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Nr. 109.Zweites Blatt. Donnerstag, 14. September 1905. Jur Landtagswahl. Atts zur Wahl! Morgen beginnen dieUtwähler- wahlen zur Landtagswahl. Zwei Feinde sind es, zwei Uebel, die wir bei der Wahl zu bekämpfen haben: einmal die Sozialdemokratie, das andere Mal die Laxheit der Wähler! Der erste Feind wäre unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr gefährlich, wenn ihm in der Laxheit, der Interesselosigkeit der ordnungsparteilichen Wähler nicht ein so gewaltiger Bundesgenosse erstanden wäre. Man klagt tagtäglich überschlechteZeiten, man schimpft und räsoniert über alle unerfreulichen Erscheinungen der Gegenwart, und ver gißt dabei, daß es um vieles besser sein könnte, wenn jeder Einzelne an den auf Besserung der Verhältnisse ge richteten Bestrebungen den Anteil nähme, der ihm als Staatsbürger zukommt. Man vergißt, daß gerade die all- seitige Teilnahme der Staatsbürger an seinen Bestreb ungen das beste Mittel ist, um die maßgebenden Instanzen in ihrer Tätigkeit, die in einem monarchistischen Staate wie Sachsen stets auf die Förderung des allgemeinen Wohles gerichtet ist, gerichtet sein muß, nicht erlahmen zu lassen. Gewiß ist vieles nicht so, wie es sein soll, aber wir alle wissen, daß die Verhältnisse oft mächtiger sind al? die Menschen. Ein schlechter Staatsbürger, der da grollend zur Seite steht, ja vielleicht in falschem Un mut seine Stimme der Sozialdemokratie gibt, die ihm nichts geben und nichts nehmen kann, — ein schlechter Staats bürger, der an dem Tage der Wahl vergißt, daß die Sozialdemokratie der geschworene Feind aller Ordnung ist, daß die Sozialdemokratie nur einreißt, nie aber aufbaut; sie lebt ja von der Unzufriedenheit, sie kann an der Besserung der Verhältnisse kein Interesse haben. Und wer wollte bestreiten, daß das Sachsenvolk gerade jetzt alle Berechtigung hat, mit vollem Vertrauen zu dem Throne emporzublicken, auf dem ein Sproß des Hauses Wettin sitzt, der mit seinem Volke denkt und fühlt, der von dem ernsten Streben beseelt ist, mit seinem ganzen Einfluß des Landes Wohlfahrt zu fördern?! Wer ernstlich gewillt ist, mit seinem König, mit der Regierung an dec Besserung der Verhältnisse mitzu- arbeiten, der stehe nicht grollend zur Seite, sondern tue seine Pflicht als loyaler Staatsbürger und unterstütze die Wahl der auf dem Boden der königstreuen Parteien stehen den Kandidaten! Am Montag fand im Brauhossalon zu Freiberg eine von etwa 350 Wählern besuchte Versammlung für die Kandidatur Braun statt. Die Sozialdemokratie war auch dirser Versammlung des Herrn Braun fern geblieben; die Herren Genossen scheinen durch die derbe Abkanzlung, die ihnen Herr Braun in Tharandt ange deihen ließ, die Lust zu einem weiteren derartigen Rededuell verloren zu haben. Die Versammlung entsprach in ihrem Verlauf allenthalben den Erwartungen, die man in Freiberg, dem Wirkungskreise des Herrn Stadtrat Braun, auf sie setzen konnte. Uns Wilsdruffer interessiert vor Allem die Mitteilung des Herrn Braun, daß Mitglieder des „Mittel- standsbundcs" sich als Wahlmänner sür ihn haben auf n Goldsucher. Roman von Edela Rüst. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Damals war sie noch so ein unreifes Ding gewesen! Damals hatte sie all das nicht herausgehört, was heute der gereiften Eva, die in die Welt hineingesehen hatte, Wellen der Erinnerung ins Herz trug. Und in diesem Augenblick hatte sie nur den einen Wunsch, sich Flügel an zubinden. Nach Hause und nach Barken, wo man sich heut in treuer Liebe um sie sorgte, heut und alle Tage! Und wieder einmal mitten im Getümmel und im Auf ruhr ihres höchstgespannten Empfindens schoß ihr die Frage durch das Hirn, ob sie gar so viel Herrliches ein getauscht habe gegen all das Still-freudige dort in seiner Enge aber auch in seiner Reinheit und tiefen Kraft und kernigen Frischt. Es schien ihr als hätten die Menschen dort alle, selbst die.Kuriositäten unter ihnen, ein Leuchten um sich, wie aus einem tiefen, klaren See heraus — so etwas Erdig-schweres, Kraftvoll geheimnisvolles wie grünes Moorland. Hier! Hier „im Leben" spielt jeder eine andere Rolle in der großen Wettkomödie. Und so vielen ist diese Rolle nicht auf den Leib geschrieben. Viele stecken noch rege begeistert im Anfangsstadium und fühlen noch nicht die Ohn macht ihres