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Die denlschsoeiale Rcformpartet der Provinz Branden burg hat, wie schon kurz gemeldet worden, aus ihrem dies jährigen Verbandstage einen Beschluß gefaßt, der für weitere Kreise von Interesse ist: sie hat den Antrag angenommen, an den Parteitag in Cassel das Ersuchen zu richten, im Namen der Partei die Bezeichnung „social" fallen zu lassen. Der Antragsteller begründete den Antrag mit dem Hinweis auf das Verhalten der Gegner in der Wahlbewegung, welche die deutschsocialen Reformer mit den Socialdemokraten in einen Topf geworfen hätten. In der Debatte meinte Herr Böckler, jetzt sei die beste Gelegenheit, die „überflüssige Titulatur" los zu werden. Herr Kretzerhob hervor, daß heule alle Parteien social seien, man könne deshalb ruhig an dem Wort Reform sich genügen lassen. Herr Buschke wandte ein, das würde von den Gegnern als eine Rechtsschwenkung angesehen werden." Schließlich gelangte der Antrag zur Annahme. — Um den Vorgang richtig zu würdigen, muß man sich an den Verlauf des dritten Parteitages der deutschsocialen Reform partei erinnern, der am 10. und 11. October 1897 in Nordhausen stattfand. Dort schlug das Bürgerschafts mitglied Raab-Hamburg zum zweiten Puncte der Tagesord nung, die „Arbeiterfrage", eine Resolution vor, die auf den heftigsten Widerspruch stieß. Gegenüber den radikalen Forderungen der Resolution, die unter Anderem Arbeiter ausschüsse, das Verbot der Verarbeitung giftiger Stoffe, die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, das Verbot jeglicher Kinderarbeit und Aehnliches verlangte, führte insbesondere der damalige Reichstagsabgeordnete Zimmermann Folgendes aus: Die positive und größte Arbeiterfreund lichkeit liege in der Erhaltung eines gesunden und kräftigen Mittelstandes. Nur ein solcher Mittel stand schaffe dem Arbeiter auskömmliche Arbeitsgelegen heit und entsprechende Löhne. Die Befolgung der Raab'schen Thesen würde den Ruin des Mittelstandes zur Folge haben. Schließlich wurde eine Resolution angenommen, in der von den vorgeschlagcnen obligatorischen Arbeiteraussckiissen zwar nicht mehr die Rede ist, aber die Einführung der Cvalitions- pflicht für alle Arbeiter den Parteivereinen zur DiScussion empfohlen wird und die ferner unter Anderem „Zwangs organisation der Fabrikindustrie mit gesetzlicher Durch führung der Coalition der Arbeiter" und für die Hausindustie „geeignete Bestimmungen zum Schutze der Arbeiter und ihrer Hausgenossen" verlangt. Diese Compromißresolution war auf kleinere Arbeitgeber berechnet, die durch die dehn bare Fassung gewonnen werden sollten. Der Ausfall der Neichstagswahlen aber hat gezeigt, daß die Anpreisung der deutschsocialen Reformpartei als der einzigen Partei, die des Mittelstandes sich annimmt, an Zugkraft bedeutend verloren hat. Läßt man jetzt die Bezeichnung „social", auf die man früher sich so viel zu Gute that, fallen, so ist der letzte Grund hierfür das Bestreben, das im Mittelstände verlorene Terrain wieder zu gewinnen. Wie die Dinge liegen, ist es zunächst konservativer Besitzstand, dessen Schmälerung in Frage käme. Aber auch die Nationalliberalen werden gut lhun, auf die neueste Taktik der deutschsocialen Resormpartei aufmerksam zu machen. Der nationalsociale Delcgirtcntag, der dieser Tage in Darmstadt abgehalten wurde, macht denselben kümmerlichen Eindruck, Wie sein Vorgänger. Das einzige praktische