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42t« nennuna de« Herrn vr. Spahn zum ReichSgrricht-rath zur Auswerfung der Frage Anlaß giebt, und werden eine Lösung dieser Frage im Sinne der bisherigen Praxis besonders des halb bedauern, weil wir seine in vielen Fällen segensreicbe Einwirkung auf die CentrumSfraction ungern entbehren würden. Aber solche Rücksichten können nicht in Betracht kommen, wenn eS sich darum handelt, das Gewicht der Gründe nicht vermindert zu sehen, die gegen eine Vermehrung der Zahl der Mitglieder deS Reichsgerichts und für eine Entlastung desselben sprechen. Je peinlicher die socialdemokrattschen Agitatoren eS empfinden, daß die alten abgebrauchten Schlagworte ihre Zugkraft bei der großen Masse eingebüßt haben, um so eifriger suchen sie nach neuen. Mit besonderem Ungeschick verfährt dabei — wie gewöhnlich — die „Sächsische Arbeiterzeitung", die das Dementi der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", betreffend angebliche Verhandlungen deS deutschen Reiches mit der Türkei über die Pachtung einer Kohlenstation am persischen Meerbusen, als Vorwand benutzt, um in maßloser Weise gegen „uferlose" Alottenpläne — jetzt, nach der Annahme des Flotten gesetzes! — zu agitiren. Das genannte focialdemokratische Blatt hat, wie erinnerlich sein wird, seiner Zeit die Entdeckung gemacht, der Kiautschau - Vertrag sei nur den Chinesen zu Liebe, nämlich damit ihnen deutsche Waaren geschenkt werden könnten, abgeschloffen worden. Jetzt schreibt die „Sächsische Arbeiterzeitung" in einem „Kiautschau Nr. 2" überschriebenen Artikel wiederum: „Wir wollen Socialpolitik, keine Co lonia lpolitik." — Der Widersinn dieses Standpunctes ist sogar vom „Vorwärts" nachgewiesen worden, der, als am Anfang dieses Jahres die socialdemokratische „Frank furter Volksstimme" gegen den Kiautschau - Vertrag aus denselben Gründen, wie jetzt die „Sächsische Arbeiterzeitung", proteitirte, am 13. Januar wörtlich wie folgt sich ver nehmen ließ: „Ob und inwieweit die Pachtung Kiautschaus „gegen die socialen Interessen des arbeitenden Volkes" verstoßen wird, ist heute noch nicht abzusehen. Eine Ausdehnung unserer Ausfuhr nach Ostasien würde gegen diese Interessen nicht verstoßen... Den späteren Consequenzen einer Erschließung Chinas entgeht das europäische und auch das deutsche Prole tariat im Speciellen nicht, wenn auch der Pachtvertrag über die Kiautschau-Bucht nicht ratificirt würde. Die sibirische Eisenbahn, das Vorrücken der Franzosen von Hinterindien, der Telegraph und die Eisenbahnen in China und so manches Andere erzwingen die Einbeziehung Chinas in den weltwirthschast- iichen Wettbewerb." Die vorstehende Auslassung des socialdemokratischen Centralorgans ist so schlagend, daß wir nichts hinzuzusetzen brauchen. Auch Rußland hat unter einer argen Mißernte zu leiden. Dem osficiellen Versuch, das Vorhandensein der HungerSnoth abzuleugnen, werden von der Presse neue Mit- theilungen über wachsende Notb und Erschöpfung der Getreide- vorräthe und des Viehstandes in den centralen Gebieten ent gegengesetzt. Eine dieser Mittheilungen hat Anlaß gegeben zur Maßregelung der „Peterburgskija Wjevomosti" des Fürsten Uchtomsky, der bisher wegen seiner Stellung zum Hofe für sacrosanct galt. Der Vorfall ist bezeichnend genug, um ausführlich berichtet zu werden. Graf Bobrinsky, Präsident deS Landschaftsamtes in Bogonovizk, Gouver nement Tula, hatte der Zeitung einen offenen Brief an den Gouverneur Kammerherrn Schlippe zur Veröffent lichung gesandt. Zn diesem Brief wurde dem Gouverneur der Vorwurf gemacht, daß er erst nach mehrmaliger Auf forderung den Nothstand des Kreises durch den Gouverne- mentSarzt habe prüfen lasten. Letzterer kehrte mit dem Bericht heim, der auch in die amtliche RegierungS- mittheilung ausgenommen wurde, daß er keine HungerSnoth gefunden und Alles wohlbestellt sei. Dem