeinden bereit und wird, wie ich hoffe, überall die rechte Würdigung seitens der Schulgemeinden finden. Daß ungeachtet der Spannung des Etats Mittel für eine erneute Erhöhung der Löhne des größten Teils der Arbeiter bei der Staatseisenbahnverwal tung bereitgestellt werden konnten, erfüllt mich mit Genugtuung. Durch die Bewilligung des Aufwandes für den Umbau der Bühne des Opernhauses haben Sie diesem Kunstinstitut seine hervorragende Stellung in Deutschland auch in bühnentechnischer Hinsicht für die Zukunft gesichert. Ihr Wunsch, den unbemittelten Schichten der Bevölkerung durch Veranstaltung von Volksvorstellungen den Besuch des Instituts zu erleichtern, entspricht meiner eigenen Willensmeinung. Alle aus der Mitte des Landtages in großer Fülle hervorgegangenen Anregungen in beiden Ständekammern zur Durchberatung zu bringen, ist nicht möglich gewesen. Meine Regie rung wird in Erwägung ziehen, inwie weit diese Anregungen für spätere gesetzgeberische Arbeiten verwertbar sind. Nach der allgemeinen Anspannung, die Ihre Beratungen namentlich in der letzten Zeit zur Folge gehabt haben, werden Sie das berech tigte Bedürfnis empfinden, an den heimischen Herd zurückzukehren und Ihren eigenen Geschäften in Industrie und Landwirtschaft, Handel und Ge werbe nachzugehen. So entlaste ich Sie denn mit dem aufrichtigen Wunsche, daßdieErgebnisseJhrerArbeit dem Lande zum Segen gereichen möchten. Nach Verlesung der Thronrede gab der König diese an Minister Dr. v. Rüger zurück, und der vor tragende Rat im Gesamtministerium, Geh. Rat Dr. Schroeder, verlas nun den in 8 119 der Verfassung vorgesehenen Landtagsabschied, der die definitiven Resultate des Land tags zusammengefaßt enthält. Hierauf trat Minister Dr. v. R U g e r vor die Stufen des Thrones und erklärte auf Befehl des Königs den 33. ordent lichen Landtag der Monarchie für geschlossen. Der König erhob sich vom Throne, grüßte wie bei der Ankunft die Versammlung durch Verneigen und verließ dann im gleichen feierlichen Zuge wie vorher den Saal. Beim Verlassen brachte der Präsident der Zweiten Kammer, Dr. Vogel, ein dreifaches Hoch auf den König aus. Damit war die Feier beendet. Nachmittags 7 Uhr findet im Königlichen Resi- denzschloste die übliche Landtagstafel statt, bei der der König den ersten Trinkspruch aus bringt mit den Worten: „Auf des Landes Wohl und aller getreuen Stände." Der Präsident der Ersten Kammer erwidert nach einiger Zeit den Toast, indem er trinkt „auf das Wohl Sr. Majestät des Königs!", und der Präsident der Zweiten Kammer fordert schließlich auf, zu trinken „auf das Wohl aller Mit glieder des königlichen Hauses!" K Die Schlußsitzungen beider Kammern. ?. Dresden, 13. Mai. (Priv.-Tel.) In beiden Kanimern Les Landtages fanden heute vormittag die Schlußsitzungen statt. Das letzte Kapitel des Etats, Rescrvefon ds, wurde bewilligt und alsdann die Eesamtabstimmung über Etat und Finanzgesetz vorgenommen. Gegen das Finanzgesetz, worin die gesamten Ein nahmen und Ausgaben des ordentlichen Etats für jedes der Jahre 1910 und 1911 auf 369 079 363 -4t, wozu noch zu außerordentlichen Staatszwecken für diese beiden Jahre zusammen 44 267 400 -4t treten, stimmten die Sozialdemokraten. Abg. Frähdorf erklärte namens seiner Fraktion, daß die Sozialdemokraten bei jedem Etatskapitel ihre Willensmeinung zum Ausdruck gebracht hätten, allen Ausgaben für Kulturzwecke hatten sie zuge stimmt, eine Zustimmung zum Finanzgesetz würde für sie aber nicht nur eine vrinzipielle, sondern auch eine formelle Anerkennung oer Politik des bürgerlichen Klassenstaates bedeuten, und deshalb müßten sie gegen das Finanzgesetz stimmen. Es wurde dann dieStändischeSchrift über Etat und Finanzgesetz verlesen und genehmigt und nach einer Pause auch das Königliche