Könnens. Viele spielen routiniert-nüchtern, und viele spielen schon mit dem trostlosen unverkennbaren Ekel, der den gestrandeten Schmierenkomödianten verrät, der eben immer noch mittun muß um nicht hinter der nächsten blühenden Rosenhecke am teeren Magen zu ver- enden! Aber es lag doch über allen ein Flimmern. Kein Leuchten, aber ein Flimmern! Ja, es lag ein Flimmer auf fast allen, die sie h'er kannte, denen sie in den Salons begegnete. Uebcr Alten und Jungen, Männern und Frauen! Ueber den Mädchen stellen lassen; bekanntlich war gerade dieser Mittelstands bund der Macher der Kandidatur Ahlhelm. Da scheint es doch, als ob der Vorstand des Bundes ganz und gar aus der Reihe tanzte, als er die Partei über die Person stellte. Ganz im Sinne des Freiberger Eingesandts, das wir kürzlich erhielten, führte Herr Fabrikant Streubel in der Debatte nach dem Bericht des „Freib.Anz." folgendes aus: Herr Stadtrat Braun habe seinen Vortrag mit großer Sachkenntnis gehalten. Herr Braun habe gezeigt, daß er vollständig in die Materie cingedrungen sei. Im Wahl kreise kenne fast jeder Herrn Braun und sein öffentliches und privates Leben. Wenn man einen Dresdner Herrn wählen wolle, so würde die Gefahr nahe liegen, daß dieser mehr für die Interessen der Residenz als für Freiberg eintreten würde. Bei Herrn Braun sei man davon über zeugt, daß er nur das verspreche, was zu halten er auch im stände zu iein glaube, und man wisse in Freiberg, was man von Herrn Braun erwarten könne. Es sei aber noch nicht dagewesen, daß man einen so unbekannten Herrn, wie Herr Ahlhelm es sei, als Kandidaten aufstelle. Man wisse über dessen privates Leben so gut, wie gar- nichts. Es werde gesagt, er sei Kaufmann, dann wieder Versicherungsdirektor, andere sagen wieder er sei Kreis direktor, ferner höre man, daß er einen Zigarrenhandel betreibe. Herr Ahlhelm habe nichts getan, um diese Un kenntnis zu beseitigen. Es sei stets üblich, daß der Kan didat den Wählern sich vorstelle und seinen Lebensgaug enthülle. Es sei das wenigste, was man verlangen könne, wenn man fordere, über die Betätigung des Kandidaten unterrichtet zu werden. Man könne auch dem Wahl komitee des Herrn Ahlhelm den Vorwurf nicht ersparen, daß es seinen Kandidaten nicht darauf aufmerksam ge macht habe. Herr Professor Dr. Schellhorn erklärte, daß er sich zu den konservativen Männern zähle, wenn er auch dem konservativen Verein nicht angehöre. Trotzdem trete er freudigen Herzens für Herrn Braun ein, weil er die Ueberzeugung habe, daß Herr Stadtrat Braun ein politisch maßvoller Mann sei. Er habe sich bewährt und man müsse deshalb an ihm festhalten. Auf politische Schlagworte könne man sich nicht verlassen. Herr Johann Heinrich Müller, der Vorsitzende des Mittel- standsbuudes zu Freiberg, legte in der Debatte Wert darauf, zu betonen, daß Herr Braun nicht der einzige Handwerker im Landtage sei: auch Herr Baumeister Enke gehöre dem Handwerk an. Ob Herr Enke tatsächlich dem Handwerk zuzuzählen ist, darüber läßt sich streiten. Es scheint aber so, als ob Herr Müller, der Mittelstandsretter für Freiberg, meinte, zwei Handwerker im Landtage seien des Guten zu viel! Immerhin war Herr Müller freundlich genug, Herrn Braun dem Handwerker zuzuzählen — sonst tut man immer so als ob Jemand, der zu Ehren ämtern berufen worden ist, seinem Handwerk nicht hinzu- zuzählen sei. Herr Johann Heinrich Müller in Freiberg hat es nicht verwinden können, unsern Redakteur Friedlich in der am Montag in Freiberg abgehaltenen Wählerver sammlung persönlich anzugreifen, weil er als konservativer Mann nicht sür den Reformer, sondern für den National- liberalen eintrete. Es ist sicher nur Zufall, daß Herr Müller für diese Anrempelnng gerade eine Versammlung mit den großen toupierten Scheiteln, und den Jünglingen mit den wehenden Kravatten und den düsteren weltver neinenden Augen unter den blassen Stirnen mit den schweren gerollten Locken darauf . . . Der Flimmer einer höheren differenzierten Kultur in all' seinen grellen bizarren Ausstrahlungen, und doch — vielleicht nur Irrlichter über dem Sumpf! Das waren ihre Edelmenschen, die sie mit großgeweiteten Augen suchen gegangen war! Nicht immer Fabrikware — nein! Viel Kunstware! Oft ganz wundervoll gedachte und geformte Tonware, aber — im Brennen verunglückt, voll offenbarer und versteckter Knoten und