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64. Jahrg Nr. 95 Donnerstag, den 15. August 1929 Dienstag, Donnerstag und Sonnabend mittags. Wöchentliche Beilage: „Neue Illustrierte" Monatsbeilage: .Rund um den Geisingberg". Bezugspreis für den Monat 1,25 RM. mit Zutraaen Anzeigen: Die 1 gespaltene 65 mm breite Korpus- zeile oder deren Raum 20 Pf., die 86 mm breite Reklame- u. Tingesandtzeile od. der. Raum 40 Pf. Bezirksanzeiger für Altenberg, Geising, Lauenstein, Bärenstein und Umgegend. In diesem Blutte erscheinen die amtlichen Bekanntmachungen der Amtsgerichte Altenberg und Lauenstein, sowie der Stadtbehörden Altenberg, Geising, Lauenstein und Bärenstein. Lcur und Verlag: F. A. Kunuich, Altenberg. — Verantwortliche Lchriftleitung: i. V. Werner Kuntzsch, Altenberg. — Fernjpr. Lauenstein 427. — Postscheck Dresden 11811. — Gemeindegirolonto Altenberg 11 Der Bote vom Geising Erscheint wöchentlich dreimal: und Mit g litzta l-Zeitung Der Kauf deutscher Erzeugnisse ist Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Nach den letzten Feststellungen hat sich der Stand der Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht mehr weiter ge bessert. Unverändert finden nach offizieller Statistik über eine Million Deutsche keine Beschäftigung, wozu noch be merkt werden mutz, dah die offiziellen Zahlen der Arbeits losen- und Krisenunterstützung natürlich nicht die ganze Arbeitslosigkeit des deutschen Volkes wiedergeben, daß die Not der Arbeitslosigkeit in Wirklichkeit noch viel grötzer und drückender ist. Wie weiterhin bekannt wird, rechnet man in amt lichen Kreisen für die fernere Zukunft mit einer ständigen Arbeitslosigkeit von 1,1 Millionen Menschen, eine Zahl, die selbstverständlich ebensalls ihrer Korrektur nach obenhin bedarf. Angesichts dieser furchtbaren, durch den Friedens- Vertrag verursachten Not, die beiipiellos in der Geschichte dasteht und die Unhaltbarkei: einer Welt und Völkerord- nung zeigt, wie sie durch die Verträge von Versailles festgelegt wurden, hat jeder Deutsche die Pflicht, das Seine dazu beizulragen, um den bedrängten arbeitslosen Volks genossen zu helfen, soweit er nur irgendwie zu Helsen in der Lage ist. Und es kann jeder mithelfen! Wenn man nach Sachverstäudigenb^rechnungen ein mal annimmt, datz Vie Einfuhr ausländischer FerUgfabrrtate in Hohe von je 3000 bis 4000 R.-Mt. einen Deutschen arbeitslos macht, so kann man sich ungefähr die Verwüstungen vorstellen« die eine Einfuhr von 14 Milliarden Mark — wie im Zähre 1918 — auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete im deutschen Volke anrichtet. Denn in der ausländischen Ware steckt natürlich der Lohn für den ausländischen Arbeiter, der dem deutschen somit oerlorengeht und ihm Brot und Verdienst nimmt. Aus diesem Grunde heraus wehren sich denn auch die fremden Volker verzweifelt gegen jede übermätzige Ausfuhr von außerhalb, wehren sich auch insbesondere unsere früheren Kriegsgegner gegen die deutschen Sachlieferungen. Man hat ausgerechnet, daß jedes ausländische Automobil fünf deutsche Arbeiter brotlos macht. Nach Berechnungen der Textilindustrie macht die Einfuhr englischer Stoffe in Deutschland meh rere Millionen Arbeitstage aus, um die die deutsche Ar beiterschaft betrogen wird, weil die deutsche Herrenwelt es für notwendig hält, in englischen Stoffen herumzu- laufen. Die Arbeiterschaft der deutschen Schuhindustrie ist zu einem großen Teile ohne jede Beschäftigung oder muß kurzarbeiten, weil das deutsche Volk in steigendem Maße Schuhe des tschechischen Großfabrikanten und Sozialreaktionärs Bata bezieht. Ähnlich verhält es sich mit einer ganzen Anzahl anderer Industrien: überall macht die ausländische Ware mehr oder weniger arbeits los und vermehrt dadurch das Unglück, das über Deutsch land schwebt; vermehrt es übrigens auch noch dadurch, daß sie die Kapitalnot der deutschen Wirtschaft verschärft, dadurch wiederum zu Absatzstockungen, Arbeiterentlafsungen führt usw. Mit Sorge schreibt ein Arbeitsloser im Freiberger Anzeiger: „Ja, es ist bittere Wahrheit, daß durch die vielen