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Wochenblatt für für für die Königl. Amtshauptmmmschast zu Meißen, das König!. Amtsgericht und den Stadtrath zu Wilsdruff. Zweiun-Vierzigstek Bahrgang. Erschein! wöchentlich 2 Mal Dienstag und Freitag.) AbvnnementspreiS vierteljährlich l Mark. Eine einzelne Nummer k »stet^l » Ps. Znseratenannolme Montags u. Donnerstags bi» Mittag 1S Uhr. Erscheint wöchentlich S Mal (Dienstag und Freitag AbonncmentSpreiS vierteljährlich 1 Mark Eine einzelne Nummer - kostet^) Pf Jnseratenannahme ZVuövkllfs, Nossen, Siebenlehn und die Umgegenden. Nr. 78. Freitag, den 29^September 1882. Der letzte Moment. Von Eugen Hermann. Neulich ging ich vor's Thor, auf dem Wege, welcher neben dein Schienenstrange der Eisenbahn nach P. führt, und welchen ein Land weg unwelt des Thores durchschneidet, der über die Eisenbahn nach dem Exercicrplatz geht. Vom Bahnhofe her verkündete der schrillende Pfiff den nahe bevorstehenden Abgang eines Zuges; aus dem Landwege sah ich einen Jüngling in der schmucken Husaren-Uniform auf einem munteren Pferdchen sein Alorgenlied pfeifend nach dem Exercierplatz reiten. Der Zug brauste aus dem Thore, der Husar hielt sein Pferd an, um zu warten, bis er vorüber sei. Aber das Pferd stampfte mit dem Fuß und schnaubte, als es das dampsende Ungethüm sah, bäumte es sich hoch auf und war mit einem Satze auf den Schienen. Der Husar riß es zurück; aber es war zu spät: das Rad der Locomotive streifte den Kopf des Pferdes, daß es stürzte, und der Husar gerieth unter die zermalmenden Räder des Zuges. Das Unglück war geschehen, noch ehe man gesehen, wie es zuging, und die blutigen Körper auf den Schienen bezeugten es, daß die schreck liche Erscheinung kein gräßliches Traumbild der Phantasie gewesen, sondern die entsetzliche Wahrheit bestätigte: der Tod pflückt dieBlüthe der Jugend, wie das Alter; er trifft wie ein Blitz, wo das Leben Prahlt mit der Frische seiner Kraft. Wenige Sekunden genügten, um durch den Zulauf von Neugierigen diese Warnung, welche der Himmel oft an das Menschenherz richtet, einer größeren Menge zu Theil werden zu lassen. Dem Husaren war der Arm zermalmt, deri Kopf beschädigt; er schwamm in seinem Blute. Dem Pferde waren bcde Vorderbeine weggcrissen. Ein Militär-Chirurg sprang dem Menschen zu Hülfe, sah die Wunde und schüttelte mit dem Kopfe. Dann schaute er nach dem Pferde! das arme Thier hatte keinen Schrei für seinen Schmerz wie der Mensch, aber das Weh schrie ans seinem Blick, malte sich in dem Winden der zuckenden Glieder. Der Chirurg sah, daß das Pferd nicht mehr wiederhergestellt werden konnte; er hatte Mitleid mit den Schmerzen des Thieres, zog sein Seitengewehr nnd endete mit dem Gnadenstoß seine Leiden. Den Husaren tödtete er nicht, obwohl es eine Gnade sür ihn gewesen wäre, und auch er nicht zu retten war; denn einen Menschen darf man nicht tödten, wenn er auch darum bittet, wenn der Todes stoß auch Barmherzigkeit wäre. Ich und Jeder, der Zeuge feiner unsäglichen Schmerzen war, fühlte, wie das Loos des Pferdes beneidens- werth war, gegen das feine — aber „das Menschenherz muß stückweiß brechen", das Leben darf nur Gott.nehmen, und Er die Zeit der Er lösung bestimmen. Ja, das Thier ist oft zu beneiden, es giebt Vereine gegen Thier quälerei; aber nicht vor jeder Folter schützt das Gesetz den Menschen, — eS schützt sein Leden, wo er diesem Schutze flucht, und es reicht da nicht aus, wo seine gepeinigte Seele darum fleht. So ist es und — es kann nicht anders sein. Die