Er- gebniß von politischem Interesse scheint die Ankündigung Pfarrer Naumann'S zu sein: die durch die ReichStagswahl erschöpften Mittel des nationalsocialen Vereins würren für die preußische Landtagswahl nicht obneNoth verbraucht werden, bezüglich der Betheiligung würde man sehr vorsichtig vorgeben. Hiernach dürften die Nationalsocialen so gut wie gar keinen Versuch macken, in den preußischen Landtag zu kommen; bisher ist unseres Wissens nur ein einziger Wahlkreis von ihnen ins Auge gefaßt worden, nämlich der hannoversche Kreis Lingen-Bentheim, indem die Herren Naumann und v. Gerlach für Professor Focke aus Schöneberg agitirlen. Angesichts des Fiascvs, daS die Nationalsvcialen bei der ReichStagswahl machten, ist die jetzt von Pfarrer Naumann proclamirte Selbstbeschränkung ebenso verständlich wie vernünftig. Un vortheilhaft unterscheidet sich von ihr eine Schluß folgerung, die der Geschäftsführer Wenk aus den bei der ReichStagswahl abgegebenen 26 000 nationalsocialen Stimmen zog. Er hielt es durch die Zahl für erwiesen, daß die natwnalsociale Bewegung ein Bedürfniß für das „deutsche Volk" sei. Darin irrt sich Herr Wenk. Das deutsche Volk in seiner Gesammtheit bedarf keineswegs einer politischen Bewegung, deren Charakteristikum ist, daß die an ihr betheiligten Stimmführer »ach entgegengesetzten Richtungen auSeinanderstreben,und dies nichtetwa inNebenpunclen,sondern in grundlegenden Principiensragen. Pfarrer Naumann frei lich will derartige „Meinungsverschiedenheiten" schlechter dings nicht missen, er erblickt in ihnen gewissermaßen die Bürgschaft für die Zukunft der Narionalsocialen. Leider konnte eine Probe auf die bindende und erhaltende Kraft der „Meinungsverschiedenheiten" nicht gemacht werden, da die Träger dieser Verschiedenheiten, die Herren Sohin und Göhre, dem Delegirtentage fern zu bleiben sich genöthigt gesehen hatten. Sie hatten sich bekanntlich im Sommer dieses Jahres in der „Hilfe" auf das Lebhafteste über die Frage unterhalten, ob die nationalsociale Politik „M assen - Politik" sein solle oder nicht. Der demokratische Herr Göhre hat dies bejaht, der aristokratische Sohin cs verneint. Eine Ausspracke vor versammeltem Kriegs volke mußte unterbleiben; erst die Zukunft kann also lehren, ob beide Herren Mitglieder deö nationalsocialcu Vereins bleiben und ihm als Kitt dienen können. Unter den in Darmstadt gefaßten Beschlüssen ist nach den bisher vorliegenden Berichten nur die Verlegung des Ditzes,des Vorstandes und des Sekretariats von Leipzig nach Berlin zu erwähnen. Begründet wurde dieser Beschluß mit der Angabe, die Zweitheilung der poli tischen und der geschäftlichen Leitung hätte manche Mißstände gebracht. In Wirklichkeit hat für die Verlegung wohl auch die Thatsache gesprochen, daß Leipzig, wie die Niederlage des Herrn Lorenz bei der Neichstagswahl darthat, nicht im Mindesten die Erwartungen erfüllt hat, welche die National socialen hegen zu dürfen glaubten. Zum deutsch-englischen Abkommen, in welchem die beiden Regierungen sich angeblich über alle noch strittigen englisch deutschen Puncte verständigt haben, bringt jeder Tag eine neue Mittheilung. Nach verschiedenen Angaben soll cs sich jetzt um nichts weniger als die Theilung der Verwaltung der portugiesischen Provinz Mozambique bandeln, so daß der nördliche Theil bis zum Zambesi den Deutschen, der südliche den Engländern überlassen würde. Eine Bestätigung dieser