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Zu der prunkvollen Auffahrt des Kaiserpaares bei dem Papste, zu der Auszeichnung, die dem Cardinal LedochowSki widerfahren ist, und zu der Verleihung dcS döchstcn Ordens, den die vreußischc Krone zu vergeben hat, in den Cardinal-StaatSsccretair Rampolla, der sich bei der Ankunft Kaiser Wilhelm'S unpäßlich zu melden für gut befand, gesellt sich als politisches WilterungSs>,»ptom eme aadertbalbstündige Audienz, die der Staatösecretair ron Marschall bei dem Papste gehabt bat. Wahrschein lich ist diese Audienz das bedeutsamste aller jener Symp- lome, denn in eiuer anderthalbstündigcn Audienz können unmöglich nur Höflichkeitsphrasen ausgetauschl worden sein. Und da der ReichSschatzsecretair keine Legitimation bat, mit dem Papste die kirchcnpolitische Gesetzgebung eines deutschen EmzelstaateS zu erörtern, so liegt die Vermutlmng sehr nah«, knß in dieser Audienz die Frage vcntilirt worden sei, was tnS Reich dem Papste für eine Einwirkung aus die Haltung des CcntrumS in der Militairfrage zu bieten habe. ES muß sich ja, da die Verhandlungen drS Herrn v. Huene mit dem Reichs kanzler noch fortdaueru, in aller Kürze zeigen, ob diese Ver- mutbung begründet ist und welches Resultat die lange Audienz des StaatSsecretairS v. Marschall bei dem Papste gehabt hat. Ein Resultat wird sie aber auf alle Fälle haben: eine neue Stärkung derZuversichtderCcntrumspartci aus immer größeren Einfluß im Reiche und in allen seinen Theilen. Wie hoch diese Zu versicht schon vor jener Audienz gestiegen war, crgiebt sich da raus, daß die „Köln. BolkSztI." der Meldung Glauben schenkt, der Kaiser habe an den Cardinal LedochowSki die Worte ge richtet -„Eminenzwerden gcbete n.dieVergangenheit zu vergessen; al-die traurig enEreignisse vorkamen,wußteichnichtSdavon", t. h. da» ultramontane Blatt glaubt, nicht der Kaiser habe zu vergessen versprochen,daßGraf LedochowSki die Staatsgewalt und die Gesetzgebung herausfordernd verhöhnt hat, sondern er habe den Cardinal gebeten, z„ vergessen, was ihm „im Namen de» Königs" zugesugt worden ist. ES liegt auch ohne ausdrück liches Dementi aus der Hand, daß der Kaiser solche Worte nicht gesprochen haben kann. Sie werden aber trotz eines Dementis geglaubt werden, weil die lange Unterredung de« SchatzsecretairS von Marschall mit dem Papste bei den Ultramontanen die Meinung erwecken mutz, die Lenker deS neuen deutschen CurscS wüßten ohne vatikanische Unterstützung sich nicht zu helfen. Geneigter, die Militair- corlage ohne bedeutende Gegenconcessionen zu bewilligen, werden die Herren vom Centrum dadurch nicht werden, denn je wärmer diSher regierungsseitig die römische Curie um worben wurde, um so begehrlicher wurde das Centrum. Wußte cS doch, daß ihm der Papst, auch wenn er ihm den Wunsch einer Gewährung von RegicrnngSfordcrungcn urhelegt, dock stets die Normirung und Beitreibung dcS Preises überläßt. WaS Herr v. Marschall also auch erreicht haben mag: billig ist cs nicht zu haben gewesen und die wachsende Begehrlichkeit des UltramontaniSmuS wird in ungemessenen Nachforderungen zu Tage treten. WaS man im Quirinal zu den Vorgängen sagt, die im Vatican an läßlich dcS KaiscrbcsuchcS sich abgespielt haben, darüber liegt noch keine Nachricht vor. Zweifellos ist man dort nicht wenig überrascht darüber, daß man mit dem Balicau in die deutsche Freundschaft sich brüderlich theilen soll. Al- eine Wirkung deS