gegenüber erklärt Bobrinsky, der Arzt habe nur wenige Dörfer besucht, die gerade von der HungerSnoth verschont gewesen seien, und macht dem Gouverneur den Vorwurf berechneter Entstellung der Thatsachen. Den „PeterSb. Wjevomosti" wurde wegen Abdrucks dieses Briefes daS Recht deS Einzelverkaufs entzogen, mit der Begründung, die Redaction hätte wissen sollen, daß der Gouverneur als höchster Ver treter der Regierungsgewalt in der Provinz, sich nicht in Er klärungen über seine Handlungsweise und in eine Zeitungs polemik mit einer ihm unterstellten Amtsperson einlassen könne. — Die „Nowoje Wremja" stellt im Hinblick auf die fortschreitende Verödung deS centralen Rußlands, der einstmaligen Kornkammer Europas, die beachtenswerthe Thatsache fest, daß in den großrussischen Gouvernements die Einwohnerzahl nicht mehr zunimmt, wie früher, ja in einzelnen Provinzen wie Kursk, Woronesh, Tam bow eine Abnahme der Bevölkerung wahrnehmbar ist. Wir haben eS also hier mit einer ernsten wirthschast- lichen Krankheit zu tbun, die um so auffallender ist, al» in einigen südlichen Gouvernement», z. B. Cherson, die Bevölkerung sich in derselben Zeit verdoppelt hat. Eine ähnliche Verkümmerung weisen viele im Centrum gelegene Städte auf, auch sie zeigen eine stetige Abnahme der Ein wohnerzahl. Die Ursache liegt in der Verarmung deS Bauern, der außer dem Getreide, das er baut, nichts besitzt. Tritt Mißernte ein, so bat er nicht», womit er sich Getreide kaufen kann. Auch an Arbeit fehlt e» ihm, die ihm weder der gleichfalls verarmende Gutsbesitzer, noch die sich eben erst entwickelnde Industrie geben kann. Der Bauernstand bedarf in dieser Krisis kräftiger Staat-Hilfe. Ueber eine solche beräth seit geraumer Zeit ein Ausschuß, dock ist über den Fortgang seiner Arbeiten bisher nicht» zu hören. Ueber amerikanische» Völkerrecht veröffentlicht der be kannte BLlkerrechtSlehrer, Professor vr. Felix Stoerk in Greifswald in der „Deutschen Revue" einen auch al« Sonderabdruck herauSgegebenen Aufsatz, au» dem wir die folgenden Schlußsätze hervorheben: Wir haben an der Hand der Thatsachen zu zeigen gesucht, wie die nord amerikanische Union, gleichsam der reiche Emporkömmling im Kreise seiner abhängigen armen Verwandten, für das amerikanische Staatenleben ihr eigenartiges, vom europäischen scharf abweichendes Ordnungsprincip sich auszugestalten im Zuge ist. Es erheben sich damit neue und schwer zu überwindende Schwierigkeiten für die allseitige Ent wickelung und Bethätigung eines BerkehrSrechtS der Culturstaaten. DaS Völkerrecht als daS internationale Verwaltungsrecht in Krieg und Frieden beruht seinem innersten praktischen Wesen nach auf einem allseitigen, aus drücklichen oder doch mit Gewißheit vorauszusetzenden Ein- verständniß innerhalb eines zusammengehörigen Staatenkreises, daß jeder seiner Theile unter gleichen Umständen dieselben Impulse — so und nicht anders zu handeln — empfinden und auch bereits zur Zeit durch gleiche oder verwandte recht liche Anschauungen beherrscht werde. Löst sich ein Theil beharrlich und klar vom gleichen Schritt und Tritt, vom gemeinsamen Rechtssystem, ab, so verengert sich der Kreis der Rechtsgenossen. Aufgabe der wissenschaftlichen Beobach tung kann es nicht sein, die Thatsache zu verschleiern, weil sie Uebelstände im Gefolge hat; sie muß vielmehr auf die Uebelstände aufmerksam machen, die sich nothwendig aus der partikulären RechtSbilbung entwickeln müssen. Sondert sich die Union in ihrer künftigen Staatspraxis wie bisher immer mehr vom System der europäischen Staatengenossenschaft ab, sucht sie fortzuschreiten auf dem Wege eines partikulären amerikanischen Völkerrechtes, mit egoistischer Be tonung der Alleinberechtigung ihrer StaatSraison, macht sie weiterhin in Krieg und Frieden das gesammte WirtbschaftS- und RechtSleben der übrigen Culturwelt zum Object „smarter" Börsenspeculationen