Akzep tationsdekret zur Kenntnis genommen. Nach dem üblichen Austausch von Dankessagungen zwischen dem Präsidium und der Kammer schloß der Präsident in beiden Kammern die Sitzung mit einem Hoch auf König, Vaterland und Verfassung. — Bemerkenswert war, daß in der Ersten Kammer, wo Finanzminister Dr. v. Rüger namens der Regierung dankte, er am Schluffe sagte: In seinem Alter sei es zwar etwas kühn, von einem Wiedersehen zu sprechen, aber gleichwohl rufe er den Herren ein „Aus Wiedersehen!" zu. Amiens. Ein französisches Städtebild. Von Carl Lahm. „Okv sarvt Hlartirr <Iivi8a kon rvante-I 8n I'an trois c-sient, a^'onts tre-nto sepl." So steht aur einer Gedenkplatte am Justizpalast in Amiens zu lesen. Man sieht zu den zwei Zeilen auf und freut sich, daß dies Altfranzösisch so leicht verständlich ist. Freilich wurde das Erinnerungs zeichen nicht von Zeitgenossen des mantelteilenden heiligen Martin hier angebracht: dies Haus oer Justitia stammt aus den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts. Auch ist's wahrscheinlich nur eine Legende, daß Martin von Tours gerade rv Amiens den bewußten armen Nackten anaetrosfen habe: „nichts Gewisses weiß man nicht" darüber. Doch scheint keine zweite Stadt Amiens den Ruhm der Mantelteilung streitig zu machen. Ebensowenig wird angezweifelt, daß es schon ganz im Anfang des dritten Jahrhunderts seinem ersten Bischof, dem heiligen Firmin, das Haupt abschlagen ließ, als die heid nischen Götter noch einmal im altgallischen Hauvtort Samarobrive, dem späteren römischen Ambiani, die Oberhand erlangten. Peter der Einsiedler, der Oiett Io veut!" rufende Kreuzzügler, stammt aus Amiens — und wie viele Ereignisse und Legenden knüpfen sich noch an den im dreizehnten Jahrhundert begonnenen Bau der größten Kathedrale Frankreichs die zu besitzen die Stadt an der Somme sich rühmt! Dieser Kirche zuliebe lohnt es sich sehr, auf dem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt nördlich von Paris kurzen Halt zu machen. Wenn man das Labyrinth der Bahnhofshallen verkästen hat, gähnt einem zwar die schiere Endlosigkeit reiner, öder unL charakterloser Provinzstadtstraßen entgegen, in die nur der schmchtiae Draht der elektrischen Hochlettung für unbenützte Trambahnen eine Ahnung von moderner Hochkultur bringt, jedoch einmal in dre winklige Alt stadt geraten, hat das Auge zu tun. Da drücken sich interessante Häuschen innig aneinander, die bis ins fünfzebnte und sechzehnte Jahrhundert zurück- datieren, und hübsche, freilich zumeist dem Verfall überlassene Renaiffancedekoration aufweisen. Da steht auch das auf Kosten Francois I. erbaute „Logis du roi", in dem weder er noch je ein anderer .König logiert, ferner sehr verborgen in einem Sack- qsibchen das „Hotel", wo die schöne Gabrielle d Estrees mit Heinrich IV., ihrem „Mignon", Honig stunden verbrachte, und das Stammhaus des alten Adels Morgan de Belloy, an deffen Fassade sämtliche -Bapvenschilde der mit den Morgans verwandten Familien anoebracht sind. Ucber diesen Gäßch-n steigen die Türme der sehr alten Kirche Saint-Leu auf: unweit ihrer brüchigen Steinmauern »rotzt ein ausschließlich aus Holz im 15. Jahrhundert gebautes Häuschen weiteren Säkularjudiläen. Die Kathedrale bildet den Mittelpunkt der Stadt: nur St. Peter in Rom, St. Sofia in Konstantinopel und der Kölner Dom sind geräumigere Kirchen in Europa. Von dem Platze vor der Hauptfront aus, auf dem ein Denkmal Peters des Einsiedlers steht, wirkt die aufstrebende Steinmaste bedeutend: von unten bis oben wurde sie von bildenden Händen wie ein flandrisches Svitzengewebe durchbrochen; die oberste Kreuzspitze sticht 164 Meter über uns ins Himmelsblau hinein. Die drei Spitzbogenportale sind mit einer ganzen Fiqurettenkompanie von Heiligen umsäumt; darüber