Besuche», den Kaiser Franz Joseph dem russischen Minister des Aeußercn, Herrn von GierS, abgestattet bat, darf man die in der englischen Presse zuerst aufgetauchle Meldung ansehcn, Kaiser Franz Joseph und Zar Alexander würden im Laufe deS Sommer- eine Begegnung haben. Wenn auch die objektiven VorauS- sctzungcn für eine derartige Monarchen-Ljusammenkunst augen blicklich vorhanden sind, da die Beeinträchtigung, die sie vor wenigen Tagen durch den Empfang Stambulow'S in der Wiener Hofburg möglicherweise erlitten haben konnte, durch den Besuch Kaiser Franz Ioseph'S bei GierS als ausgeglichen betrachtet werden darf, so wird man doch gut tlmn, der Meldung dcS „Daily Tclcgr." nickt allzu große Glaubwürdigkeit bcizu- mcssen und sie nicht auf AuteiHlingen von maßgebender Seite zurückznfiibrcn, sondern in ibr nur eine willkürlickc Zu- saninicnreimung von Tbatsache» und Anzeichen der jüngsten Vergangenheit zu erblicken. — lieber den Bestick dcS Kaisers vo» Oesterreich bei GierS bringt der „Pestcr Lloyd" eine osficiösc Auslassung, worin bcrvorgehoben ist, daß der Besuch eine Ehre sei, deren außer ibm »ur noch Fürst Bismarck tbcilhastig geworden, ein Beweis der Achtung für GierS. An eine neue Wendung in der Politik brauche man darum nickt zu denken. Völlig unstatthast sei insbesondere die geschmacklose Voraussetzung, der Monarch habe Herrn v. GierS besucht, um dem russischen Cabincl ein Aeguivalent für den Enixsang zu gebe», der Herrn Stambnlow gewährt wurde. „Wir weisen",'io betont der „Pest. Lloyd", „die beleidigende Zu»»lthnug zurück, als könnte unser Kaiser nnd König die Nolbwcndigkcit empfinden, jene durchaus ver ständliche Entschließung irgend einer Macht gegenüber un mittelbar oder mittelbar zu commcntirc», geschweige denn gut zu machen. Von derlei kann man ohne PreiSgebung der Würde Oesterreich-Ungarns gar nicht sprechen. Wir meinen, cS sei von genügender sachlicher Bedeutung, wenn der Monarch mit scineni Befuche bei GierS zu erkennen gicbt, welches Gewicht Oesterreich Ungarn aus gute Beziehungen zu Rußland legt. Diese guten Beziehungen sind niemals durch Oesterreich-Ungarn gestört wo»den. Tie Monarchie bat Alles getban, um eine Auseinandersetzung zu verhüten, weil sie selbst einen precär scheinenden Frieden mit Rußland einem erfolgreichen Kampfe vorzvH. Auch wa- sich ans rem Balkan zum Nachtheile der russischen Ansprüche gestaltete, vollzog sich durch die Schuld der Petersburger Politik, nicht durch unser Tazuthun. Nicht wir haben Rußland aus Bulgarien hinauSmanövrirt, eS brachte sich selber um seine beherrschende Position in diesem Lande; Oesterreich- Ungarn hat allezeit der Ansrecklerhallung guter Be ziehungen zum Zarat das größte Gewicht bcigemessen und seine Politik oft genug unter Selbstverleugnung danach ein gerichtet. Rußland möge nur den Orient sick selber über lassen ; will cS dann eine dauernde Ueberciustimmung. so wird Oesterreich-Ungarn stet» zum Entgegenkommen bereit sein." In Frankreich beginnt der bevorstehende Wahlkampf immer mehr die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die verschiedenen Parteien treffen bereits ihre Vor bereitungen. Man durfte mit besonderem Interesse den Ent schließungen der Klerikalen entgegcnscben, nachdem der Papst Leo XIII. ihnen zu wiederholten Malen und immer dringender den Anschluß an die republikanischen Einrichtungen deS Landes zur Pflicht gemacht hatte. Eine bcmcrkcnSwerthe Kundgebung in