ausfallenden Meldung bleibt natürlich abzuwarten. Anderer seits sind in Afrika noch verschiedene deutsch-englische Grenzfragen zu reguliren: in Togo, das bis zur Volta mündung vergrößert werden soll, in Kamerun, wo die Grenz absteckungsarbeiten der deutsch-englischen Commission durch die Verstimmung wegen Transvaals Ende December 1895 unterbrochen wurden, und in Südwest-Afrika, dessen^Aus dehnung bis zum Zambesi vorgenommen werden soll. Sollte sich die Meldung englischer Blätter, daß Deutschland gegen den Bau einer Eisenbahn und eines Telegraphen durch den Congo-Staat nach Uganda durch England nichts mehr einzu wenden habe, bestätigen, so wäre dies ein neues deutsches Zugeständniß, welches das Verlangen der nationalgesinnten Kreise nach vollwichtigen Compensationen — vorausgesetzt, daß das ganze Abkommen nicht rückgängig zu macken ist, — noch bedeutend steigern müßte. Es liegt jetzt ein französischer Protest gegen daS deutsch-eng lische Abkommen, die Delagoa-Bai betreffend, vor, welches das Pariser Comitö zur Vertheidigung der franzö sischen Interessen in Transvaal dem Minister des Aus wärtigen, Delcassä, übermitteln will. Es wird darin mit Recht darauf hingewiesen, daß die Erwerbung des Delagoa- Hafens unter irgend einer Form durch England Transvaal den Freunden des Herrn Cecil NhodeS vollständig ausliefern würde, deren Interessen denen Frankreichs und der anderen Nationen in Transvaal zuwiderlaufen. Frankreich, das mehr als eine Milliarde in Transvaal habe, müsse — auch dem kann man nur zustimmen — unter jeder Bedingung von Portugal, dessen Schuld eS zum großen Theile besitze, berufen werden, sein Gutachten abzugeben, oder zum Mindesten sein Paritätsrecht, Kaufanträge zu machen, auszuüben. Das Comitv spricht daher den Wunsch aus, daß die Negierung der Republik der portugiesischen Regierung Vorstellungen und die uöthigen Anerbieten macke und die Initiative ergreife, um die Neutralisirung der Bucht und der Eisenbahn von Delagoa unter der jetzigen Souveränetät Portugals und unter der Controle der an der Entwicklung der Bergwerke und des Handels in Transvaal direct betheiligten drei Groß mächte zu beantragen. Mit begreiflicher Spannung siebt man der Entscheidung des Cassation shofesin Sachen des Dreyfus ProccffcS entgegen. Da der Gerichtshof vollständig souvcrain ist, kann er den Proccß und das Urtheil revidiren, so daß Dreyfus zur Aburtheilung an ein anderes Kriegsgericht zu verweisen wäre, der Cassa tionshof kann aber auch das ganze Verfahren wegen be gangener Ungesetzlichkeiten annulliren, so daß erst eine neue Anklage gegen DreysuS erhoben werden müßte, um ihn überhaupt wieder vor das Kriegsgericht zu bringen. Auck wenn der Cassationshof zur Annullirung schreitet, dürfte sein Beschluß nock weitere Folgen haben. Der oberste Gerichtshof kann sich z. B. der Frage nicht entziehen, wer denn der Urheber dieser Ungesetzlichkeiten ist; die Folge davon ist, daß General Mercier, der als Kriegsminister während des Processes Dreyfus für alle Vorgänge in letzter Linie verantwortlich ist, unter An klage gestellt werden muß. Man wird sich daher darauf gefaßt machen müssen, daß die Militairpartei alle Mittel auf bieten wirb, um dem Cassationshof die Lösung seiner Aufgabe unmöglich zu machen oder wenigstenst nach Kräften zu erschweren. Tie Rcvisionsgegner im Senat und der Kammer haben sich ja schon zusammengethan, um die Einberufung der Kammern zu