wechselnder Iutereffentengruppen, dann wird den Staaten der europäischen Welt am letzten Ende nichts übrig bleiben, als durch engeren Zusammen schluß in Consumtion und Production eine Coalition der alteren Cullur zu schaffen zum Schutze deS politisch und wirthschaftlich Schwächeren gegen ein System gewaltthätiger Hegemonie und cynischer Ausbeutung. Deutsches Reich. * Berlin, 1. Juni. Auf dem evangelisch-socialen Con- greß in Berlin wird in der Specialconferenz am Freitag, den 3. Juni, Nachmittags Fräulein Mellin über die weib lichen jugendlichen Gefangenen sprechen. Nach der Statistik deS Ministeriums deS Innern über die Straf anstalten betrug die Zahl der Zwangszöglinge nach 8 55 des Strafgesetzbuches, d. h. derjenigen, die das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, am 31. März 1897 überhaupt 10 542. Davon waren in Familien unter gebracht 5177, in Privatanstalten 3975, in öffentlichen An stalten 1390. Die dafür aufgeweudeten Kosten betrugen 1 468 591,71 wovon 733 269,97 zu Lasten de» Staates fielen. Von den Zwangszöglingen nach ß 56 deS Strafgesetzbuches, d. h. derjenigen vom vollendeten 12. bis zum noch nicht vollendeten 16. Lebensjahre, wenn sie noch keine Einsicht in das Verbrechen hatten, waren am 31. März 1897 im Ganzen 573 in den vier staatlichen Erziehungsanstalten untergebracht, wofür 205 966 Kosten aufgewendet wurden. Von den 573 Gefangenen waren nur 61 Mädchen, und zwar befanden sich in der staatlichen Zwangserziehungsanstalt Steinfeld, Regierungs-Bezirk Nacken 38, m der Anstalt zu St. Martin, Regierungs-Bezirk Coblenz 23 Mädchen; beide Anstalten waren bis jetzt für Knaben und Mädchen gemeinsam; seit dem 1. April 1898 aber sind die Mädchen, die früher in Steinfeld waren, in der für sie eingerichteten Erziehungs anstalt Gräfenrath untergebracht. — WaS die Ursachen der Zwangserziehung betrifft, so war, wie wir einer Zusammen stellung des „Hamb. Corr." entnehmen, eine der Gefangenen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, 4 wegen Unzucht, 34 wegen Diebstahls, 3 wegen schweren Diebstahls, 2 wegen Begünstigung und Hehlerei, 5 wegen Betrug», 1 wegen Brandstiftung, 4 wegen Landllreicherei und 7 wegen Bettelns bestraft. Der Grund der Verwahrlosung war bei 54 die Schuld der Eltern, 26 stammten auS Familien, in denen der Vater oder die Mutter mit Zuchthaus oder Gesängniß be straft worden waren, bei 12 war der Vater ein Trinker, nur in einem Falle war die Mutter truukfällig. Ehelicher Ge burt waren 55, nur 6 unehelich, 33 waren vor der Ein lieferung im Elternhaus« erzogen, 20 hatten unter häufigem Wechsel der Erziehung zu leiden gehabt, bei 35 war der Schulbesuch unregelmäßig. Die Zöglinge stehen zumeist im Alter von 13—15 Jahren. * Berlin, 1. Juni. Ueber die Färbung der Marga rine mit Sesamöl kommt aus Cbemikerkreisea eine Mit- theilung, nach der, wenn sich ihre Zuverlässigkeit ergirbt, daS Margarinegesetz sich als völlig unbrauchbar erweisen würde. Im milchwirthschaftlichen Institute zu Hameln sind nämlich über die sogenannte latente Färbung der Margarine mit Sesamöl, die bekanntlich vorgeschrieben ist, Versuche angeftellt worden, über die Herr vr. Siegfels in der „Chemiker-Zeitung" berichtet. Es bat sich ergeben, daß die vom Reichs-Gesundheitsamte vorgeschriebene Prüfung nur dann zuverlässige Resultate ergiebt, wenn sie bei höherer Temperatur vorgenommen wird, daß auck Butter, die auS der Milch der mit Sesamkuchen gefütterten Kühe gewonnen wird, bei dieser Prüfung die Reaction zeigt, die die mit Sesamöl „latent" gefärbte Margarine zeigen soll, daß daS Eintreten und die Intensität der Reaction bei solcher Butter von Zufälligkeiten abhängig ist, und die Reaction »och längere Zeit, in dem Stalle eines LandwirthS beispielsweise noch 20 Tage, nach dem Aufhören der Sesam- kuckenfütteruog einlritt. Zu diesen Ergebnissen bemerkt die „Milch-Ztg.": „Es ist nickt unbedenklich, eine derartige Reaction, welche unter Umständen durch reine Naturbutter hervorgerusen werden kann, zur Kennzeichnung der Margarine zu verwenden. Man mag wohl ein- wenden, daß bei den hier angestellten Versuchen nur in einem Falle eine intensive Reaction erhalten wurde, und daß die Intensität dieser Reaction doch bei Weitem nicht so stark ist, wie bei der Margarine. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Werth einer latenten Färbung Loch in erster Linie in der Erkennung einer Verfälschung von Naturbutter mit Margarine liegt, und zwar auch in der Erkennung einer Verfälschung mit relativ geringen Mengen. Zur Unterscheidung reiner Margarine von reiner Butter giebt es andere Mittel zur Genüge. Es liegt die Gefahr vor, daß ein ganz reeller Butter, producent oder Händler wegenButtersälfchung belangt wird, es liegt ferner die Gefahr vor, daß der wirkliche Fälscher die Thatsache, daß Sesamölreactionen bei unzweifelhaft reiner Butter er- halten werden können, als Ausrede benutzt, und bei der im Allge- meinen geübten Praxis der Gerichte wird er in den meisten Fällen damit durchkommen. An und für sich verliert die ganze latente Färbung mit Sesamöl ganz bedeutend an Werth dadurch, daß zu ihrer Feststellung ein Chemiker nothwendig ist, oder zum Mindesten ein vollständiges chemisches Laboratorium. Wenn die latente Färbung nicht von Jedermann mit den im Haushalte vorhandenen Mitteln zu erkennen ist, so ist ihr Werth für den kleinen Consumenten, und um dessen Schutz handelt es sich doch in erster Linie, illusorisch." Mit dieser Auslassung der „Chemiker-Ztg." ist daS Margarine-Gesetz wieder zur Discussion gestellt und eS ist von Neuem die augenscheinlich unüberwindliche Schwierigkeit zu Tage getreten, ein Mittel zu finden, da» zwar den Margarineschwindel lahmlegt, aber nicht die Verwerthung der Margarine als Nahrungsmittel unmöglich macht. — Der BundeSrath hat, wie s. Z. mitgetheilt, in seiner Sitzung vom 26. Mai neue Vorschriften über die Zollabfertigung von Mineralölen beschlossen, die mit dem 1. August in Kraft treten sollen. Wie die „Neuen Polit. Nachr." ausführen, bringen diese Vorschriften über die Zollabfertigung eine neue Anleitung zur Untersuchung der Mineralöle, und eine Anweisung für Vie Abfertigung von Mineralöl nach dem Raumgehalte. — In den Kreisen der kleineren Industriellen Berlins wird es, wie die „Nordd. Allg. Ztg." schreibt, mit Freuden begrüßt, daß neuerdings eine königliche Behörde, die bisher die Lieferung ihrer Bedürfnisse einer einzigen großen Firma anzuvertrauen pflegte, nunmehr ihre Aufträge in kleineren Partien verschiedenen Betrieben zuwendet, so daß diesen schwer um ihre Existenz kämpfenden Firmen Gelegen heit zur Beschäftigung ihrer Leute und Maschinen geboten wird, ohne daß daraus dem FiscuS durch höhere Preise ein Nachtheil erwächst. — Die Intendantur des Gardecorps fordert in einem Ausschreiben unter Ausschluß aller Zwischenhändler und Vermittler die leistungsfähigen Fachleute der Garnisonen und deren Umgebung zur Bewerbung um die Fleischlieferung für die Garnisonen Berlin, Potsdam, Charlottenburg und Groß-Lichterfelde ans. — Für den Ausbau des Hafens von Swakopmund ist im Etat eine beträchtliche Summe auSgeworfen worden. Nach langem Suchen ist zur AuSfübrung deS Baues der Marinebaumeister Born aus Ostpreußen gewonnen worden. Dieser ist der „Voss. Ztg." zufolge in die Colonialabtbeilung eingetreten, um sich mit dem dort vorhandenen Material bekannt zu machen und sich in die südwest-afrikanischen Angelegenheiten einigermaßen einruarbeiten. Ja einiger Monaten wird er nach Südwest-Afrika abreisen und mit dem Hafenbau beginnen. * Danzig, 1. Juni. Ein Berliner Blatt bringt au» Danzig die sehr auffällige Nachricht, daß auf der hiesigen Schichauwerft wegen augenblicklichen Arbeitsmangels etwa 700 Schlosser und Tischler