dieser Beziehung liegt in Gestalt der Pro grammrede vor, die in Liesen Tagen der bekannte Partei führer Graf de Mun auf dem katholischen Conareß in Toulouse gehalten bat. In dieser Rede muß, wie der „Figaro" bcrvorbcbt, „der Ausdruck der Gedanken und der Wünsche dcS Papstes hinsichtlich der Haltung der französischen Katholiken cgenüber der Regierung, die Frankreich sich gegeben hat, er- lickt werden". Graf de Mun betont ausdrücklich, daß der Papst bei seinen vertraulichen Unterredungen mit ihm alles dasjenige wiederholt habe, was er mit Beziehung auf Frankreich geschrieben hatte. Die Absicht des PaptlcS war um so deut licher, als der Moment, wie Graf de Mun bemerkt, ein besonders feierlicher war, „da ganz Europa, in Rom (aus Anlaß dcS fünfzigjährigen BifchofSjubiläumS) versammelt, auf seine geringsten Worte lauschte." Ter Anschluß an die republikanische Verfassung schließt nun aber, wie der Redner hcrvorhob, keineswegs auS, daß gegen Gesetze, wie das Schul gesetz, das Militairgesetz, sowie gegen alle Angriffe auf die Freiheit der ReligionSübung so lange protestirt würde, bis diese Gesetzgebung zusammcngebroche» sei. Mit derartigen Protesten müsse jedoch thatkrästigeS Handeln verbunden sein, und in diesem Sinne spricht sich der katholische Partei führer für da» „neue System" a»S. „Man muß Gott in unsere Institutionen zurüctkebren lassen", sormulirte der Redner das Wesen dieses neuen System», da mir unter solcher Voraussetzung das vom Papste bezeicknete Kampftcrrain, das beißt die gegenwärtige Verfassung, acceptirt werden könnte. Als Mittel, um diesen Zweck zu erreickcn, bezeichnet«: Graf de Mun eine absolute TiSciplin, sowie eme praktische Organisation durch LocalcomitöS, die sich bis auf die kleinsten Gemeinten erstrecken und unter einem Ccntral- comitö sieben sollen. Zugleich wurde aber daraus hingc- wiesen, daß das ganze Iliitcrncbnicn ein volktbümlicheS sein müßte. Ter Coneentrirling mit den Capitalisten zu diesem Bcbufe stellte Gras de Mun die „Conccntririmz mit dem Volke" gegenüber, und der letzteren gab er den Vorzug, indem er cm-sübrte: „Wenn das Volk überzeugt sein wird, daß die Kirche nicht für den Rcichtkum da ist, dann werden unsere Bemühungen dem Ziele nake und der Gedanke de» Papstes verwirklicht sein. „Wiederholen Sic dies", sagte mir Leo XIII, „sprechen Sie oft von der socialen Aclion der Kirche"". Ter „Figaro" bebt hervor, daß diese Betrachtungen lebhafte Controverscn Hervorrufen und den Katbolike» viel zu denken geben werden. Der Graf de Mun beruft sich jedoch aus die Instructionen dcS Papstes selbst, wie denn auch der Cardinal- StaatSsecretair Rampolla sick in demselben Sinne für den Ansckluß der französischen Katholiken an die republikanischen Inslitutioncii ausgesprochen hat. Bon einer Bedrohung durch äußere Feinde dünkt sich Großbritannien durch seine meeruinschlungcne Lage hin reichend geschützt. Daß dem britischen Inselrciche aber von Innen her vielleicht ernstere Gefahren droben, als die Phan tasie sich jemals im Hinblick auf den Continent vorzustcllcn gewohnt war, ist den Engländern durch die neuesten» in Hüll und in Belfast vorgekommenen Ereignisse plötzlich klar geworden. In Hüll ist cS der sociale, in Bclsort der religiös- nationale Aufruhr, der seine Schatten vor sich her wirst; in beiden Fällen sind die Symptome von nichts weniger denn beruhigender Art. Die Streikfanatikcr Hulls greifen zum Pechkranze; die