verlangen und das Ministe rium Brisson zur Rechenschaft zu ziehen. Aber der Hause der Revisionsfeinde ist auf ein Fähnlein von 20 Mann zu sammengeschmolzen und ihr Schlagwort: „Das Ministerium hat die DrcyfuS-Angelegenheit aus einer gerichtlichen in eine politische umgewandelt", wird nicht verfangen. Jedermann weiß, daß das Gegentheil der Fall ist. Von großer Bedeu tung ist eS ferner, daß auch in der französischen Armee zahlreiche Stimmen für die endliche Aufklärung und die notk- wendige Mauserung der Heeresleitung laut werden. So bat Oberst Picquart von mehr als 600 französischen Ofsicieren Glückwunschschreiben zu seiner Haltung in der Angelegenheit Dreyfus empfangen. Insbesondere er hielt er von sämmtlichen Ofsicieren deS 4. Tirailleur-Regi- mentS, dem er früher angebörte, die ehrendsten Zustimmungs bezeugungen. DaS wird Eindruck machen. — Wir erwähnen in diesem Zusammenhänge eine neue „Enthüllung". Tis Londoner „Daily News" bringt nämlich folgende Geschichte über den Rücktritt des Präsidenten Casimir-Perier: Ungefähr Mitte December 1894 setzte der deutsche Bot- sckafter Gras Münster einen langen Bericht über die Dreyfns- Sacke aus und steckte ihn in ein besonderes, an den Kaiser persönlich adressirtes Couvert, versiegelte dies mit dem Bot schaftssiegel und that es mit anderen amtlichen Urkunden in eine Mappe, die einem Courier zur Uebermittelung nach Berlin übergeben wurde. Dieser Brief wurde auf französischem Gebiet heimlich hrrausgenommen, mit Lxyhydrogenlicht photographirt, dann in das Couvert zurückgethan und erreichte den Kaiser richtig mehrere Tage später. Das Berliner Nachrichtenbureau wurde hierauf vom Brüsseler, welches die französische Section hat, davon unterrichtet, daß die Photographie des Berichtes an den Kaiser in den Händen des französischen Kriegsministers sei. Die deutsche Regierung wies Münster sofort an, er habe seine Pässe zu verlangen, da die Handlung der französischen Re gierung eine Verletznng des Exterritorialitätsgrundsatzes und eine persönliche Beleidigung des Kaisers sei. Der Auftritt, der sich darauf im Elysse Anfangs Januar abspielte, war außer ordentlich. Perier, überwältigt von der plötzlichen Enthüllung, war außer sich und gab Münster sein Ehrenwort, daß er als Staats oberhaupt jede Verbindung mit derartigen Handlungen zurück weise. Er gelobte, eine Wiederholung zu verhindern. Graf Münster versprach darauf, dem Kaiser einen Bericht über die Audienz zu senden, und schickte solchen durch einen Courier denselben Abend auch ab. Dieser Bericht wurde wieder heimlich photographirt und binnen 48 Stunden dem französischen Ministerium des Aeußeren überbracht. Am 12. Januar Abends erschien Graf Münster plötzlich wieder im Elysöe und erklärte dem Präsidenten, Deutschland werde sofort mobilisiren, um die neue Beleidigung zu rächen. Es entwickelte sich ein dramatischer Auftritt. Graf Münster sank in einen Lehn sessel und warf Perier vor, er habe ihn vor dem Kaiser entehrt, da er diesem auf das Ehrenwort des Präsidenten seine feierliche Versicherung gegeben. Perier sagte: „Berichten Sie dem Kaiser, daß ihm von mir selbst als Präsidenten Genug- thuung gegeben werden soll, indem ich öffentlich solche Rechts verletzungen gegen eine Macht, die in Frieden mit Frankreich lebt, zurückweise. Ich will mein Land nicht opfern und werde vom Präsidium zurücktreten. Bitten Sie den Kaiser, sich zufrieden zu geben." Zwei Tage