entlasten worden seien. — Da da» ReichS-Marine-Amt soeben sehr bedeutende Arbeiten ver geben hat — der Kreuzer „L" ist, soviel bekannt, noch zu vergeben — so ist die Entlassung einer so großen Zahl von Werftarbeitern nicht verständlich. Die Nachricht bedarf daher der Bestätigung. r. Schmalkalden, 1. Juni. Im Wahlkreise Eschwege- Witzenhausen-Schmal kalben sind nunmehr vier Can- didaten aufgestellt: von den Couservativen, Freiconservativen und Nationalliberalen der Gutsbesitzer von Christen, de» bisherige Vertreter des Wahlkreises im Abgeordnetenhause, von den Antisemiten Pfarrer Is kraut, von den Freisinnigen Rechtsanwalt vr. Helfft auS Frankfurt a/M. und -von den Socialdemokraten der Cigarrenmacher Hugo in Eschwege. * Kattowitz, 31. Mai. Eine am ersten Psingstfeiertag» von der Centrumspartei einberufene, sehr stark besuchte Wählerversammiung wurde polizeilich aufgehoben, da die in der Mehrheit anwesenden Socialdemokraten Lärm erhoben, weil ihrem Candidaten MorawSki nicht daS Wort ertheilt wurde. Die Widerstrebenden rissen dem die Versammlung beaufsichtigenden Polizei-Jnspector die Achsel klappen herunter. Auch in Zabrze wurde Abends eine Wählerversammlung polizeilich aufgelöst. Die Socialdrmo- kraten sollen in geheimer Sitzung beschlossen haben, die gegnerischeu Versammlungen zu stören. Es herrscht hier große Erregung. (Schles. Ztg.) * Metz, 30. Mai. Die Metzer Akademie, 1766 gestiftet von dem Marschall Belle Isle, die über reiche Mittel ver fügt und ein Hauptherd deS Protestes ist, hat, der „Voss. Zt." zufolge, dem Pfarrer L'Huillier, dem Helden des Alberschweiler FronlcichnamsprocefseS, den Tugendpreis von 800 verliehen. (!) * Baden-Baden, 1. Juni. (Telegramm.) Der Groß Herzog und die Großherzogin von Baden sind heule Abend zum Frühjahrsaufenthalt hier eingetroffen. Die Kronprinzessin von Schweden wird morgen hier erwartet. * München, 1. Juni. Die Jahresversammlung der deutschen Landesgruppe der internationalen crimi- nalistischen Vereinigung wurde beute durch einen Be- grüßungSabend eingeleitet. Die eigentlichen Verhandlungen beginnen morgen im Justizpalast. * München, 1. Juni. (Telegramm.) Im Gesammt- ausschuß der Kammer der Abgeordneten kamen heute die Matrikularbeiträge zur Berathung. Dabei stellte der Referent Abg. Keßler (Centrum) eine Anfrage nach der Thätigkeit deS achten ständigen BundeSrathsaus- schusseS für auswärtige Angelegenheiten, in welchem Bayern den Vorsitz führt, und bemerkte, eS bestände die Meinung, daß dieser Ausschuß nur auf dem Papier stehe. Bayern möge im Bundesralb auf die größte Sparsamkeit hinwirken, um ein weiteres Anwachsen der Matrikularbeiträge zu verhindern. SlaatSminister Frhr. v. Riedel erwiderte, über die Thätigkeit des achten Bundes rathsausschusses werde wohl der Minister des Auswärtigen im Plenum Miltheilung machen. Er selbst könne übrigens constatiren, daß Bayern von der NeichSregierung stets in der loyalsten Weise über die auswärtigen Angelegenheiten in Kenntniß gesetzt werde. Ob dies in einem Ausschuß oder in anderer Form geschehe, sei nebensächlich. In der Sache sei Bayern nie zu kurz gekommen. Das Anwachsen der Matrikular beiträge bedeute für die einzelnen Staaten keine Mehr belastung, da den höheren Matrikularbeiträgen höhere Ueber- Weisungen gegenüberstehen. Mit der Reichssinanzreform, die man im Auge behalte, werde bezweckt, Matrikularbeiträge und Ueberweisungen auf gleicher Höhe zu halten. Auf Spar samkeit wirke die bayerische Regierung stets hin. Oesterreich -Ungar«. Graf Thun und die deutsche Opposition. * Wien, 1. Juni. (Ausführlich.) Die deutsche Opposition brachte heute die Auflösung des Grazer Gemeinderathes in scharfer Weise zur Sprache. Die deutsche Volkspartei brachte einen Dringlichkeitsantrag ein, wonach die Zurücknahme des Auf- lösungserlasses gefordert wird, und beschloß zugleich, salls das Haus die sofortige