Einäscherung der großen Holzniedcrlagcn am Hasen ist ihr Werk und stellt die „erstmalige" Verwar nung an die Adresse der „tyrannischen" Arbeitgeber dar, welch letztere nicht einschen wollen, daß die Tradc-Unionisten ihre wie der freien Arbeiter natürliche Herren sind, deren Gebote blindlings befolgt werden müssen, bei Vermeidung von Strafe an Gut und Leben. In Bclsast dagegen spielt sich ein klei ne» Borpostengcfeckst zwischen Orangisten und Katholiken ab, ge wissermaßen eine Probe aus daS Exenipel, welches mit Annahme der Homcrulc-Bill zur Lösung gestellt werden würde. Der gesetz liche Sinn dcS englischen Volkes nimmt sowohl die Meldungen a»S Belfast wie die auS Hüll sehr ernst, und wenn auch Niemand die Regierung direct für die dortigen Vorkommnisse verantwortlich macht, so mehren sich doch die Stimmen derer, welche vor weiterem Fortsckreitcn auf dem Wege der Con- ccssionen an den irischen und socialistischcn Mob cindringlickst warnen. Die Popularität der conjcrvativcn Partei hat seil acht Tagen ungeheure Fortschritte gemacht. Die Krisis in Norwegen bleibt vor der Hand in Schwebe. DaS radicale Cabinct Steen, dessen Demission der König angenommen bat, wird vorläufig die Leitung der StaatSgcschäfte wciterfükrc», das Storthing aber hat sich bis zur Neubildung des CabinetS vertagt. Zur Vor geschichte der gegenwärtigen CabinetSkrisiS wird aus Stockholm von guter Seite mitgetheilt, der König habe in einer am IS. d. stattgehabten kurzen Audienz dem norwegischen Premier Steen mit aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, daß er dessen Entlassungsgesuch er warte. Er Haie, soll König Oscar hinzugefügt haben, durchaus »icktS gegen eine radicale Regierung, finde c- aber ganz unmöglich, daß i» seinem norwegischen Cabinetc ein Man» de» ersten Platz cinnekmc, der ein offenkundiger Feind der Königsmacht nnd der Union sei. Nachdem der ge wesene Storthing Präsident Nielsen, welcher durch Ullman» ersetzt wurde, de» Antrag der CabinetSdildung abgelchnt, wird jetzt ein Ministerium der Rechten erwartet. Der König dürfte somit Herrn Stang mit der CabinetSdildung betrauen , ob jedoch die radicale Stortbing-Melnbeit einem solchen Ministerium die nötbigcn Mittel zur Führung der StaatS- gcschäjtc bewilligen wird, ist büchst zweifelhaft. Und WaS dann? Tie Krisis wird dann an jenem Wendepunkt angelangt sein, wo sich ein um so bedenklicherer Vcrsassungseonflict ergeben kann, als die Stimmung in radicalcn Kreisen Norwegens als eine geradezu revolutionäre geschildert wird Deutsche- Reich. 4 Berlin, 26. April. Der Bericht der Militair- commission deS Reichstags, erstattet von dem AbgGröber (Centrum), ist heute zur Verthcilung gelangt. Nach den im Lause der Verhandlungen veröffentlichten ausführlichen Mit- tbeiluiigcn kann der ofsicielle Bericht freilich nichts wesentlich Neue» enthalten. Er ist aber durch eine zuverlässige Mit tbciluiig mancher in der Commission abgegebenen und oft entstellt in die Lcssenttichkeit gedrungenen (rrklärungcn sehr wertbvoll. Wir »lockten hier auf eine Erklärung dcS Abg. v. Bennigsen am Schlüsse der Commif'fionSverhandlungc» Hinweisen, die auch heute, unmittelbar vor der Entscheidung, noch atS eine bchcrzigcnSwcrtbe Mahnung gelten kann Herr von Bennigsen führte auS: Wenn die ablcbncndc Erklärung der Regierung als deren letztes Wort zu betrachten sei, so halte er eine Verständigung nicht für möglich und da» Scheitern der Vorlage m diesem