Käufe von Auslandserzeugnissen die Geschäfte bezw. Arbeiter furcht bar geschädigt werden. Ls ist ein Jammer, arbeitslos zu sein, und die paar Pfennige Unterstützung reichen kaum zum Aller- notdürftigsten. Ich selber, 50 Jahre alt, bekomme mit Frau pro Woche 14 M. Davon geht Miete, Feuerung usw. ab. Di« Frau selbst kann nichts verdienen, da immer kränklich. Darum ihr alle, die ihr mit Elücksgütern gesegnet seid, oh, denkt auch einmal an uns, an,die Klein-, Sozialrentner, Arbeitslosen usw. Beherzigt die ernste Mahnung, kauft deutsche Waren, deutsche Erzeugnisse, und dadurch wird für uns Arbeit und Brot! Seid eingedenk der furchtbaren Lasten, die das deut sche Volk zu tragen hat, und wer hat uns diese Lasten auf- erlegt ? Oh, denkt daran und kauft deutsche Erzeugnisse!" Dieser eindringlichen Mahnungen sollte sich jeder Deutsche ununterbrochen erinnern. Ganz besonders gilt sie aber den deutschen Frauen, die für die Not ihrer Mit- . Menschen doch stets ein besonders mitfnblcndes Herz haben , und durch deren Hände der größte Teil des deutschen r Volksvermögens beim Einkäufe von Waren geht. Deutsche Kabinettssitzuug im Haag über die Reform der Arbeitslosen-Versicherung. Die Reichsminister Severing und Wissell sind wieder aus dem Haag abgereist, nachdem sie die Frage der Ar ¬ beitslosenversicherung mit den dort weilenden Kabinetts- mitgliedern durchgesprochen haben. Die Besprechung er gab die Ansicht, daß die Beratungen des sozialpolitischen Ausschusses des Reichstages gefordert werden müssen und daß ihm eine Kabinettsvorlage unterbreitet werden muß. Um dieses Material vorzubereiten, ist eine Besprechung der fünf Fraktionsführer der Koalitronsparteien vorge sehen. Dann wird das Kabinett zusammentreten und eine Vorlage ausarbeiten. Wir sollen neue Opfer für die Räumung bringen Der Reichswirtschaftsminister spricht im Haag. Die Vermutung, daß das unnachgiebige Verhalten des englischen Schatzkanzlers auf der Haager Konferenz nur einer persönlichen Verärgerung oder seiner Nervosität zuzuschrciben gewesen sei, hat sich als nicht zutreffend er- ' wiesen. Zwar ist eine Versöhnung zwischen Snowden und Cheron erfolgt, und der erstere Hal mit Bedauern sich wegen seiner kränkenden Äußerungen entschuldigt, im Prinzip ist aber Snowden in seiner bisherigen Stellung durch seine Negierung und sein Land bestärkt worden. Lin Telegramm, das der englische Premierminister , Macdonald an ihn gesandt hat, besagt, daß die Finanz kommission einen sehr ernsten Fehler mache und daß die - Aussichten für eine baldige Lösung sofort Schiffbruch leiden müßten wenn man sich nicht endlich dazu oerstche, d.n Bericht der Sachverständigen zu revidieren, um den recht- mäßigen Forderungen Englands entgegenzukommen. „Alle - Parteien und Gruppen des Landes, ohne Ausnahme, unterstützen die Sache, die Sie führen, jede Zeitung steht hinter Ihnen, und alle Parteien im Hauke unterstützen Sie ebensalls." Die Erwartungen also, die man auf ein persönliches Eingreifen Macdonalds für eine Änderung des englischen Verhaltens gesetzt hatte, dürften nicht in Erfüllung gehen. Rach der formellen Beilegung des Konfliktes Snow den—Cheron tagte der Finanzausschuß wieder am Mon tag vormittag und behandelte ausschließlich die Frage der Sachlieferungen. In der Aussprache haben der Reichswirtfchastsminister Dr. Curtius und der italienische Sachverständige und Abgeordnete Pirelli das Wort ergriffen. Minister Curtius hat in einer groß angelegten frei gehaltenen Rede den Standpunkt der deutschen Regierung zu den bisherigen Aussprachen im Finanzausschuß dargelegt. Minister Dr. Curtius trat für die Beibehaltung des Poungplanes ein und betonte unter Hinweis auf die Reden der Gläubiger von angeb. lichen schweren Opfern, daß Deutschland die allerschwersten Opfer gebracht hat. Die gleichen Industriezweige, die in England notleidend seien, litten auch in Deutschland Not. Dazu habe Deutschland noch eine Hail kämpfende Land wirtschaft, wie es auch mit dem Rückgang seines Anteils am Welthandel von 12,7 Prozent 1913 auf 8,7 Prozent 1927 weit