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Umtsktatt für das Königliche Gerichtsamt Wilsdruff und den Stadtrath daselbst. 57. Ireitag den 22. Zuli 1^7^. Tagesgeschichtc. , Wilsdruff, 21. Juli 1870. Gewiß unangenehm überrascht wurden gestern viele Glieder der ! hiesigen Kirchgemeinde durch die Nachricht, daß uns unser allverehrter Herr Diaconus Ficker in dm nächsten Tagen verlassen wird, um das norddeutsche Kricgsheer als Feld predig er in den Krieg gegen die Franzosen zu begleiten. Wie wir hören, wird der hiesige Militärverein schon in den nächsten Tagen in außerordentlicher Versammlung Bcrathung halten, um Mittel zu beschaffen, damit den hilfsbedürftigen Familien ihrer in den Krieg gezogenen Kameraden nachhaltige Unterstützung gewährt werden könne. — Sollte cs nicht gcrathen sein, daß sich ein Co- mits in hiesiger Stadt bildete, uin allen derartigen Hilfsbedürftigen ihre drückende Lage zu erleichtern? Dresden, 20. Juli, Bormitt. Der hiesige französische Gesandte hat gestern seine Pässe erhalten; derselbe ist noch hier anwesend. Auf den königl. sächs. Staatsbahnen wird vom 21. d. M. ab der gesammte Güterverkehr und vom 23. dss. M. an auch der ge- fammte Personenverkehr als fahrplanmäßiger Verkehr eingestellt. In der 1. Etage des Gewandhauses zu Dresden werden jetzt Vorkehrungen getroffen, da in nächster Zeit eine Nachrckrutirung der Reserve-Mannschaften in den gedachten Räumlichkeiten erfolgt. Die Landwchrmänner werden wahrscheinlich den Nescrvcbataillo- nen zugetheilt, die bei eintretendem Ausmarsch der Feldtruppen in Dresden Zurückbleiben und den Garnisondienst versehen werden. Nach dem die Landwchrleute gestern darüber klar geworden waren, daß sie erst im äußersten Falle zur activen Verwendung kommen, gingen sie mit einem Hoch auf das Vaterland auseinander. Die Gerichlsferien dauern von: 21. Juli bis 31. August. Wäh rend derselben ruht bekanntlich die Erledigung aller nicht dringlichen Angelegenheiten. Die sogenannte „Dresdner Vogelwiese" wird in Anbetracht der l gegenwärtigen ernsten Zeitverhältnisse nicht abgchalten werden. Der Kornschnitt auf den Feldern rings um den Heller bei Dresden, aber auch bei Nhänitz, Wilschdorf u. f. w. hat begonnen. Die große Fruchtbarkeit des Jahres hat trotz des rauhen Frühlings eine erfreuliche Ernte reifen lassen. Der in Freiberg bestehende Spar- und Vorschußverein hat sich in eine Actiengesellschaft unter der Firma „Vorschußbank für Freiberg" umgewandelt, das Grundkapital beträgt 80,000 Thlr., cingethcilt in Actien n 100 Thlr., die von den früheren Vereinsmitglicdern sofort baar eingezahlt worden sind. In Lausigk sind am 11. Juli acht Scheunen niedergebrannt. Aus der südlichen Lausitz schreibt uns ein Fabrikant: Für unsere Geschäftswelt ist es ein harter Schlag; doch noch nicht Eine Stimme habe ich gehört, die nicbt den Krieg als einen gerechten uns aufgezwungenen bezeichnete. Gott segne Deutschlands Waffen! Oesterreich ruft Urlauber ein, wie ich aus den Grenzorten als gewiß höre; doch Ungarn wird dafür sorgen, daß es Ruhe hält. Die übermüthige und unkluge Kriegsdrohung Frankreichs hat ganz Deutschland von der Nordsee bis zum Bodensee in einem Nu geeinigt. Alle deutschen Staaten sind gerüstet gegen Frankreich, Bayern ist mit seiner Mobilmachung um einen Tag sogar Preußen vorangegangen. Die norddeutsche Kriegsarmee ist in einigen Tagen 700,000 Mann stark, in einigen Wochen sogar 920,000 Mann. Die süddeutschen Truppen werden etwa 100,000 Mann stellen. Man sagt, der Kronprinz von Preußen werde die deutsche Südarmce komman der Prinz Friedrich Carl die Nordarmee, der General Herwarth v. Bittenfeld, ein 1866er, Berlin decken. Wie in den meisten französischen Feldzügen wird Süddeutsch land den ersten Anprall auszuhalten haben. Die franz. Armee wird sich zwischen dem Norden und Süden dazwischen zu schieben, also auf Mainz vorzugehen und längs des Main sich anfzustellen suchen. In Berlin glaubt man, daß von Luxemburg und von der Pfalz rcsp. Straßburg her die ersten Vormärsche der Franzosen erfolgen werden. Die bayrische Mobilmachung umfaßt zwei Armeecvrps und 16 Bataillone Landwehr. Sämmtliche Eisenbahnen müssen zum Trans port der Truppen bereit fein. Die Heimreise des Königs von Preußen von Ems