Seele gehört dem Menschen allein, die kann das Gesetz weder richten noch schützen, mit dem Körper aber gehört sie der Gesellschaft und ihrer Ordnung an, und an dieser hält sich das Gesetz, richtet oder schützt ihn, und hält ihn fest, bis Gott die Banden löst. Der Mensch gehört der Gesellschaft an, und diese verlangt von ihm, daß er ein Testament mache, ehe er sie verläßt; diese stellt das Gesetz hin und fordert, daß es ihn festhalte, auch gegen seinen Willen, so lange die Kunst des Arztes ihn noch zu bindeu vermag. „Aber ist das nicht grausam!" rief ich, und deutete auf den Blutenden, dessen Wehgeschrei mich schauern ließ und Thränen in manches Auge lockte. „Gebt ihm doch den Gnadenstoß!" „Nein," sagte ein alter Herr neben mir, „das wäre grausam. Gott läßt ihm noch Zeit, seine Sünden zu bereuen und seine Seele auf den Tod und das Gericht vorzubereiten." „Und seinen Schuldnern zu vergeben!" tönte es hinter mir mit bewegter Stimme. Ich sah mich um. Der Sprecher war der Baron Horsteck, ein noch junger Mann mit einem alten Gesicht, Jemand, dessen Taufschein nicht mit den Furchen seiner Stirne im Einklang war, dessen Antlitz sagte: Zähle meine Jahre nicht wie die anderer Leute, denn Vieles hat sich bei mir in kurze Zeit gedrängt. Ich kannte den Baron oberfläch lich, wir hatten uns in Gesellschaften gesehen, und sein Aeußeres hatte schon längst in mir den Wunsch rege gemacht, diesen Mann kennen zu lernen. Es mußte etwas Absonderliches sein, was seine Stirn gefaltet, und dem Auge diesen düsteren und schwermüthigen Ausdruckt gegeben hatte; nicht das alltägliche Leben, Sorge, Geldnoth oder Langeweile und unbefriedigter Egoismus, diese modernen Beweggründe des frühen Alters unserer Lebemänner, denn er war begütert, hatte als Offizier ehrenvoll gedient, seine Brust war schon früh mit Orden geschmückt und freiwillig hatte er eine Carrisre, die ihm viel versprach, verlaffen um sich zurückzuziehen. Ich begrüßte den Baron, und wir Beide drängten uns durch die Menge ins Freie. „Ich gebe zu," sagte ich, während er sinnend neben mir her schritt, „ich gebe zu, daß im Allgemeinen der Grundsatz richtig ist, das Leben eines Menschen so heilig zu halten, daß man ihm sogar den Gnadenstoß versagt, das Gegentheil würde sogar Mißbräuche Hervor rufen; aber in einzelnen Fällen halte ich es für Härte und Grausamkeit, Leiden nicht zu enden, die einen sicheren Tod herbeirufen. Wenn ich Arzt wäre, könnte ich dem Flehen des Patienten nicht widerstehen." „Nach diesem Grundsatz," wandte der Baron ein, „würden Sie auch einen Selbstmörder in seinem Beginnen nicht stören, wenn der Tod nach Ihrer und seiner Ansicht für ihn die Erlösung von unsäg lichen Leiden ist?" Das Auge des Barons richtete sich bei dieser Frage forschend auf mich, als warte er auf eine bejahende Antwort, um sie anzugreifen. Es schien mir, als wünsche er sie, um seinem Herzen Luft zu machen, um etwas zu sagen, was der Ermunterung bedurfte, um sich von sei nem Herzen zu lösen. „Es können Fälle vorkommen," entgegnete ich rasch, „wo der Mensch allein die Frage zu lösen hat, ob er die Kraft, welche Gott ließ, sein Leben zu enden, auwenden darf oder nicht. Der Kranke, der mit seinem Gott einig ist, kann wünschen, daß man das Ende seiner Leiden beschleunige, der gebrochene, der entehrte Mensch thut diese Bitte an sich selbst und erfüllt sie." „Sie umgehen meine Frage," unterbrach mich der Baron, „weil die Vernunft das tadelt, was das Mitleid gebietet — ich sage Ihnen, jede Sekunde Leben ist heilig