schlimmere Verluste zu beklagen habe, als irgend eine andere Macht. Man solle deshalb im Haag nicht wie an einem Opferaltar Klagelieder anstimmen, sondern praktische Arbeit leisten. Ium Schluß seiner Rede gab Minister Dr. Curtius der Erwartung Ausdruck, daß Deutschland keine neuen Zumutungen im allgemeinen und im besonderen hinsicht lich der Sachlieferungen gestellt würden, die über die Opfer hinausgingen, welche der Poungplan von Deutsch land fordere. Französisch-englische Einigung auf deutsche Kosten? Die Verhandlungen hinter den Kulissen zur Herbei führung einer Verständigung zwischen England und Frankreich in der finanziellen Frage wurden am Dienslag vormitlag mit verstärkter Energie weitergeführt. Lie französische Abordnung zeigt eine gewisse Verständigungs bereitschaft gegenüber England, offenbar in der Voraus setzung, daß man auf der englischen Seite wesentliche politische Zugeständnisse in der Rheinlandräumungsfrage machen wird. Die nächsten Tage werden jedenfalls auf deutscher Seite eine sehr genaue Beobachtung der hinter den Kulissen sich abspielenden Derständigungsverhandlun- gen notwendig machen. Die Gefahr einer Verschlechterung des Poungplanes im Falle einer französisch-cnglischen Verständigung zu Lasten der deutschen Interessen ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Frankreich erwartet für die Räumung die Übernahme der Befatzun gsschäden. Die privaten Besprechungen, die außerhalb der Kon ferenz zwischen den Ministern der vier Besatzungsmächte abg halten wwden, dauerten am Dienstag N/s Stunden, ? An der Besprechung nahmen Stresemann, Wirth, Briand, j Henderson und Hymans teil. Zur Verhandlung sind am Dienstag zwei Gesichtspunkte gelangt: 1) Der Endtermin der Räumung (Festsetzung des letzten Tages der Besetzung). 2) Die mit der Räumung im Zusammenhang stehen den finanziellen Fragen. Hierfür sollte auf Wunsch der Gegenseite zunächst ein Unterausschuß aus militärischen und finanziellen Sachverständigen einberufen werden. In der Mimsterbesprechung ist j.doch der Gedanke erwogen worden, auf sämtliche Sachverständige zu verzichten und die mit der Räumung zusammenhängenden finanziellen Fragen unmittelbar zwischen den Mächten zu erledigen. Von den Besatzungsmächten ist in der Besprechung zugesagt worden, daß im Laufe dieser Woche endgültig Mitteilungen über den Endtermin der Räumung gemacht werden. Es wird angenommen, daß die Generalstäbe der Besatzungsmächte bereits seit längerer Zeit die Pläne für die Durchführung der Räumung ihren Regierungen eingereicht haben. * * * Obwohl die Dinge, was den Räumungstermin an belangt, eine etwas schnellere Entwicklung zu nehmen scheinen, taucht für die Räumung ein höchst sonderbarer neues Hindernis auf. Die Alliierten machen nämlich die Räumung auch noch von der Regelung der Besatzungs schäden abhängig. Es handelt sich bei diesen Schäden um bis 1. September 1929 aufgelaufene Forderungen von Hunderten von rheinischen und pfälzischen Städten und Gemeinden, für die seit Zähren das Reich finanziell eintreten mußte, ohne daß sich die Besatzungsmächte zu ihrer Begleichung verstanden hätten. Es handelt sich um die Schädigung und Wiederinstandsetzung von öffentlichen Gebäuden, Häusern, Schulen usw. Die Schäden belaufen sich insgesamt, soweit es sich übersehen läßt, auf eine drei stellige Millionenzifier, da das Reich schon seit Jahren diese Entschädigungen zu tragen hatte. Bei den Alliier ten besteht noch immer wenig Neigung, diese Summe zu übernehmen, und um dieser Forderung zu entgehen, stellen sie nunmehr das Ansinnen an das Reich, „eine große Geste zu machen" und entweder teilweise oder ganz auf diese Forderungen zu verzichten. Davon kann für dar Reich natürlich keine Rede sein, da es hieße, neue Lasten zu den Lasten des Poungplanes hinzuzufügen. Von englischer und französischer Seite wird erklärt, Deutschland gewinne durch die vorzeitige Räumung der drillen Zone große Vorteile und könne daher auf seine Forderungen aus den Besatzungsschäden verzichten, eine Auffassung, die auf deutscher Seite in keiner Weise geteilt