Verhandlung des Antrages ablehnt, sofort mit den schärfsten Kampfmitteln der Obstruction einzusetzen und die Ministeranklage gegen den Grafen Thun einzubringen. Die deutsche Fortschrittspartei sprach dem Ministerium Thun für seine immer offenkundigere deutschfeindliche Haltung die ent schiedenste Mißbilligung aus. Einen ähnlichen Beschluß faßten die Christ lichso cialen. In der Begründung des Verlangens auf sofortige Verhandlung jagte Hofmann, die Auflösung sei eine schwere Verletzung und eine beabsichtigte Herausforderung der Deutschen und überdies ungesetzlich. Die Opposition begleitete Hof- mann's Ausführungen mit zahlreichen Zwischenrufen: „In Prag hat man geplündert und geraubt, trotzdem wurde nicht aufgelöst! lich veröffentlicht werden; könntest Du nicht darüber sprechen auf dem Congreß?" „Du willst mich wohl auf meine alten Tage noch ehrgeizig machen. Kleine?" „Warum nicht? Jedenfalls finde ich, daß es Dir sehr gut thun würde, 'mal was anderes zu hören, als die Klagen Deiner Patienten, die Kannegießereien der Klützower Honoratioren und — das unbedeutende Geschwätz Deiner „Hausdame" Jndschi." „Meinst Du?" Und er entschloß sich wirklich, Jndschi's Rath zu befolgen. Am Tage nach seiner Abreise, es war ein Sonntag, wurde Jndschi von der Familie Kreßmann aufgefordert, sich an einem Nachmittagsspaziergang nach dem „Seeschlößchen" zu betheiligen. „Dräsels und Pastors kommen auch mit und Herr v. Langfaden. Es wird reizend." Jndschi waren solche „reizenden Massen-Spaziergänge" ein Gräuel. Sie suchte nach einer paffenden Ausrede, fand aber keine und sagte schließlich zu. Das Wetter war paradiesisch und der Restaurationsgarten des Seeschlößchens voll zum Ueber- quellen. Alle Klützower „Kreise" waren vertreten, vom Maurer gesellen bis zum Bürgermeister. Sie saßen an wackelbeinigen Tischen, auf harten Bänken, wennmöglich mit Aussicht auf den See, erstickten die holden frischen Frühlingsdüfte mit Tabaks qualm, Bier-, Kaffe- und Pomadengeruch, tranken, knabberten, gafften, spuckten, kicherten und schwatzten. Natürlich hatten sich die Damen Häckelarbeiten mitgebracht und den Kaffeekuchen in Papierdüten. Jndschi saß zwischen Frau Pastor Düsterling und Hanning Drösel eingeklemmt, hörte links eine schreckliche Geschichte an von einem Jungen, der am Hundewurm gestorben war, und rechts eine Beschreibung der Hungercur, welche das Borstewitz'sche Dienstmädchen auszuhalten hätte, und fühlte sich höchst unbehaglich, zum Weinen elend, einsam und sehnsüchtig. Sie war seit einiger Zeit so gereizt, innerlich erregt und mejan- cholisch; war's die nervenaufregende Frühlingsluft oder — daß nun der Flieder schon bald abgeblüht war, ohne den Ersehnten zu bringen? Nun spielten auch noch ein paar Geigen dort in dem kleinen Musikpavillon „Wenn ich mich nach der Heimath sehn!" und die zweite Violine queilte immer einen halben Ton zu tief! Und der Spritzkuchen am Nachbartische roch nach ranzigem Fett! Wie gern wäre Jndschi fortgelaufen, dort in den stillen hohen hellgrünen Buchenwald hinein; sie sehnte sich so nach Alleinsein! Aber auch für sie sollte noch eine Sonntags freude kommen. „Immer noch neue Menschen; na, die finden doch sicher keinen Platz mehr!" bemerkte Gutsbesitzer Drösel. Jndschi schaute nach dem Wege, der vom Seeufer hinauf führte. Da — endlich — der so lange Erwartete — Fritz Olfers, seine alte Mutter am Arm; der Vater folgte. Das alte Pärchen steif und bieder, ernster als gewöhnlich — im ehr fürchtigen Bewußtsein der guten Sonntagskleider! — aber stolz befriedigt; der Sohn sah etwas überarbeitet und ferienbedürftig aus; sein Gesicht war schmäler geworden. Als er Jndschi erblickte, wechselte er die Farbe und sah weg, spähete aber nach einem Platz in nächster Nähe des Kreßmann- Dräsel'schen Tisches und fand ihn auch. Dann erst grüßte er. Jndschi wunderte sich, daß er nicht gleich auf sie