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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zifferasatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung -XL 60.—, mit Postbesörderung 70-—- Annahnuschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets an die Expedition zu richte». Druck und Verlag vou E. Polz in Leipzig. Sonntag den 19. Juni 1898. Aus -er Woche. Zwei „W" stehen auf der Etikette der verflossenen Woche: Wahlen und Weihrauch. Obwohl das Wahlbild im Ganzen noch verschwommen, zeigt es doch schon einige genau erkennbare Züge auf, und der Weihrauch qualmte so dick, daß er Leuten, die unter Kaiser Wilhelm I. und dem Fürsten Bismarck ausgewachsen sind, in die Augen biß. Freilich, wenn man gewisse Zeitungen liest, so war auch von 1864 bis 1888 in Deutschland nichts zu rühmen. Erst vor zehn Jahren hat BewunderungswertheS in die Erscheinung zu treten begonnen. Die „Nordd. AUg. Ztg." findet, daß Deutschland an dem Tage, „wo das zweite Lustrum der Negierung Wilhelm's II. schließt, Deutschland im Kreise der Großstaaten mächtiger dasteht, als jemals seit dex Aufrichtung des Reiches". Die „Post" drückt sich ähnlich aus, beide Blätter, ohne gleichzeitig deS Hintritts Kaiser Friedrich's mit einem Worte zu gedenken, «nd sogar eine Zeitung wie die „Tägl. Rundschau" streut Redeblumen, die dem ersten Kaiser selbst au seinem 25 jährigen Regierungsjubiläum nicht dargebracht worden sind und die der schlichte Herr wohl auch mit nichts weniger als dankbarem Blick angesehen hätte. Wir zweifeln aber nicht, daß auch sein Enkel nicht das Gefühl sonderlicher Achtung vor der Discoutirung einer Genialität hat, die in einem Jahrzehnt gesprochener und gehandelter politischer Apercus nicht hervorgetreten ist. Jedenfalls sind patriotischer als die byzantinischen Rhe toren die „Berl. Neuesten Nachr.", wenn sie schreiben: „Die Handlungen und Charakterzüge des Kaisers, soweit sie nach außen erkennbar, sind vielfach der Kritik ausgesetzt gewesen. Eine unparteiische Geschichtschreibung wird eine große Reihe von Fehl griffen verzeichnen, auch der beste Wille und der regste Eifer unter liegen der Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge. Aber es wäre unrichtig, daneben zu verschweigen, Laß seine Eigenart auch viele Sympathien» namentlich in der jüngeren Generation gesunden hat. Ueber Recht und Unrecht entscheidet auch in diesen Dingen der Erfolg." Der Kaiser für seine Person hat am Erinnerungstage seines Regierungsantrittes ängstlich den Schein vermieden, als wolle er gefeiert werden, und bat Erörterungen nur veranlaßt durch die Berufung der Rectoren dreier technischen Hochschulen ins Herrenhaus, einen ebenso willkommen ge heißenen als vom Monarchen glücklich begründeten Schritt. Der Lobspruch auf die Technik steht am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dem Herrscher eines gewerblich hochstehenden Reiches und dem obersten Befehlshaber eines unausgesetzt nach Vervollkommnung der Waffen ringenden Heeres wohl an. Man muß mehr die iiumaniora als die Immunu ver ehren, um durch die kaiserliche Anerkennung mit einem gewissen Mißbehagen erfüllt zu werden. Es giebt aber auch solche Käuze. Unmittelbar vor den Wahlen ist eine Reihe von Zeitungen des trocken gewordenen politischen Tones satt geworden und hat der Welt recht saftig zubereitete Krisen gerächte servirt. Es sollten wieder Differenzen im Schooße der Regierung entstanden sein, Herr vr. v. Miquel soll mit dem Grasen Kauitz uod vr. Hahn regieren wollen, Fürst Hohenlohe und Herr v. Bülow diesen Tabak aber zu stark finden rc. Wir würden die Dinge nicht abermals erwähnen, wenn