Reichstage für besiegelt. AndcrSwo bilde der verantwortliche Finanz minister eine Schranke für zu weitgehende Forderungen der Militairverwaltung, bei uns >m Reichstag aber fei der Reichskanzler allein verantwortlich. ES fehle leider ein verantwortliche» Reichsfinanzamt, das eme selbstständige, die nothwendige Rücksicht auf die finanziellen und wirtbschasttichrn Verhältnisse garantirenbe Stellung zu solchen hochwichtigen Vorlagen cinncymen könnte gegenüber der naturgemäß einseitigen Auffassung der Militair- vcrwaltnng. Die Finanzen de» Reiches und der Einzelstaalcu hingen untrennbar zusammen, und spcciell in dem größten Einzelstaate, in Preuße», bestehe eine finanzielle Calamitä», welche die einzelnen Ressortminister genöthigt habe, die dringlichsten Forderungen aus wirtbschastlichcm und kul turellem Gebiete in geradezu beschämender Weise zurück- zustcllcn. Tie drei Teficitjahre in Preußen weisen einen ivetstbctrag von zusammen rund 150 Millionen Mark auf. Ter Reichskanzler solle dem gegenüber wobl erwägen, ob eine so gewaltige Mehrbelastung zu ertragen sei, und sich nicht von dem begreiflichen Gejul'l als Haupturbebrr der beabsich tigten großen Militairresorm bestimmen lassen. Ter Reichs kanzler bade als Vater der Vorlage das menschlich erklärliche Bestreben, die militairischcn GcsichtSpunctc in die erste Linie zu stellen. Seit Jahren habe der Reichskanzler sich per- fönlich mit der Ausgabe der HcereSrcsorm beschäftigt, habe große Schwierigkeiten überwunden, um alle Stellen sur seinen Plan zu gewinnen, und je schwieriger die Vorlage im Ganzen zu Stande gekommen sei, desto mehr bemühe er sich, dieselbe ,n ihren Einzelheiten bis zuletzt sestzuhatlen. Da» könne man ihm nicht verdenken. Aber die Stellungnahme der Volksvertretung müsse eine andere sein. Die Ablehnung der Vorlage könne eine gefährliche Krisis hcrbcisübren; im Falle der Auslösung dcS Reichstags könne Niemand sagen, wieder nächste Reichstag auSschen werde. Voraussichtlich werde im neuen Reichstage die Vorlage noch viel weniger Aussicht haben, und auch auf anderen Gebieten werde die Opposition Fsuillctsir. Lady Sibylle. Roma» vo» E. Schrorder. sl-chtrnS «erseten. 4s (Fortsetzung.) 4. Capitel. Nach ungefähr 100 Schritten gab eS ein hölzerne» Thor zu übersteigen. Indem er eS that, flog sein Auge zurück und begegnete dem ikren, daS ihm still und ernst gefolgt war. Er lüftete noch einmal den Hut, sie neigte kaum merklich daS Haupt und rief dann den Kindern. So wie er sie mit diesem letzten Blicke gesehen, schwebte sie nun ,m Wciterwandern seinem Geiste vor. Vo» dem Hellen Horizont hob sich ihre dunkle Gestalt, schlank und edel in jeder Linie, so viel auch der ungraziöse Anzug that, da» Unheil irrezusühren. Unter dem entstellenden Hutdeckel, der Stirn und Haare verbarg, schimmerte daS blafft, schmale Oval deS Antlitze» — das vielleicht schön war. Er mußte lacken. Es kam in seiner Praxis sonst nicht vor, daß er sich eine volle halbe Stunde mit einer Dame unterhielt, ohne sich ganz Nar darüber zu werden, ob sie schön eter häßlich sei. Der Grund in diesem Falle war die starre Maske de» HockmuthrS gewesen, die ihn von ihrem Gesichte zurückgestoßcn hatte, um sein spöttisches Interesse auf ihren Charakter zu lenken. Im Grunde verdiente ihr Charakter übrigens keinen Spott. Mehr Sanstmuth und Geduld als sie (im Verkehre mit den kleinen Plagegeistern) konnte man gar nicht an den Tag legen. Offen und