zukam. Sie beobachtete die kleine Familie von der Seite, neugierig und be fangen. So recht freuen konnte sie sich noch nicht, daß nun ihr Wunsch erfüllt war. Fritz kam ihr wie ein Anderer vor in Gegenwart der Eltern. Wunderlich, die beiden Leutchen hatten ihr damals, zu Hause, in ihrer Werktagsverfassung, so gut ge fallen, sie hatte sich ganz wohl denken können, daß man dem alten Tischler um den Hals fallen konnte, und heute aber, in dem geschmacklosen Putz erschienen ihr Meister Olfers und seine Frau ordinär. Wenn die gute Alte nur nicht beim Kaffeetrinken mit dem Daumen den Löffel in der Taffe festgehalten hätte und die Kuchenkrümchen mit der abgeleckten Fingerspitze vom Tische auf gelesen! Jndschi schämte sich der beklemmenden Empfindung, die sie dabei überkam, aber das half doch nichts. Jetzt erhob sich der junge Baumeister und trat an den Honoratiorentisch heran. Bereitwillig wurde ihm ein Platz zwischen Mariechen Kretzmann und deren Mama freigemacht. Da saß er nun und mutzte der Justizräthin liebenswürdig Rede und Antwort stehen! Warum aber Jndschi Körting auch gar nicht ein rxenig zur Seite ge rückt? Endlich benutzte er eine Pause im Gespräch, Gott sei Dank hatte sich die Justizräthin verschluckt und hielt hustend ihr Taschentuch vor den Mund, um über den Tisch herüber einige Fragen an das junge Mädchen zu richten. Sie erzählte ihm von des Onkels Reise nach Heidelberg. Unterdessen hatte sich die Verschluckte wieder erholt. „Nun, wenn Sie sich nur nicht zu sehr langweilen, so allein, liebes Jndschichen", sagte sie in süsslichem Tone, „aber Sie haben ja freilich Unterhaltung genug, die schönen Spazierritte mit dem Baron Romin —" Jndschi bemerkte, wie in diesem Augenblick sämmtliche Damen am Tische die Mundwinkel verzogen und wie Fritz Olfers lachende Augen sich verfinsterten. „Spazieren geritten bin ich nur einmal, Frau Justizrath, vorige Woche, und jetzt, während meines Onkels Abwesenheit habe ich mir so viele nothwendige häusliche Arbeiten vor genommen, daß ich nicht an Reitausflüge denke." Also hatte sie sich doch nicht geirrt? Damals, als Romin sie in Begleitung eines Grooms abgeholt — Armgard war ihnen bis zur Hälfte deS Weges von Ströbenhagen entgegengekommen und sie hatten zusammen einen mehrstündigen herrlichen Ritt durch die umliegenden Forste gemacht —, da war es ihr vorgekommen, als ob die Bekannten, denen sie zu Pferde begegnet, so sonderbar spöttische Gesichter gemacht hätten. Sie hatten also gegen die gute Sitte Klützows verstossen! Lächerlich! Und sie hatte sich doch wirklich nichts vorzuwerfen. Romin war häufig in der Stadt gewesen, seit seiner Wiedergenesung; Jndschi hatte freund lich, aber kühl mit ihm verkehrt; er war ihr so vollständig gleich- giltig — darüber mutzte er sich auch nachgerade klar geworden sein —, aber sie mochte ihn nicht verletzen, die Ströbenhagener erwiesen ihr Beide so viele Freundlichkeiten, und außerdem that ihr der Baron leid. Er konnte sich gar nicht recht erholen; der Sanitätsrath meinte, seine Lunge sei angegriffen, den nächsten Winter müsse er im Süden verbringen, und so empfand sie die Nachsicht für ihn, die man einem Leidenden, Gefährdeten zollt. Lautes wieherndes Lachen, welches von einem anderen Tische her klang, zog jetzt die Aufmerksamkeit der Gesellschaft an. Dort saß eine Anzahl Maurergesellen hinter ihren Bierseideln. Einer davon, ein kleiner zarter Mensch, schien Gegenstand des allge meinen Amüsements zu sein. Eben hatten sie ihn auf ein vor übergehendes Mädchen aufmerksam gemacht, und während er sich umschaute, schüttete sie ihm Cigarrenasche in sein Bier. Zuerst wollte er böse werden, aber als sie ihm dann versicherten, so schmecke das Bier erst recht gut, er solle es nur mal versuchen, trank er es geduldig aus. „Das ist ja der schwachsinnige Maurergesell, den ich schon öfters bei der Arbeit beobachtet