wir nicht überzeugt wären, daß ihnen mehr als müßige Erfindung zu Grunde läge. Erfunden sind sie, aber nicht als journalistische Lückenbüßer, sondern um Mißtrauen und Perwirrung zu stiften. Daß dabei der Umstand, daß der Kaiser sich demnächst wieder längere Zeit in der numerisch beschränkten Umgebung einer Schiffsgcsellschaft befinden wird, in Rechnung gezogen ist, darf nach früheren Erfahrungen als recht wahrscheinlich gelten. Ohne Feuer ist der Rauch nicht, nur ist das Feuer sicher kein gouvernementales. Die wiederholt erwähnte Be richtigung, besser: Rectificiruug des Reichskanzlers in der „Kreuzztg." wegen seines an den Prinzen Schönaich-Carolath gerichteten Briefes wird fälschlich auf ministerielle Kreise zurückgeführt. Sie war rin Wahlmanöver zu Gunsten des Herrn v. Heydebrandt, das allerdings nickt in der Redaction der „Kreuzztg." ausgeheckt worden sein dürfte, aber, wenu überhaupt auf beamtete, so doch auf subalterne Urheber zurückweist. Die Berliner Lei tung des Bundes der Landwirthe läßt das, waS man ihren Preßorganen nicht glaubt, jetzt anderwärts sagen. Ja fast mit denselben Worten und, da „der Stil der Mensch ist", wohl auch von denselben Leuten. Die Verpflanzung des Gewächses in weniger — bekannten Boden ändert aber an der Beschaffenheit nichts. So lange die Behauptung des „Hann. Courr." als jüdische Erfindung discreditirt und nicht widerlegt wird, so lauge besteht die an Gewißheit grenzende Bermutbung, daß der Bund einen Düngerwucher mit seinen Mitgliedern getrieben babe. Daran ändern alle Diversionen nichts. Daß die „Mehlgeschichte" auch von Berliner Blättern wiedergegeben worden ist. die der Börsencorruption dringend verdächtig sind, beweist nichts gegen die Wahrheit. Man warte übrigens ab, ob die Sache nach den Wahlen, wenn also die Beschuldigung des „ManövrirenS" hinfällig geworden ist, einschlafen wird. Die ReichStagswahlen sind nicht beendet und noch nicht einmal in allen ihren definitiven Ergebnissen bekannt. Trotz dem steht schon Einiges sest. Das Brodvertheuerungs- und das Wahlrechtsbedrohungsgeschrei hat, wenn überhaupt, nur der Socialdemokratie genützt, die Herren Vr. Hahn und Genossen haben nicht für das Agrarierthum, sondern für Welfen und Umstürzler gehetzt, Wahlbeeinflussungen haben, vom Agitatoren-Terrorismus abgesehen, nur ganz vereinzelt stattgefunden. Ist dock der größteJZndistrielle Deutschlands am Orte seiner hauptsächlichen Betriebe von einem Redactenr geschlagen worden. Ferner steht fest, daß fast keine Partei davon verschont geblieben ist, mit jeder der anderen Parteien Stichwahlschlachten schlagen zu müssen. Dem entspricht die Möglichkeit, mit jeder Partei zu pactiren; der Verlockung dazu zu widerstehen, wird für Viele nicht leicht sein. Während die „Kreuzztg." sich mit tadelloser Correctheit über die Stichwahlen-Politik ausgesprochen hat, scheint der Freisinn wieder fremde Hilfe gegen die Social demokratie zu beanspruchen, nicht aber sie Anderen gegen die selbe gewähren zu wollen. Dem gegenüber ist vielleicht die Erinnerung am Platze, daß Herr Richter selbst noch durch geworfen werden kann. Endlich steht noch fest, daß man dem Nationalsocialismus nirgends Geschmack abzugewinnen ver mochte. Er hat in seinen drei zu „Capitalcn" ausersehenen Städten nicht einmal einen AnstandSersolg davougetragen. Deutsches Reich. * Leipzig, 18. Juni. Im Leitartikel des heutigen Morgeu- blatteS haben wir an einem Beispiele gezeigt, wie das socialdemokratische Centralvrgan, der „Vorwärts", mit der deutsch-socialen Neformpartei umspringt. Heute sei zu Nutz und Frommen der hiesigen Anhänger dieser Partei mitgetheill, welche