später kündete Perier seinen Rücktritt an. Dieser Vorgang war noch folgenden Personen bekannt: Dupuy, Hanotaux, den Generalen Mercier und Boisdeffre, Schwartzkoppen, Sandherr, Henry und Esterhazu, ferner allen Kriegsministern und leitenden Ministern der Cabinete MSline und Brisson und den ver schiedenen Mitgliedern des KriegSraths, welche den TreyfuS-Dossier gesehen, zusammen über 50 Personen. Dieser Enthüllung steht der Stempel der Erfindung an Feuilleton. Dem Glücke wiedergegeben. IZ Novelle von C. Gerhard. Nachdruck verboten. Erstes Caprtel. Es war Abend. Trübe und schwer breitete sich der Himmel über der erstarrten Erde aus, dichter und dichter flogen die Schneeflocken auf dieselbe herab, und immer lauter umheulte der Wind di« einsam gelegene elegante Villa. Desto traulicher war es im Innern derselben, vom Vestibül bis zur Reihe der hell erleuchteten, geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Der Baronin Werder Lebenselement war Licht und Wärme. Sie selbst befand sich augenblicklich in einem rothen Ecksalon, eingeschmiegt in die Weichen Kiffen eines Divans. Eine gleichfalls roth schimmernde Ampel warf zauberhafte Reflexe auf das schöne Weib im weißen Kaschmirkleide, das röthliche Licht umspielte die zarten Umriffe des edelgeformten Gesichtes, es haftete an der Fülle des schwarzen Gelockes, welches von einem schimmernden Seidennrtze in Fesseln gehalten wurde, und es brach sich in den köstlichen Augen. Der gelblich matte Teint der Ruhenden bekundete, daß sie kein Kind des Nordens sei; zerstreut spielten ihre schlanken Finger mit einer voll erblühten, dunkel- rothen Cvmelie. Der Geber derselben, «ine hohe, stattliche Erscheinung in der kleidsamen Dragoner-Uniform, Graf Egon von Steinfels, saß neben der schönen Frau auf einem niedrigen Tabouret. Frische Jugend lag auf dem Gesichte des Officiers, und die leuchtenden, tiefblauen Augen ruhten mit verzehrendem Strahl auf dem Antlitz der Baronin. Augenblicklich herrschte tiefe Stille im Gemach, plötzlich richtete sich die Ruhende auf, und indem sie mit den weißen Fingern spielend durch die schwarzen Haare des Grafen glitt, sagte sie lächelnd: „Nun, so still, mein Freund? Sonst pflegt das nicht D«in Brauch zu sein. Was läßt Dich so gänzlich ver stummen?" Ein tiefer, heißer Blick antwortete ihr; schwer aufathmend beugte er sich zu ihr nieder und berührt« ihre schwellenden Lippen mit einem Kusse. „Deine Schönheit, m«in Lieb, raubt mir die Worte", flüsterte er zärtlich. „Dich so anschauen zu dürfen, ist unnennbares Glück." „Oho, lieber Schwärmer, so elegisch?" unterbrach ihn die Baronin, während ein leises Lächeln der Befriedigung über ihre Lippen glitt. „In diesem Augenblicke erinnerst Du mich lebhaft an meiner Jugend Spielgefährten, den armen Giacomo. Auch er pflegte mich oft so anzuschauen, wie Du, und dann wehmüthig zu seufzen." „Giacomo?" forschte der Graf. „Du erzähltest mir nie von ihm." Träumerisch schweifte ihr Blick in die Ferne. „Er gehört zu meiner ersten, goldenen Jugendzeit; laß Dir heute von ihr erzählen, ich fühle mich seltsam dazu angeregt. Du weißt, meine Wege stand in dem schönen Venedig. Meine Eltern habe ich nicht gekannt. Der Vater war Musiklehrer; «r folgte der früh verstorbenen Mutter bald und hinterließ mich der Obhut einer armen Wäscherin, deren einziger Sohn Giacomo war. II povorinc)! Er war ein schwächlicher, kleiner Knabe und ich ein