stehen auf Galerien sämtliche, ehe mals sehr ähnlich porträtierte, jetzt sehr vom Regen verwaschene Könige Judäas. Eine feinstornamen tierte Steinrose mächtiger Dimensionen trennt die Zwillingstürme, die wie echte Zwillinge sehr ver schieden geartet und in kluger architektomscher Absicht sowohl in der Höhe wie im Fensterausbau „differen ziert" wurden; auch zwischen den Türmen, über der Steinrose, nochmals Galerien mit Figuretten, deren man an dieser Hauptfront über dreihundert zählen kann — sie illustrieren die Leidenszeit des Heilands und die Geschichte Davids, dann auch sehr amüsant die Fabel der sechs klugen und der sechs törichten Jung- frauen, sowie in naiver Darstellung das jüngste Gc- richt: auf der einen Seite dis sehr hübsch Gekleideten, die zum Himmel wandeln auf der andern die Bösen, die ganz nackt dem die Hölle darstellenden, offenen Rachen eines Untiers zuspazieren. Ein Meisterwerk der Zimmermeisterei, der Schrecken der Architekten der Kathedrale, ist der nach den Ideen eines einfachen Arbeiters 1529 begonnene Holzturm mitten auf dem Dach der Kathedrale; er erhebt sich auf vier Pflöcken und besteht aus sechstausend Holzstückcn, die einfach wagerccht ineinandergesieckt sind, ohne ver bindende Bolzen in Ausschnitten! Auf hervor ragenden Valkengesimsen stehen acht Engelstatuen von je drei Metern Höhe — man kann sich denken, welche Schwierigkeiten die fortwährend nötigen Re paraturen verurjachen' Die morschen Holzstücke, die nachzugeben drohen, müssen sorgsam herausqezogen und durch neue ersetzt werden, ohne daß dabei das Gleichgewicht der darüber ruhenden Holzmaste ge stört wird. Obendrein läßt sich nicht leicht feststellen, welche Balken in Fäulnis übergehen, da sie sämtlich in einem Bleimantel stecken, dem es allein zu ver danken ist, daß der gebrechliche Turm die Jahr hunderte überdauerte. Im oberen Teil, zu dem man auf einer inneren Treppe von 306 Stufen empor gelangt. bemerkt man prächtige alte Schnitzereien, die noch nicht zu sehr unter den Witterungseinslüsscn gelitten haben. Rodin, der große Bildhauer, dachte wohl in erster Linie an die Kathedrale von Amiens, als er zur Feder griff, um begeijterungsvoll die Aufmerksamkeit der Franzosen auf die hehre Schönheit der im Lande sehr in Vergessenheit geratenen kirchlichen Baudenk mäler des gotischen Stils zu lenken. Selbst das wunderbare Aeußere van Notre-Dame in Paris wird noch von der Harmonie und Vollkommenheit der Strebebögen, Strebepfeiler und Portale, des Maß werks der Kreuzblume, des Figurenschmucks der Galerien und des Kranzgesimses am Höhendach der Kathedrale von Amiens übertroffen. Ob die Sonne ihren Schein über diese Kirche ausgicßt, ob der Mond sie mit silbernen Strahlen umspielt oder ob sie aus völliger Dunkelheit geheimnisvoll, nur in den Um rissen zu erkennen, hervortritt, sie bleibt, unter welchem Winkel man sie sieht, ein Totalausdruck der Schönheit, der Ruhe und Größe, in Architektur über setzt. Das strebt mächtig nach oben, in allen Linien und allen Formen: und der reiche Zierrat verdeckt un merklich jede Monotonie in der Aufwärtsbewegung „Die Schatten, das göttliche Spiel der Schatten in den Strebepfeilern und Strebebögen, in den Bogen fenstern und Ecknischen!", ruft Rodin. „Man darf sagen, daß die Schatten die Meisterwerke lieben. Sie hängen sich daran, bilden ihre Zierde. Nur in der Gotik, bei Rembrandt und auf den antiken Statuen kann ich derartige Schattenorchester wiederfinden. Sie umgeben die Schönheit mit einem Mysterium, sie gießen uns den Frieden ein." Die Majestät des mittelalterlichen Bauwerks macht den modernen Bildhauer zum Poeten. Aber er hat recht; die Gotik hat auch in dem an Baustilen gciegncten Frankreich allein das Ideal erricht. Schade nur, daß die Türme des Domes von