Ehrentitel ihr die socialdemokra tische „Sächsische Arbeiterzeitung" anhängt. Dieses Blatt triumphirt über die „Niederwerfung der Deutsch- Socialreformer durch die Dresdner Arbeiterschaft", prophezeit, daß es „für die Antisemiten in Dresden kein Aufstehen mehr giebt", und holt dann aus dem socialdemokratischen Schimpf lexikon eine Anzahl der ihm am meisten zusagenden Krast- ausdrücke hervor, um sie zu folgenden Sätzen zu verflechten: „Damit ist dem politischen Humbug, der zahlreiche Hand werker verwirrte und bethörte, ein Ende gelegt. Mit eiuem eisernen Besen haben die Dresdener Arbeiter dieses politische Zerrbild — vorn Hund und hinten Fisch — aus dem Weichbild der Stadt gekehrt. Seines Stützpunkts in der großen Industriestadt beraubt, muß der Antisemitismus sich in die rück- ständigsten Bauernlöcher zurückzichen und dort ver kümmern." Jedenfalls gebt aus diesen Schimpfereien klar hervor, daß das socialdemokratische Blatt auf keine einzige deutschsociale Stimme für einen socialdemokratischen Eanoidaten bei den Stichwahlen rechnet. * Berlin, 18. Juni. Ein Theil der Presse sucht gegen den Grafen Posadowsky daraus Angriffsmcuerial herzu leiten, daß vor den Wahlen zwar eine Reform der Jnvali- ditäts- und Altersversicherung, des Privat-Ver- sicherungsrechts rc. in Aussicht gestellt sei, nach den Wahlen aber würden alle diese Versprechungen der Vergessenheit anheimfallen; vielmehr muffe man sich auf die Verstaatlichung der Reichsbank, auf die Gefährdung der Goldwährung gefaßt machen. Das sind, wie die „Süddeutsche R. - K." schreibt, geradezu lächerliche, absolut aus dec Luft gegriffene Be hauptungen, die nicht durch eine einzige Thatsache ihre Bestätigung finden. Es ist zweifellos, daß eine Reform der Jnvaliditäts- und Altersversicherung sowie eine Regelung des Privatversicherungswesens dem neuen Reichstage sehr bald nach seinem Zusammentritt werden vorgelegt werden können. Im klebrigen hat der Staatssecretair des Reichsamts des Innern bisher stets Das gehalten, was er in Aussicht gestellt hat, was sich seit Anbeginn seiner Thätigleit im Reichsdienste an zahl reichen Beispielen beweisen läßt. Selbstverständlich muß er die Zustimmung der verbündeten Regierungen haben. Den Ge 92. Jahrgang. danken der Verstaatlichung dec Reichsbank hat in der Budget commission des Reichstages selbst der Abg. v. Kardorff fallen lassen und unseres Wissens giebt es kein Mitglied innerhalb der Neichsregierung, welches diesem Project bisher auch nur das ge ringste Entgegenkommen gezeigt hätte. Was endlich die Wäh rungsfrage betrifft, so hat, wie sich aus dem Protokoll der sog. Silberconferenz ergiebt, in dercn Sitzungen Graf Posadowsky seiner Zeit den Vorsitz führte, Abg. Bamberger am Schluß der Conferenztagung in einer längeren Rede ausdrücklich anerkannt, mit welcher unparteiischen Sachlichkeit die Verhandlungen von dem damaligen Staatssecretair des Reichsschatzamts geführt waren. Es ist seitdem nichts vorgckommen, was darauf schließen ließe, daß Graf Posadowsky innerhalb der Reichsregierung oder sonstwie etwas gethan oder geäußert hätte, was auf seine Ge neigthcit zur Abänderung unserer Währung schließen ließe. * Berlin, 18. Juni. Die staatsrechtliche und völkerrechtliche Stellung des Kiautschau- gebietes erörtert der Heidelberger Professor Di-. Jellinek in einem Aufsatze der „Deutschen I u r i st e n z t g.". Tie staatsrechtliche Stellung des Gebietes sei durch den kaiserlichen Erlaß vom 27. April 1898 völlig bestimmt. Es sei ein deutsches Reichsschutzgebiet, auf das alle für die deutschen Schutzgebiete erlassenen gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen Anwen dung finden. Anders verhalte es sich mit der völkerrechtlichen Stellung des Kiautschaugebietes. Da das Gebiet nicht an Deutschland völlig abgetreten, sondern ihm nur verpachtet ist, so bleibe die chinesische Souveränetät dort bestehen. Die im Kiautschaugebiete wohnenden Chinesen blieben Unterthanen Chinas und hätten ihre Staatsangehörigkeit nicht zu Gunsten einer Schutzgebietsangehörigkeit verloren. Das Pachtverhältniß bietet nach Jellinek eine interessante völkerrechtliche Frage. „Bis her hat das Völkerrecht von Pachtverträgen nichts gewußt. Es sind nirgnds die objectiven Normen zu finden, nach denen völker rechtliche Pachtverträge zu beurtheilen wären. Nach den auf dem europäischen Continente geltenden Rechten besteht die Pacht in der vertragsmäßigen Einräumung von Sachen zur Benutzung und Fruchtziehung auf Zeit gegen einen Pachtzins. Diesem privatrechtlichen Begriff der Pacht entspricht das in Rede stehende Verhältniß in zwei Puncten nicht. Es ist weder eine Fruchtziehung möglich, es sei denn, daß man eine Besteuerung als deren Aequivalcnt ansähe, was aber publicistisch sicherlich nicht angängig ist, noch ist ein Pachtzins vereinbart. Es ist nun höchst wahrscheinlich, daß der Typus der Pacht, wie ihn das englische Recht entwickelt hat, dem Vertrage zu Grunde gelegt wurde. Die englische Verpachtung (Ioa»cr) besteht in der Uebkc- tragung von Land von Seiten des Besitzers auf kürzere Zeit, als dessen Besitzrecht währt. Sie unterscheidet sich von der Ueber Weisung (gssi^nemenk), die unserer Tradition entspricht, nur durch die zeitliche Begrenzung und den Vorbehalt des Rückfalles. Ein Pachtzins ist kein Essentiale, sondern nur ein Naturale der englischen Pacht. Auch die Pachtzeit von 99 Jahren deutet auf das englische Vorbild . . . Verhält es sich aber derart, so ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entstehungsgeschichte völker rechtlicher Begriffe geliefert. Es wird ein bisher nicht, vor handenes völkerrechtliches Rechtsgeschäft abgeschlossen, indem ohne Weiteres die privatrechtlichen Normen eines bestimmten Landrechtes als die dem Geschäfte entsprechenden angesehen Feuilleton. Der Sport in der Touristik. Eine hygieinische Betrachtung zur Reisezeit von vr. H. E. Brendel. Nachdruck verdolrn. „'Tampsschnaubend Roß, seit Du geboren, Tie Poesie des Reisens flieht!« So klagt in beweglichen Tönen Justinus Kerner über den Verfall der Reiseromantik, über das hastige Durcheilen jeder Landschaft mittels der Eisenbahn, die uns höchstens einen flüch tigen Anblick, niemals ein behagliches, ruhiges Genießen der Schönheit von Berg und Thal, von Wald und Feld gestattet, wie einst zu jener „guten alten Zeit", in der man gemächlich auf Schusters Rappen durch die Welt pilgerte oder von den hohen Sitzen der Postkutsche aus die Wunder der Natur beschaute. Zweifellos liegt in dem Kerner'schen Stoßseufzer ein gutes Stück Wahrheit, wenn er auch in einseitiger Auffassung übersieht, daß es erst durch die schnelle Eisenbahnbeförderung uns ermög licht oder mindestens wesentlich erleichtert wurde, auch die Schön heiten weiterer Gegenden, nicht nur des engeren Wohnbezirkes zu genießen. Und so haben auch die Fußwanderungen, nament lich die Gebirgswanderungen, in den letzten Jahrzehnten einen von dem Dichter sicherlich nicht geahnten Aufschwung genommen, trotz des dampfschnaubenden Rosses, oder vielleicht gerade in Folge der Erfindung dieses Ungethüms. Wer aber aufmerksam die an sich erfreuliche Aufwärtsent wickelung unserer Touristik verfolgt, dem wird es nicht entgangen sein, daß ihr in der letzten Zeit eine neue Gefahr droht, die nicht nur die