ehrlich war sie auch, wrnigsten- wenn der Stolz au» ibr sprach, der edle Stolz, der kein unverdiente- Lob einstrckte. „Sie halten mich doch nicht für muthig? Mein Herr, ich habe gebebt und gezittert u. s. w." Wenn der Hochmutb da» Wort batte, so klang e- freilich ander», denn der hatte ja einen leeren Geldbeutel zu ver stecken. „Gesetzt den Fall — nur gesetzt den Fall — daß ich gezwungen wäre, mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen —Arme Seele, wie verrätherisch ihr da- Auge gestrahlt batte, als die Antwort günstig au»bcfalle»! Nun ging sie hin und — crthcilte keinen Malunterricht, da» vertrug sich ja mit dem Xodlvsso vtiligo nicht — aber sie verkaufte höchst wahrscheinlich ihr Bildchen anonym und durch verschwiegene Mittelspersonen. Leider war vorauSzusehc», daß ibr bei so verstecktem Handeln nach und nach die schöne Wahrhaftigkeit verloren ging und — Doch daS blieb der Zukunst überlassen. Vorderhand war ibr Streben, den Familicnsäckel zu füllen, redlich und sie ein gutes Mädchen, wenn auch kein Mädchen nach seinem Sinn. Ihm war an einem Weibe ein bi-chen Heiterkeit erwünscht, ja — wenn er sich in dlscreten Schranken hielt — war ihm sogar ein bischen Ucbermuth willkommen. Fräulein Sibnlle mit ihrem unerschütterlichen Ernst, ihrer wcltüberlcgenen Rübe — eine langweiligere Gesellschaft konnte man sich auf die Dauer nicht denken. Und dann — daß ihr die Eitelkeit so gar nicht» zu sagen batte! Die allergrößte Armuth bedingte doch nicht, daß man sich wie eine Vogelscheuche kleidete. Bei alledem, sie war ein gute» Mädchen — weiß Gott, da» war sie! Sic hatte so rein« Augen, eS war ein Ver gnügen, recht tief hineinzuseben — wenn sie nur nicht ihrer seits auch gern tief geblickt hätten, so reckt, als wollten sie Einem aus dem Grunde der Seele lesen. Da» konnte einem arme» Sünder unbequem werden. Waldstedt war in diese Betracktungen versunken, eine Zeit lang, immer da» Meer tief unter sich zu seiner Linken, an der Bergkette hingeschrittrn. Hier und da hatte er ein Thor zu übersteigen gehabt, abwechselnd durch Felder und grüne Wiesen war er gewandert und endlich an eine der Landstraßen gelangt, die der Grafschaft Devon eigenthümlich sind. Sie schlangeln sich zwischen natürlichen Erdwällen hin, die stellenweise von allerlei Strauchwerk, Farrenkräutern und Blumen aus» Ueppigste überwuchert sind, stellenweise aber — besonder» wo sic hoch- ragen und Schluchten bilden — gleich den Uferfrlsen da» nackte, rothe Sandstringerippe de» Hügel» zeigen. Sic sind wegen ihrer wrchselvollen Schönheit berühmt — die Land straßen von Devon, aber sie sind wegen de- StringcröllS, da» die FrühlingSfluthen bergunter schwemmen und ablagcrn, wo eS ihnen beliebt, nicht allerorten den armen Pferden zum Ergötzen. Sie verengern sich auch bin und wieder so, daß an ein Ausweichen der Wagen nicht zu denken ist. Weil obendrein die einfafsenden Erdwälle nach allen Seiten hin den Blick behindern und man daS nahende Fuhrwerk gewöhnlich nicht einmal sehen kann, so fahrt man ausnahmslos mit Schellengeläute. An solch' eine Landstraße also war Waldstedt gelangt. Ten Instructionen seines WirtheS gemäß hatte er sie berg- absteigend verfolgt bi» an den Punct, wo sie von einer anderen durchkreuzt wurde. Hier sollte ein hölzerner Weg weiser ihn weiter berathen und hier — sah er sich plötzlich wieder Fräulein Sibylle gegenüber. Ja, gerade in dem Moment, als er in Gedanken dabei