Amiens, gerade wie die von Notre- Dame, wegen Geldmangels nicht ausgebaut wurden; der Kölner Dom bleibt darum immer das Glanzstück der gotischen Kirchenarchitektur. Das Hauptschiff der Kathedrale in der Somme- Stadt ist in seiner bedeutenden Ausdehnung im posant: keine Einbanten verbarrikadieren den Durch blick. Und hell ist die hohe Kirche, wie keine zweite, die ich gesehen. Die sehr zahlreichen Fenster sind großenteils weiß verglast: die berühmten Glasmale reien de« Mittelalters hatte die Zeit so mitge nommen, daß an ein Reparieren im brüchigen Blei- gesüae nicht mehr gedacht werden konnte — für neue bunte Verglasung aber fehlen die Mittel. Die schönen Zeiten der Opferwilliqkeit für Kirchenkunst sind in dem Lande der „Separation" dahin! Das Innere der Kathedrale steht unter dem Zeichen der Amoretten — eine besonders schöne Amorette mit lanaer Trompete lädt schon über dem Portal zum Eintritt ein: eine zweite aus weißem Marmor weist mit erhobenem Arm über der Kanzel himmelwärts: und wieviele bolde Engelgestalten aus aller Art Marbelstein und Metall umschweben die kalten Grüfte der Bischöfe! Sie waren die Lieblinge des großen bildenden Genies, deffen Name gepriesen werden wird, solange das gotische Kirchenbauwerk begeisterte Bewunderer anlockt. Der Amienoiser Blasset war ein Meister der Skulptur, und er hat seine Vaterstadt reichlich mit den Produkten seiner hehren Kunst beschenkt. Sein .^Petit pleureur", der Genius der Trauer, über dem Mausoleum Guillain Lucas, des Begründers der Waisenschulen, ist in ganz Frankreich populär und hundertfach nachgebildet worden, es ist ein gesunder, kleiner Engel, ein mit dem Meißel gearbeiteter Boticellt; ein runder Arm stützt den guten weinenden Kinderkopf auf einen Totenschädcl; die anmutsvolle Unschuld trauert über den Tod, deffen Grausen durch die kindliche Lebensfrische gemildert wird. „L ange pleureur" ist gewissermaßen das Motto der Kirche, in der we niger der schwere Pomp des katholischen Ritus vor herrscht, als die versöhnliche Feierlichkeit allein der Humanitär geweihter Kunst. Die vielen Statuen der Kardinäle und Bischöfe schauen lange nicht so grabesfinster drein, wie in andern Domen; sie sind vom Licht umspielt: der Meißel Blaffets und seiner Jünger suchte um die theologischen Häupter graziöse Ornamente und Figuren aus dem Stein zu schöpfen. Ueber der Kanzel, die von drei mächtigen Figuren: Glaube, Liebe und Hoffnung, in harmonisch ver schlungener Grupps getragen wird, schwebt ein Engel, der voll Majestät das gccstfnetc Buch der Bücher über den Priester hinhält. „Hoc tac er vives" („Tut also und ihr werdet leben") steht auf der geöffneten Sette geschrieben, und von diesem Spruch geht die Legende, daß der Bischof de la Motte dem Bildhauer, der für seinen Entwurf 36 000 Fr. verlangte, scherzend riet, die Devise hinfiiro auf sich selbst in Anwendung zu bringen. Die Orgel mit acht Meter langen Pfeifen hängt sehr kühn im Fond in großer Höhe; sie wurde 1422 konstruiert. Von dieser Orgelempore aus wirkt die Weite des Kirchenschiffes am besten: die hohen, schlanken Pfeiler, die oben Galerien mit tausend Säulchen und Spitzbogen tragen, führen wie eine riesige Bambus-Allee zum Hochaltar, auf den der blendende Goldfchimmer einer gigantischen Gloria- Sonne niederfällt. Um den Altar an jedem Pfeiler wiederum Engel, die Fackeln tragen. Der Chorraum enthält an Schnitzereien mit das Kostbarste, was europäische Kirchen aufweisen. Die 116 Chorstühle sind von über 400 Reliefs. Darstellungen aus der Kirchengeschichte, umgeben: auf den Stuhllehnen und den vier sie flankierenden schmalen Holzpqra- miden stehen nicht weniger als 3600 Figuren und Statuetten . . . Die Gesamtzahl der im Innern und an den Alißcnfronten angebrachten Bildwerke dürfte