gesundheitliche Bedeutung der Fußwanderungen illusorisch zu machen droht, sondern auch gerade der Poesie des Reisens, dem eigenthümlichen Zauber, den jede Wanderung in schöner Gegend auf uns ausübt, schädlich wird. Diese drohende Gefahr, von der ich hier sprechen will, ist ein Ueberhandnehmen sportlicher Gelüste bei allen Touren, ein Verlangen nach extensiver Wanderung auf Kosten intensiven Genießens, kurz ein Sieg der Quantität über die Qualität. An sich giebt es wohl kaum ein Ding auf der Welt, bei dem man so mit Recht behaupten kann, daß man das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet, wie eine rationelle Fußwanderung. Vielleicht könnte man als eine ähnlich« Verbindung den Genuß von Austern und Astrachaner Kaviar erwähnen. Denn sie haben einen sehr hohen Nährgehalt, sind also nützlich, und schmecken — wer wollte es bestreiten? — höchst angenehm. Aber sie sind recht theuer, und das ist unangenehm. Bei einer Fußwanderung fällt sogar diese Unannehmlichkeit fort. Sie ist billig, da sie höchstens Stiefelsohlen kostet, sie ist nützlich, denn sie stärkt unsere Mus kulatur, fördert unseren Blutumlauf und kräftigt unsere Lunge, und sie ist schließlich angenehm, da sie uns die abwechselungs reichen Eindrücke fremder Gegenden erschließt. Und ein em- vfängliche», nicht allzu sehr in des Alltags Sorgen und Einerlei verdüstertes Gemiith wird überall stimmungsvolle Schönheiten der Natur finden, ganz gleich, ob er bei lustigem Vogelsang und glitzerndem Sonnenschein durch die lichtgrllne Frühlingspracht eines Buchenwaldes wandert, oder ob ihn das majestätische Schweigen dunkler Tannenwaldungen umfängt, oder ob er sich der träumerischen Melancholie eines weiten endlosen Haidelandes hingiebt. Nicht die Natur an sich ist schön, sie wird nur schön durch Das, was wir an Stimmung und Empfinden in sie hinein legen. Wir dürfen nicht vergessen, daß dies freudige Genießen von Naturschönheiten eine noch nicht einmal alte Errungenschaft der Cultur ist, daß namentlich das Verständniß für die gewal tigen, herzerhebenden Schönheiten der Grbirgswelt nur wenig älter als ein Jahrhundert ist. Wir werden immer finden, daß die einfache ländliche Bevölkerung der schönsten Gegenden die herrlichsten, oft ganz nahe liegenden Puncte gar nicht kennj, nicht aus Zeitmangel oder aus einem Gefühl der Uebersättigung an Naturschönheiten heraus, sondern lediglich wegen eines völligen Mangels an Verständniß für Das, was uns schön und reizvoll erscheint. Der Dorfbewohner sieht in einer Gebirgstour nur eine Beschwerde und begreift es nicht, wie Jemand zum Ver gnügen diese Beschwerde auf sich nehmen kann. Aber gerade weil wir Kinder einer fortgeschrittenen Cultur für die geheimnißvollen Reize und Schönheiten der Natur em pfänglich sind, wollen wir auch Sorge dafür tragen, daß uns dieser Sinn nicht wieder abhanden kommt; und deshalb wollen wir auch gegen alle Auswüchse der Touristik, die ihrem ganzen Wesen schädlich werden können, von vornherein Stellung nehmen, nicht nur derjenigen wegen, die sich durch Uebertreibungen selbst schädigen, sondern mehr noch derjenigen wegen, bei denen das schlechte Beispiel ansteckend wirken könnte. Wie ich schon Eingangs erwähnte, liegt die Gefahr vor, daß der gesunde Sinn, die naive Freude an der Fußwanderung, und nicht zum Mindesten auch die gesundheitsfördernde Wirkung der Touristik unter allerhand Sportgelüsten leidet. Das ist an sich nicht wunderbar. Die sportlichen Neigungen und Be strebungen, die von jenseits des Canals zu uns herübergekommcn sind und bei uns unter mächtiger Führung rasch und über raschend emporgediehen sind, machen sich in allen