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145, 26. Juni 1899. Nichtamtlicher Teil. 4645 Gäste aus der heißen Stadt au das Gestade der kühlen, bläulichgrünen Flut zum »Zürichhorn«, einer von alten Bäu men beschatteten Halbinsel, von der aus man zurückblickend die immer schöner und türmereicher sich entwickelnde Stadt vor sich hat, während nach Süden schauend der Blick über die Wasserfläche und die sanft ansteigenden Ufer zum Silberkranz der Alpen sich erhebt. Auch manchem, der nie hier war, ist dieser reizvolle Strand durch Gemälde des Tiermalers und Landschafters Rudolf Koller bekannt, der mit Vorliebe seine Motive dieser Landzunge entnommen hat. Zwar wohl zu einer Zeit, als noch nicht das stattliche Gebäude hier stand, in dessen Räumen heute die Zürcher Buchhändler die gesamte schweizerische Kollegenschnft in weitgehendster Liberalität zu Gaste geladen hatten. Was diesem ersten Zusammentreffen und den folgenden Tagen einen besonderen Reiz verlieh, war, das; auch die Buchhändlerfraucn und -Töchter dem Rufe ge folgt waren und alles nicht nur mit einem freundlicheren Glanz erhellten, sondern auch auf einen weihevolleren Ton stimmten, als es bei Festen der Fall ist, an denen nur wir rauhes Geschlecht vertreten sind. In ungezwungener Gesellig keit fand man sich zunächst auf der Terrasse, die das Rcstau- ratiousgebände umgiebt, und freute sich des Tagesgestirns, das See und Gebirge in seine Gluten tauchte, und später des Nachthimmels, dessen Lichter sich auf den glitzernden Wellen wicderspiegelten. Im Innern des Hauses aber vereinigte sich die frvhgestimmte Menge an den Tischen, um die zahlreichen Darbietungen entgegenzunehmcn, die ein von A. Sulzberger köstlich gezeichnetes Programm versprach. Jnstrumentalvorträge der Muthschen Kapelle wechselten ab mit vortrefflichen Lieder vorträgen des Jodlersextetts des Turnvereins »Alte Sektion«, mit humoristischen Deklamationen und Sologesängen. In herzlichen Worten hieß der Vorsitzende des Zürcher Buchhändler- vcrcins, Herr Faesi, die Kollegen willkommen, Herr Ebell feierte die vier Veteranen Georg, vr. Huber, Karl Schund und Schultheß; den Hauptinhalt gab dem Abend aber die Vor führung hervorragender verstorbener Berufsgenossen vermittelst eines Projektionsapparates, wie z. B. Jent, Schultheß, Fehr, Saucrländcr, Tschudi, Wirz, Detloff, I. Körber, Harter, Schoch, Reimmaun, Köppcl, Heinrich Wild u. a. m. in lebens großen Bildern mit dazu gesprochenem Text und Klavier begleitung. Dieses stumme und doch so beredte Erscheinen der nun von ihren Thaten ausruhenden Männer inmitten ihrer einstigen Mitarbeiter und Nachfolger machte einen tiefen, weihevollen Eindruck auf die Anwesenden. Bei dem Anlaß machte der Präsident die den meisten überraschende Mitteilung, daß der erste Friedensrichter unseres Vereins, Herr C. P. Scheitlin aus St. Gallen, über 90 Jahre alt, in völliger geistiger Frische in einer kleinen Ortschaft am Bodensee wohne. Einstimmig wurde beschlossen, ihm einen telegraphischen Gruß zu senden. Mitternacht war längst vorbei, als die Aelteren sich zum Hcimgeheu anschicktcn. Ihnen schlugen noch die ersten Takte eines Walzers ans Ohr, den die Kapelle für die junge Welt aufspielte. — War das am nächsten Morgen ein fröhliches Treiben am Quai I Einzeln und in Gruppen kam es von allen Seiten her- gewandert, Frauen, Jungfräulein und Kinder in Hellen Svmmcr- gewändern, und auch die ernstesten Männer hatten heute ihr Festtagsgesicht aufgesetzt. An Bord des Salondampfers »Hel vetia- flatterten hundert Wimpel in der leichten Brise, die angenehm kühlend auch unter dem über das Deck gespannten Segel hinstrich. Die Gesichter der Zürcher Festkomiteeherren, vor vierzehn Tagen noch in düstere Falten gezogen, weil die Anmeldungeil zur Beteiligung so spärlich eingingcn, strahlten heute wie der blaue Himmel über uns: nicht weniger als 250 Personen trug der breite Rücken des Schiffes über die krpstall- klare