war, ihre Augen unter Umständen unbequem zu finden, blickten diese Augen.ihn wieder an — ernst und still, ohne große Verwunderung. Sie hatte sich über ein Tbor geschwungen, saß aber noch oben — fast wie zu Pferde, das eine Bein ein wcnig emporgezogen, das andere herabhängend, so daß unter dem Klcidcrsaume eine Fuß hervorsah, ein kleiner, feiner, bei aller Einfachheit so elegant bekleideter Fuß, daß Wald stedt mit Mühe einen AuSruf der Staunen» unterdrückte. „Sollte sie in dem einen Punct sterblich sein?" sragtc er sich. Dann begrüßte er sie lackend: „Es ist rascher ge gangen, als zu erwarten stand, mit dem Wiedersehen, mein Fräulein! Sollte mich nicht wundern, wenn Sie über meinen inneren Menschen noch nicht mit sich im Reinen wären " „Noch immer nickt", antwortete sie, als sei die Sache sehr ernsthaft zu nebmen. Aus den Weg deutend, den er ge kommen, setzte sie hinzu: „Sie hätten cS kürzer haben können, aber — vielleicht streifen Sie zu Ihrem Vergnügen umher?" „O nein", kopsschüttclte er. „Ich habe nachgerade Eile, nach Oakhayc« zu gelangen." „OakbayeS?" wiederholte sie staunend und wollte etwas hinzufüaen, allein hinter ihr erschien jetzt athrmloS da» kleine blonde Kleeblatt. Es hatte den neuen Freund von Weitem bemerkt und mußte nun zu ihm über da» Tbor — Dolly natürlich voran in solch' wilder Hast, daß sie Fräulein Sibylle inS Schwanken brachte und diese sich nur durch einen raschen Sprung vor dem Stürzen bewahren konnte. Dabei blieb das blaue Kattunkleid an einem Nagel hängen, und obgleich Waldstedt diensteifrig hinzusprang, gab cS einen klaffenden Riß. „Sckade!" jammerte Dolly. „Schade!" beucbeltc Waldstedt. „Schade!" siel eine fremde Stimme ein. Man hatte »icktS kommen hören, aber ein Wagen war scharf um die Ecke gebogen und kielt nun mitten auf dem Kreuzweg — ein Wagen, der im Hyde-Park Aufsehen erregt hätte wegen seiner tadellosen Eleganz, wegen der prächtigen Isabellen, mit denen er bespannt war. und vor allen Dinge» wegen der reizenden blonden Dame, die darin saß. Sie war nicht nichr in der allerersten Jugend, aber sie durfte cS »och getrost wagen, ihre Apfelblülhenbaut mit der blässesten Heliotropfarbc in Verbindung z» bringen. „Ach, Lady Sibylle", flötete sie, sich mit elegischer Miene auS dem Schlage beugend, „wie unendlich leid mir da« tkut!" Die Angerekete hatte die Falten ibreS Recke» über den Riß zusammcnraffen wollen, aber beim Tone dieser Stimme ließ ste klaffen, waS da klaffte, und wandte sich, mit der starrsten HochmutkmaSkc vor dem Gesichte, langsam der Sprecherin zu: „Sie sind allzu gütig, MrS. Sampson", sagte sie, zum Zeichen der Begrüßung kaum mcbr als die Liter senkend. „DaS schöne Kleid!" seufzte die Mitleidige. Sibylle ließ den Blick an ihrem Anzüge niedcrglciten und entgegnete, die Lippe» kräuselnd: „Schön? Sie zeigen eS mir in einem neuen Lichte." „Reizend geschmackvoll bei aller Einsackbeit". versickert« die Andere, den Kops auf die Seite legend und da» Kleid wie eine entzückte Schneiderin anblinzclnk, „aber daS Lock — daS Loch ist entsetzlich — läßt sich nicht einmal verdecken! Lady Sibylle, so zugerichtct können Sie unmöglich zu Fuß — schnell. John, öffnen Sie den Wagenschlag für Mnlady!" Der Diener svrang vom Bock, kam aber nicht dazu, d«n Auftrag auSzusiihren. eine kurze Handbewegung Sibylle» hinderte ibn. Sic war bei den letzten Worten der Dame einen Schritt zurückgctrclen, sie hatte sie angesehen, al» zweifle