nach Berlin war eine große Huldigung. Alle größeren Städte bereiteten dem König einen festlichen Empfang. Die Handelskammern in Leipzig, Hamburg, Bremen und Lübeck haben in Adressen dem König ihre volle Zustimmung ausgesprochen, sich zu jedem Opfer erboten und Gelder angeboten. Zahlreiche Börsenplätze folgten mit der Anerbie tung von Geldern. Merkwürdig, die Börsen brachten dem deutschen Kriegsherrn begeisterte Hochs. In Leipzig eilt die halbe Universität zur Fahne, Viele freiwillig. Berlin, 19. Juli, Nachmittags. Die soeben erschienene „Pro- vinzialcorrespondenz" sagt: Die Rüstungen in Preußen und dem üb rigen Deutschland erfolgen eifrig. Die deutschen Armeen werden baldigst zur Abwehr des Feindes getrost hinausziehen können und obwohl die französischen Rüstungen schon lange vorbereitet sind, so wird dies, Dank der trefflichen Organisation des norddeutschen Bun- deshceres, sehr bald ausgeglichen sein. Wir wollen uns rein halten von Ueberhebung, zu Kleinmuth aber haben wir keinen Grund. Die Stimmung am Rhein. In einem längeren Artikel der „Kölnischen Zeitung", welcher mehr als irgend ein anderer der jetzt herrschenden Begeisterung entspricht, heißt es: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien, Deutschen Rhein!" Auf, ihr Bewohner der fernen Bernsteinküsle, ihr wackeren Ostpreußen, die ihr 1813 den Freiheits- r eigen eröffnet! Auf, ihr tapferen Schwaben, welche ihr ehedem des Reiches Sturmfahne führtet und den Vvrderstreit hattet! Auf, ihr Hannoveraner, die ihr ruhmbedeckt auf der Iberischen Halbinsel ge gen den alten Despoten kämpftet und jetzt dem neuen zeiget, wie toll und abscheulich er sich verrechnete, wenn er glaubte, es könne auch nur Ein Mann von euch fahnenflüchtig werden, wenn es gegen den Erbfeind geht! Brecht auf aus euren Bergen, ihr altkricgerischen Bayern, ans euren Wäldern, ihr Thüringer und Hesse», seid der Väter Werth, ihr treuen Deutschen Sachsen, die auf eigene Faust dic schmähliche Knechtschaft Frankreichs abwarfen und jubelnd übergingen zu den Deutschen Fahnen! Auf alles, was Deutsch heißt, zum Rhein, zum Rhein, zum heiligen Rhein, wenn es sein könnte, mit Sturmes- slügcln!" In einem Artikel: „Die befürchtete Ueberrnmpelung", sagt der „Rhein. Courier: Rian nimmt nicht 100,000 Mann in die Hand und schmeißt sie nicht durch die Luft an einen beliebigen Punkt. Darum sagen wir zur Beruhigung unserer Leser: die französische Armee befindet sich genau in derselben Verfassung, wie die Nord deutsche; sic ist noch nicht mobil gemacht, noch nicht concentrirt und steht nicht an der Grenze. Ueber alledem werden wohl noch mehrere Tage vergehen. Noch viel weniger werden die Franzosen etwa morgen in Saarbrücken cinrücken; ehe sie in Deutschland cinbrcchcn, müssen sie erst eine fcldmäßig vrganisirte Armee anfstellen und wie viel Zeit das kostet, wollen wir Unsern Lesern auseinandersetzcn. Die geringste Zeit, die ein französisches Regiment braucht, nm sich auf Kriegsfuß Z" setzen,.ist vier bis fünf Tage. Ein Eisenbahnzuz kann immer ein Bataillon, eine Escadron, eine Batterie oder eine Traincolonne befördern. Auf keiner Bahnlinie kann man mehr als zwölf solcher Züge an einem Tage befördern, und dies setzt schon voraus, daß aller sonstiger Verkehr aufbört. Aus Frankreich führen »ach unserer Grenze folgende Bahnlinien: Lille-Thionvillc, PariS- F-rouard und Favcnay-Nancy. Alan kann täglich etwa 36 Eisen bahnzüge auf der Linie Thionvillc-Metz-^ landen lassen; da aber zur Beförderung von 100,000 Mann sammt Zubehör an Pferden, Kanonen, Wagen, Pontons und Lazarclyen nicht weniger als 300 Bahnzüge erforderlich sind, so sieht man, daß alle drei Eisenbahn linien acht Tage lang in Anspruch genommen werden müssen, bevor eine wirklich vperalionSfühigc Armee von 100,000 Mann ver einigt ist." lieber die franziHschen Kriegsablichten geht der „dl. Fr. Pr." aus der Rheinpfalz ein Bericht zu, dem wir Folgendes entnehmen: „Der Schrecken des Krieges wird am tiefsten empfunden von den Bewohnern der Rheinpfalz. Schon am 8. Juli statteten fran zösische Gencralstabs-Offizierc und Ingenieure des militärischen Eisen bahn-Corps den Städten Zweibrücken, Landstuhl, Kaiserslautern und Neustadt wiederholte Besuche ab und kehrten über Speyer und Ger-