möglichen Gebieten unseres socialen Lebens breit. Das mag in mancher Beziehung erfreulich sein, in mancher sogar nützlich, oft aber auch bedauerlich; denn der Sport drängt sich auch in Gebiete, in die er nicht hingehört. So ist es z. B. nicht wegzuleugnen, daß allmählich immer mehr das schlichte, einfache Turnen, wie es die Begründer des modernen Turnwesens in gerechter, verständ- nißvoller Würdigung der antiken Gymnastik als würdiges, eben bürtiges Seitenstück für die geistige Entwickelung unserer Jugend sich gedacht haben, sportlichen, einseitigen Uebungen weicht. Das simple Turnen langweilt unsere Jugend, und sie kann noch dazu sicher sein, von Seiten der meisten Lehrer Anerkennung zu finden, wenn sie statt einer allgemeinen, dem Gesammtorganismus nützenden Ausbildung, völlig einseitig, etwa im Rudern, oder im Schwimmen, eine „Meisterschaft" erlangt. Und ähnlich, wie im Turnen, liegt es in der Touristik. Eine fröhliche Wanderung in behaglichem Tempo, gewürzt durch heitere Lieder, wird immer seltener; immer mehr tritt das Be streben hervor, bei der Wanderung irgend eine besonders statt liche Leistung nach irgend einer Richtung hin zu vollbringen, etwa eine bestimmte Zahl Kilometer an einem Tage, oder eine andere Zahl ohne Unterbrechung, oder — lagt not leust — eine möglichst schwierige Tour unter möglichst ungünstigen Auspicien doch zu gedeihlichem Ende zu bringen. Hierbei ist zu bedenken, welchen enormen Einfluß das moderne Radfahrwesen auf unsere Touristik ausgeiibt hat. Ver nünftigerweise kann man das Radfahren doch nur als eine be sondere Abart der gewöhnlichen Fußwanderung betrachten. Denn die Anschauung, daß das Fahrrad unter die Kategorie der Fuhr werke gehöre, in denen ein Mensch befördert wird, kann eigentlich nur in dem Kopfe von Bureaukraten aufkommen, die eine Be steuerung oder Nummernzwang oder eine andere Annehmlichkeit für Radfahrer planen. In Wirklichkeit ist das Fahrrad doch nur ein Mittel, um in leidlich ebener Gegend durch die Kraft der eigenen Füße und Beinmusculatur sich genau so wie bei einer gewöhnlichen Fußwanderung fortzubewegen, nur daß man 2—3 Mal so rasch vorwärts kommt. So würde an sich das Fahrrad die idealste Bezeichnung der Touristik darstellen; denn ohne daß es uns mit der Geschwindigkeit des „dampfschnaubenden Rosses" den Genuß der durcheilten Landschaft verkümmert, er möglicht es uns landschaftliche reizlosere Gegenden schneller zu durcheilen, um nachher in schöneren um so länger verweilen zu können, ermöglicht es uns, die Schönheiten entfernter Gegenden in behaglichem Dahinfahren voll zu genießen und jeden Moment, unabhängig von den vorgeschriebenen Stationen einer Eisen bahn oder Postkutsche, abzusteigen und an dem schönsten Puncte beliebig lange zu verweilen. Das wäre der Jdealzustand; in Wirklichkeit gehen moderne Touren ganz anders vor sich. Ich übergehe ganz jene Art von Touristen, deren Fuß- oder Rad wanderung nur ein Spaziergang von Kneipe zu Kneipe ist. Ich spreche vielmehr von jenen, die noch besonders stolz auf ihre wirklichen touristischen Leistungen sind. Ob die Tour zu Fuß oder zu Rad angetreten wird, so wird zunächst ein möglichst weiter Ziel, das allerdings meist besondere landschaftliche Schön heiten aufweist, gewählt. Dann aber gilt es dieses Ziel so schnell wie möglich zu machen, und wenn es irgend geht, irgend einen Record zu schlagen. Wenn Bekannte den Weg in 5 Stunden und 50 Minuten zurückgelegt haben, so ist man von dem Stolze eines Triumphators beseelt, wenn man ihn in 5 Stunden 49 Minuten zurücklegt. Natürlich hat man bei der Eile, mit der man dem Ziele zustrebt, kaum Augen für die