wildes, leichtherziges Mädchen, das ihn vollkommen beherrschte. Mehrere Jahre verflossen uns so im seligsten Frieden; wir be gehrten kein anderes Leben, weil wir nichts Süßeres kannten, als unter dem tiefblauen Himmel unsere kindlichen Spiel« zu betreiben, oder in einer Gondel langsam dahinzuzleiten. Während Giacomo meistens unthätig in derselben saß und seine großen Augen unverwandt auf mich gerichtet hielt, führte ich das Ruder und sang dazu. Zuweilen begleitete «r mich auch mit seiner schwachen, sanften Stimme; aber er that eS nur un gerne, nur auf meine ungestümen Bitten. — Einstmals, als ich gerade unser schönes Gondellied: „Santa Lucia" beendet hatte, hörte ich in unserer Nähe ein lebhaftes Klatschen und die Worte: ,.?er dacco, die Klein« singt schön." Gleich darauf stieß eine Gondel an dir unsere. Mehrere Herren saßen in derselben; der Eine, ein älterer, häßlicher, kleiner Mann, welcher wohl vorhin die Worte ausgerufen, hieß mich das Lied von Neuem singen. Da ich weder Scheu noch Furcht vor fremden Menschen kannte, gehorchte ich ihm, wenn auch befremdet von dem mir seltsam erscheinenden Verlangen. „Du bist ja eine geborene Sängerin", sagte der Alt« darauf, „es wäre schade, ein so unverkennbares Talent verloren gehen zu lassen. Komm zu mir, ich will Dich groß und berühmt machen." Verwundert und ungläubig starrte ich ihn an, doch er schilderte mit beredten Worten das Leben einer Künstlerin, welche durch die Gewalt ihrer Stimme alle Herzen unterjoche, und versprach, mich zu einer solchen auszubilden. Mit blitzenden Augen willigte ich endlich ein, aber als mein Blick auf den armen Giacomo fiel, verstummte ich. Thronen standen in seinen tiefblauen Augen, und mit halb erstickter Stimme klagte er, daß ich ihn nun ver lassen und vergessen würde. Dieses rührte mein leicht empfäng liches Herz und ich sagte dem Masstro, daß ich von seiner ganzen Kunst nichts lernen wolle, wenn Giacomo nicht daran Theil nehmen dürfte. Nun, er gestattete es, wenn quch Wohl nur aus Großmuth, denn mein armer Kamerad konnte wenig leisten. Ihm war es aber schon Glückes genug, mich täglich zu dem Maestro hinzu geleiten, der mir die Pforten der Kunst erschloß. Mit glühender Begeisterung nahm ich seine Lehren auf, und mit brennendem Ehrgeize übte ich stundenlang, um bald groß und berühmt zu werden. Endlich, endlich, nach Jahren des eifrigsten Studiums ließ mich mein alter Maöstro auftreten. Der Erfolg war ein durchschlagender. Di« Italiener sind ein leicht erregbares Volk, sie priesen mich hoch und nannten mich bald Italiens erste Sängerin. Giacomo war indessen im Chore angestellt und behütete mich mit eifersüchtiger, argwöhnischer Zärtlichkeit. O, er konnte es nicht verhindern, daß ich zahlreiche Verehrer hatte, daß köstlich« Blumen, Briefe und Gedichte in meine Wohnung wanderten. Doch alles Dieses ließ ihn noch ziemlich kühl, bcs ein Wendepunct in meinem Leben eintrat. Lange schon war mir in der Fremdenloge eine elegante Er scheinung mit blauen Augen, blonden Haaren und einem üppigen, röthlich schimmernden Vollbarte aufgefallen. Der Fremde, augen scheinlich ein Deutscher, fehlte nie, wenn ich auftrat; stets fühlte ich seine ernsten Augen auf mir ruhen, aber nie regte er die Hand zum Applaus, nie fand eine Blume den Weg von ihm zu mir. Das reizte mich; ich bot meine ganze Kraft auf und sang und spielte vielleicht nie besser als in den kommenden Tagen. Ein Zufall führte