habe", sagte Jndschi, „die Anderen hänseln ihn beständig — armer Kerl — und neulich hatten sie „aus Spaß", wie er sagte, mit zerbrochenen Ziegeln geworfen, so daß er mit einem blutigen Loch in der Stirn zu meinem Onkel kam. Er fällt mir immer auf durch sein merk würdig aristokratisches Aeußeres." „Was — der — mit dem blöden Ausdruck?" meinte Fritz Olfers erstaunt. „Ja — aber die Gesichtsbildung — die Nase — ein echtes Raffegesicht! Und sehen Sie nur die schlanken kleinen Hände — der lancirte Wuchs — sonderbar." „Vielleicht gar nicht so sehr sonderbar", kicherte die jüngere Dräsel, „der blöde Max soll ja von vornehmer, sogar fürstlicher Herkunft sein." Aber Lening —", verbot ihr die Schwester den Mund. Aber so halblaut, mit versteckten Anspielungen —' wurde die vermuthliche Abstammung des Schwachsinnigen doch noch weiter erörtert, und Fritz Olfers ärgerte sich, daß Jndschi ein so scharfes Auge für die Merkmale blauen Blutes besaß und den armen degenerirten Gesellen mit so augenscheinlicher Theilnahme betrachtete. „Liebling, denkst Du auch an unseren Jungfrauenabend?" mahnte jetzt Frau Pastor Düsterling ihren Gatten. Er sah auf seine Uhr und dann — recht betrübt — auf das eben frisch gefüllte Seidel. „Ja, Du hast recht, es ist allerdings die höchste Zeit, ja", und mit einem majestätischen Zug leerte er das Glas, „aber bitte, lassen sich die Herrschaften nicht stören!" Nach einem großen Aufwand von Händedrücken, mildem Lächeln und wohlwollend-herablassendem Knurren hatte sich das geistliche Paar entfernt, und nun, bei der allgemeinen Tisch-Re volution war Fritz Olfers ganz zufällig aus die andere Seite der schmalen Brettertafel neben „Sanitätsraths Türkin" ge- rathen. Gott sei Dank, endlich! Kaum hatten die Beiden fünf Minuten so dicht beieinander gesessen, da war auch plötzlich Alles weggeweht, was sich vorhin leise entfremdend zwischen sie gestellt. Sie waren wieder ganz allein miteinander, allein und glücklich. So viel hatten si» sich zu erzählen, als ob sie seit Jahren gewohnt gewesen, einander Rechenschaft zu geben von jedem ihrer Schritte. Immer wieder Neues kam zum Vorschein, was sie heimlich in ihren Seelen aufgespeichrrt für diesen Moment. Unglaublich, wie waren sie nur so eng vertraut, so innig befreundet geworden seit jenem Kaisers Geburtstags abend, und hatten sich doch die ganze Zeit über nicht gesehen, noch geschrieben? Und wie war jetzt plötzlich Alles verändert ringsumher! Wie poesieüberstrahlt erschien dem jungen Mädchen mit einem Male dieser bier-, tabak- und spritzkuchenduftende Restaurationsgarten, wie gut und harmlos vergnügt all' diese Sonntagsmenschen in ihrem niedrigen Behagen! Und so alr- väterisch-gemüthlich, ganz wie ein holländisches Genrebild aus dem siebzehnten Jahrhundert sahen die beiden Tischlersleutchen aus, die dort hinter ihren plumpen Riesenkaffeetaffen hervor freundlich schmunzelnd nach ihrem tiefversunkenen „Frihing" herüberblinzelten, der ganz vergessen zu haben schien, daß er mit seinen alten Eltern aufs Seeschlößchen gekommen war. Ja, Alles hatten die Beiden vergessen, sogar daß eine ganze Gesell schaft ansehnlicher, hochachtbarer Leute um sie herumsaß, Justiz raths und Dräsels und viele, viele andere scharfe Augen; sie achteten gar nicht mehr auf die Anderen, nein, sie waren, nach allgemeiner Ansicht und leider sehr berechtigter, ganz unglaub lich rücksichtslos! Aber man unterbrach sie nicht, sondern hörte nur sehr genau zu, was sie sich zu sagen hatten, zeichnete Vieles davon, als sehr eigenthümlich, emancipirt, freigeisterisch, frivol, geradezu unpassend in seinem Gedächtniß auf, weiblicherseiti für den nächsten Vormittagscommers bei Tanting, männlicher seits für den morgigen Skatabend, und mahnte erst, al- es schon kalt und feucht vom See her wehte, das „taktlose" Pärchen zum Aufbruch. Gute Menschen, die Klützower. (Fortsetzung folgt.)