Natur ringsum, sondern nur Interesse für die Uhr und den Padometer oder einen ähnlichen sinnreichen Mechanismus. Und ist man dann an dem schönen Ziele angelangt, so ist man viel zu abgehetzt und abge spannt, um Freude an den Reizen der Landschaft zu haben. Der ermattete Körper verlangt sein Recht, und vor dem Interesse für Speise und Trank verschwindet jedes Andere. Daß dann leicht, ebenso wie vorher bei der Wanderung, auch bei der Nahrung aus dem Maß ein Uebermaß wird, ist nur zu leicht möglich. Dann aber wird auch bei der Rückwanderung jeder Genuß schwinden. Diese Uebelstände sind vorläufig beim Rad fahren noch unvergleichlich häufiger als bei der Fußwanderung, aber sie bürgern sich bei ihr auch immer mehr uick mehr ein. Will doch der Fußwanderer „sportlich" nicht zu sehr hinter dem Radler zurückstehen. Daß neben dem fehlenden ideellen Ge winn bei einer solchen Wanderung auch gesundheitsschädliche Wirkungen statt der gesundheitsfördernden zu erwarten sind, liegt auf der Hand. Statt der Kräftigung der Musculatur tritt eine Muskelübermüdung ein, die oft tagelang anhält; statt der nor malen Lungenausdehnung eine Weitung, die schließu^., zu chronischer Lungenerwciterung führen kann; statt der Förderung des Blutumlaufs werden Ansprüche an die Leistungsfähigkeit deS Herzmuskels gestellt, denen er auf die Dauer nicht gewachsen ist. Daß das Alles bei gesundheitlich nicht ganz Jntacten noch viel gefährlicher ist, liegt auf der Hand. Trotzdem kann man cs wieder und immer wieder beobachten, daß Leute, die unterwegs schlaff werden, von ihren Gefährten rücksichtslos ohne Vermin derung des Tempos weiter fortgeschleppt werden. Es ist unvernünftig, mehr als sechs, höchstens sieben Stunden an einem Tage zu marschiren und zwar in einem Tempo von 4,5, höchstens 5 Kilometern in der Stunde. Ebenso sollte der normale Radler, der Genuß und Gewinn von seiner Tour haben will, nicht mehr als 60, höchstens 80 Kilometer radeln, mit einer Geschwindigkeit von etwa 15, höchstens 18 Kilometern in der Stunde. Was darüber hinausgeht, ist eben nicht mehr einfache Touristik, sondern sportliche Leistung. Nun läßt sich natürlich auch gar nichts dagegen einwcnden, daß im gegebenen Falle der Eine oder der Andere — völlige Gesundheit vorausgesetzt — auch größere Touren unternimmt. Dann aber muß er sich für diese Touren vorher sorgfältig trainiren, wie eben zu jeder sportlichen Leistung rin Training nöthig ist. Unbedingt nöthig ist das Training vor jeder schwierigen Hochtour. Man kann ein kerngesunder Mensch, vorzüglicher Turner, ausgezeichneter Fußgänger sein, und wird doch nicht ohne vorherige Trainirung durch minder schwierige Touren eine der schweren Hochtouren ohne ernstliche Gefährdung unternehmen können. Und zwar nicht nur ohne Gefährdung des eigenen Lebens, sondern auch des Lebens des Führers. Gerade auf diesem Gebiete der Touristik wird von sportlich angehauchten Bergfexen enorm gesündigt. Gar Viele glauben für eine Hoch tour genügend vorbereitet zu sein, wenn sie sich Wadelstrümpfe, Eispickel, Schneebrille rc. rc. angeschafft haben. Wunderbar genug ist es, daß sich noch immer Führer für derartige Touristen finden. Freilich darf man nicht vergessen, daß zu den Eigen schaften derartiger unechter Sportbeflissener auch starkes Re- nommiren gehört, durch das sich die Führer leicht täuschen lassen. Wer also beim Wandern zu Fuß oder zu Rade Genuß und Gewinn haben will, der holte sich in den erwähnten mäßigen Grenzen. Wer darüber hinaus sportliche Leistungen zu voll bringen wünscht, der trainire sich entsprechend. An sich aber sind und bleiben Sport und Touristik getrennte Gebiete.