mich bald mit dem Deutschen auf einer SoirSe zusammen. Was soll ich Dir weiter sagen, mein Freund? Der Mann mit dem kühlen Herzen entflammte bald, er gestand mir seine Liebe und machte mir einen Heirathsantrag. Das hatte ich nicht erwartet, und es imponirte mir, aber ich hatte «ine schwere Wahl — hier eine glänzende Laufbahn — dort ein geach tetes Dasein als Gattin des deutschen Edelmannes. Ich schwankte lange, doch endlich durfte er mich seine Braut nennen. Mit Schmerz verließ ich di« Bühne, mit Schmerz nahm ich Abschied von dem armen Giacomo, der außer sich vor Trauer war und den bald sein Lungenleiden dahinraffte. Aber mit Stolz reiste ich an der Seite meines Gatten nach Deutschland. O, ich wurde bitter enttäuscht! Der kalte Norden behagte mir nicht; mein Gatte — nun, er war ein echter Deutscher. Zwar liebte er mich, aber er zeigte dieses kaum. Jede laute Ge fühlsäußerung war ihm zuwider. Wohl baute er mir diese prächtige Villa, ich sollte mich darin heimisch fühlen, aber sein eifersüchtiger Stolz gestattete mir kaum, die Grenzen des Hauses zu überschreiten. Ach, es war entsetzlich!" Zornig stampfte die Baronin mit dem kleinen Fuße auf. Längst schon hatte sie ihren Ruhesitz verlassen und wanderte, bebend vor Erregung, hin und her, das schöne Antlitz von flie gender Röthe übergossen. „Und dazu kam", fuhr sie fort, „daß seine engherzigen, adels stolzen Verwandten sich von ihm abgewandt, weil er eine Sängerin, eine Theaterprinzcssin zur Frau genommen!" Sie lachte kurz und bitter auf. „Das Majorat wurde ihm entzogen, sein Vater verstieß ihn, und das mußte ich oft genug entgelten. Es waren martervolle Jahre der Gefangenschaft! Dabei lebten wir ganz für uns, nichts von dem erträumten Glanze! Meines Mannes Revenllen waren nur klein und wir mußten uns sogar einschränken! Wie oft sehnte ich mich nach der schönen Heimath zurück! Mit wie bitteren Thränen bereute ich, meine Laufbahn aufgegeben zu haben! Endlich schlug die Erlösungsstunde; mein Gatte starb nach kurzer Krankheit, und nun bin ich frei!" Mit tiefem Athemzuge sagte sie es; da ward sie von starken Armen umschlungen, und eine heiße Stimme flüsterte ihr zu: „Frei? Und fühlst Du Dich denn gar nicht durch mein« Liebe gebunden?" „Gebunden? Nein!" rief sie erregt. „Ich mag keine Fesseln und wären es auch die süßesten." Seine Arme sanken schlaff herab, mit ti«f schmerzlichem Aus drucke schaute er in das geliebte Antlitz. „So liebst Du mich nicht?" fragte er tonlos. Seine Bestürzung schien sie zu rühren, allmählich veränderte sich der harte Ausdruck ihres Gesichts. Sie legte den schönen Kopf an seine Brust. ^Osrissimo mto, nicht zürnen!" Wie hätte er da noch zürnen können, da er das schöne Weib in seinen Armen halten durfte? Zärtlich küßte er die schwarzen Augensterne und führte die schlanke Gestalt zum Divan zurück. In demselben Augenblicke öffnete sich die Portiöre und ein allerliebstes, kleines Mädchen, in lichtes Weiß gekleidet, eilte auf die Baronin zu, umschlang ihre Knie und drückte den blühenden Kindermund auf die mütterlichen Lippen. „Nicht so stürmisch, Kind", wies diese es strenge zurück, „geh', sage Onkel Egon guten Abend." Dieser zog das liebliche Geschöpfchen auf seinen Schooß, das blonde Lockenköpfchen schmiegte sich zärtlich an ihn, während die zierlichen Händchen mit seiner Uhrkette und dem daran hängenden Medaillon spielten. Dabei sprang dieses auf, und vergnügt be»