Flut. Bei so zahlreicher Beteiligung, bei so sprudelnder SrchSundsechzlgslrr Jahrgang. Fröhlichkeit und so leicht angebahntem kameradschaftlichen Verkehr war jetzt an einem Gelingen der zahlreichen Ver anstaltungen nicht inehr zu zweifeln. — In etiva zweistündiger Fahrt ließen wir die schönen Ufer des Sees mit ihren Wein bergen, ihren blühenden Ortschaften, ihren waldigen Hügeln und Vorbergen an uns vorüberziehen, bis wir uns dem alter tümlichen Städtchen Rapperswpl näherten, auf das ein Halb rund majestätischer Berge vom Säntis bis zu den Glarner Alpen herabschaut. Man hätte fast glauben können, in Neapel zu landen, eine solche Hitze schlug uns am Ufer entgegen, und mit solchen: Uebermut wurden wir von der Jugend empfangen, die lazzaroniartig den Strand bevölkerte und zu den untersten Steinen der Quaimauer hinabgeklettert war, um jubelnd die Dampfschiffwellen an ihren nackten Beinen heraufspritzen zu lassen. Im Hotel 6u Ull.e hatte außer im großen Saal in einer anstoßenden Halle gedeckt werden müssen, um allen Gästen zu Speise und Trank zu verhelfen. Den ersten Toast brachte der Präsident des Schweizerischen Buchhändleroereins, Herr vr. Huber, auf das Vaterland aus. Leider hat der hoch verehrte Mann, der trotz seiner siebzig Jahre sich den nicht geringen Mühen des Vorsitzes unterzogen hatte, nicht zugeben wollen, daß seine an diesem und an: nächsten Tage gehaltenen Reden hier vollinhaltlich abgedruckt werden. Wir bedauern das im Interesse unserer Leser sowohl, als auch in sach licher Beziehung. Selten haben wir Reden gehört, die durch ihre Schlichtheit in Form und Vortrag, durch das Fcrnhalten jeglicher Ausschmückung, durch ihren Gedankenreichtum in geradezu klassischer Klarheit, so eindringlich auf den Hörer wirkten wie diese. Und auch in sachlicher Beziehung hätten wir einen unverkürzten Abdruck gewünscht. Denn in: großen und ganzen sind die Verhältnisse der Schweiz außerhalb ihrer Grenzen den ineisten eine terra, woogwtg.. So müssen mir uns mit einer Wiedergabe der Hauptgedanken begnügen. »Was ist es, das die Schweiz ihren Kindern so lieb macht?« fragte der Redner einleitend. Wohl möge die Naturschönheit viel dazu beitragen; aber auch die Kinder reizloser Erdstriche kennen das Heimweh. Noch weniger könne es das Bewußt sein sein, einem mächtigen Staate anzugehören. Aber gerade so, wie unser kleines Land aus den Stürmen der Vergangen heit und den Irrungen seiner Geschichte sich in die Gegen wart herübergerettet habe, geradeso liebten wir es, und stolzer als auf die einst im Felde geschlagenen Schlachten seien wir auf die Energie und Tüchtigkeit, die unser Volk jetzt in: harten Kampfe um das Dasein bewähre, in den: ihm vom Geschick ein wenig günstiger Platz angewiesen worden, und auf den hervorragenden Anteil, den es seit Jahrhunderten und heutzutage vielleicht mehr als je zuvor an der euro päischen Kulturarbeit nehme. Ihren eigenen Weg beschrei tend, habe die Schweiz die ausgedehnteste Selbstregierung des Volkes in Freiheit und Ordnung geradezu vorbildlich ver wirklicht und biete den eigenartigen Anblick dar, daß, wie auf ihren: Boden Blüte und Früchte des Nordens und Südens nebeneinander wüchsen und reiften, so in ihren engen Grenzen vier Stämme von verschiedener Sprache und Art, die zudem die verschiedensten Bildungsstufen darstellten, friedlich und freundlich nebeneinander wohnten und in guten und bösen Tagen mit derselben Liebe und Anhänglichkeit um die gemein same Mutter Helvetia sich scharten. Ihr, der Mutter mit dem warmen Herzen, dem Hellen Augenpaar und den un ermüdlichen Händen bringe der Redner aus tiefer Brust sein Hoch. Mancher wischte sich verstohlen die Augen, und mit Be geisterung stimmte alles »Rufst du, mein Vaterland« an. Dem Schreiber dieses war der Auftrag geworden, auf die befreundeten Vereine und auf ein gedeihliches Zusammen wirken mit ihnen einen Toast auszubringen. 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