für den, der sie noch zu leben hat und für den, der dem Sterbenden naht. In der letzten Sekunde kann ein Wort, ein Blick des Sterbenden ein Menschenleben vom Fluch erretten, den trübsten Himmel erheitern — abgesehen davon, daß Gott Wunder thut und einen Menschen in der letzten Stunde dem Leben erhalten kann, wie den Selbstmörder, dem wir die Pistole von der Stirn reißen, wieder aufrichten und zu einem glücklichen Menschen machen. Mir ist beides in meinem Leben begegnet und ich danke Gott auf den Knien dafür, daß er mir zwei solche Sekunden eines Menschenlebens schenkte, ohne die ich der unglücklichste Mensch wäre, den die Sonne bescheint." Der Baron sprach diese Worte mit so bewegter Stimme, daß mein Interesse die höchste Spannung erhielt. Ich ergriff seine Hand und bat ihn, mir sein Inneres aufzuschlie ßen. „Ihr Geheimniß," sagte ich, „wird mir eben so heilig sein, wie es die Sache selbst ist, von der wir reden. Sie haben Recht; das Herz fordert Mitleid, wo die Vernunft und das Bewußtsein der Pflich ten, die Gott an die Menschen stellt, Religion und Sitte, oft Härte, ja Grausamkeit verlangen." Horsteck erfüllte meine Bitte. Ich war, begann er seine Erzählung, etwa zwanzig Jahre alt, als ich, das Offizierspatent in der Tasche, meinen ersten Ausflug in die Welt machte. Das Ziel meiner Reise war Dresden. Ich stieg dort in einem Hotel ab und benutzte das schöne Wetter, um täglich Partien in die schöne Umgegend zu machen, von denen ich abends wieder heimkehrte. Sobald ich mich jedoch zur Ruhe begeben hatte und das Auge schließen wollte, wurde ich darin durch ein Geräusch gestört, welches meinen Schlaf verscheuchte und die Neugierde erregte. Sobald nämlich der Bewohner des Nebenzimmers nach Hause znrück- kehrte, was gewöhnlich zwischen zehn und elf Uhr geschah, hörte ich durch die dünne Wand, welche uns trennte, ein Klimpern, als ob er sein Geld zähle. Dann ging er eine Weile im Zimmer auf und ab, öffnete das Fenster und trillerte abwechselnd ein lustiges oder trauri ges Lied, bis er sich endlich zur Ruhe begab, um sich im Bette zu wälzen, als fliehe ihn der Schlaf. Dies dauerte wieder eine halbe Stunde; ich hörte ihn seufzen, bis sein Schnarchen mir endlich ver- kündete, daß Morpheus ihn gefesselt habe. Im Anfang war ich über diese Störung meiner nächtlichen Ruhe unwillig. Aber das sonderbare Gemisch von Lauten der Klage und der Heiterkeit machte mich neugierig, die Ursache der Unruhe, die sein Inneres bewegte, zu entziffern. Ein einziges Mal hatte ich ihn ge sehen, und sein Aeußeres hatte mein Interesse erweckt, so flüchtig unser Begegnen auch war. Ich traf ihn auf dem Korridor des Hotels, gerade als er beim Fortgehen seinen Schlüssel an das Bret hing; die Nummer des Hakens verrieth mir, daß es mein räthselhafter Nachbar sei, dessen lange dürre Figur ich vor mir sah. Das Gesicht war blaß, das Haar schwarz, die Züge seines Antlitzes scharf gezeichnet. Es war gerade kein schöner Kopf, aber es lag viel Ausdruck darin, ein seltenes Gemisch von Weiche und Kraft, Energie und Sentimentalität. Es vergingen mehrere Tage, seitdem ich ihn nicht gesehen. Er trieb sein Wesen immer ärger. Ich hörte ihn immer tiefer seufzen und stöhnen, bis er plötzlich aussprang und eine heitere Arie pfiff, als wolle er den Schmerz gewaltsam unterdrücken. Das muntere Lied klang aber so gellend wie das Lachen der Ver zweiflung. Ich hörte, wie er sich Plötzlich aufs Bett warf und schluchzte, dann wieder aufsprang und seinen Schreibtisch öffnete, vermuthlich