Brüche und verglühter Farben — Und Swansen? Und sie selbst? Was würde nun aus ihrem Zusammenspiel werden? Konnte sie sich ihre Kunst ohne Swansen überhaupt vor stellen? Hatte sie nicht alles in seine Hand gelegt, daß sie als Träumer im selbstgeschaffenen Reich sich anslebcn durfte? Wie sollte, wie konnte das aufhören? Hatte er nicht alles für sie geebnet, alles für sie er dacht, selbst bis auf das Kleid, das sic heut am Abend tragen würde? Und sein ganzes Werk, an dem er mit solcher Energie und solch klarer Freude arbeitete, sollte sie in Trümmer werfen, weil er ein Mal an der Stirn trug? War sie so wenig zu opfern bereit für ihre Kunst? für ihre Kunst, die sie erhob über all die niedrige Lebensgaukelei! Die ihrer Seele ein schönes inneres Leben zu leben erlaubte, die ihr vergönnte, sich und alles was des Lebens wert war in göttlicher Nacktheit zu sehen und sich daran zu be rauschen! Durfte sie auch so etwas Halbes werden voller Knoten und Brüche und verglühter Farben?! War sie es schon geworden, daß sie zwischen ihrer Kunst und spinnweb- darchsetzten Heimatsgefühlen schwankte? Sie raffte sich auf und eilte nach Hause, befreiter, zielsicherer. Wäre nur erst der Abend da, daß sie sich an ihrem ersten Erfolg aufrichten könnte! wählte, in der der Angegriffene nicht anwesend war; denn sonst hätte er es in Tharandt insofern bequemer gehabt, als er dort gleich die Antwort mit nach Hause nehmen konnte. Wir haben schon wiederholt ausgeführt, welche überzeugenden Gründe uns und andere konservative Männer bestimmen, für den bisherigen Vertreter einzutreten. Herr Johann Heinrich Müller in Freiberg scheint das Alles aber nicht gelesen zu haben oder er leidet an der chronischen Vergeßlichkeit, die sich seit einem Jahrzehnt in manchen politischen Lagern breit macht. Wir haben vor allem betont, daß bei Landtagswahlen die politische Zugehörigkeit eines Kandidaten eine ganz untergeordnete Rolle spielt, daß es vor allem den Interessen eines Bezirkes zuwider- läuft, einen bewährten Vertreter kalt stellen zu wollen, blos weil irgend eine politische Vereinigung das Bedürfnis fühlt, sich öffentlich zu betätigen, und daß wir es für unverantwortlich halten, durch eine völlig aussichtslose Kandidatur einen Keil zwischen die Ordnungsparteien zu treiben. Keiner der die Wahl des Herrn Ahl helm betreibenden Herren und auch der Kandidat selbst werden sich heute darüber im Zweifel sein, daß ihre Kandidatur keinen Erfolg verspricht. Es wäre viel richtiger, dies öffentlich cinzugestehen, aispraktischen Leuten, die niemals dort Weizen zu ernten hoffen, wo Heide kraut gesät wurde, politischen Jndifferentismus zum Vorwurf zu machen. Redakteur Friedrich hat in Tharandt als höf licher Mann in verbindlicher Form von der Aufstellung der Kandidatur Ahlhelm abgeraten; Wenns für Herrn Johann Heinrich Müller nicht deutlich genug war, ist's nicht unsere Schuld. Im übrigen meinen wir, daß gerade die Gegner des Herrn Braun alle Ursache hätten, den persönlichen Kampf zu vermeiden, denn sonst könnte man geneigt sein, den Spieß umzudrehen! Aus Sachsen. Wilsdruff, 13. September 1905. Am 4. d. Mts. wurde in Dresden ein sechs, jähriges Mädchen aufgegriffen, das weinend in den Straßen umherirrte. Die Kleine nannte sich Charlotte Böhm und gab an, daß sie in Bodenbach in derTeplitzer Straße gewohnt habe und von ihrer Mutter nach Dresden gebracht worden sei, wo diese sie verlassen habe. Die Nachforschungen bestätigten diese Angaben. Die Mutter ist eine in Bodenbach bedienstete ledige Kellnerin, welche zu ihrer Rechtfertigung angibt, sie sei mit ihrem Kinde in der Absicht nach Dresden gefahren, um es zu seinem Vater zu bringen. Als sie jedoch in dessen Wohnung ge kommen sei, habe seine Frau sie mit Grobheiten überschüttet und ihr die Tür gewiesen Empört darüber, habe sie jedes Mitgefühl für ihr Kind verloren, habe diesem einen an die Adresse des Vaters gerichteten Brief in die Hand gegeben und es sich dann selbst überlassen. Hierauf sei sie allein wieder nach Bodenbach zurückgefahren. Der Vater habe das Kind auch vor der Haustür getroffen, ihm aber nur den ihn kompromitierenden Brief abgenommen und das Kind weggeschickt. Dieses befindet sich zurzeit noch in Dresden. Man schreibt uns: „Dem erweiterten Festausschüsse für die von Ende September bis Mitte Oktober dieses Jahres in Dresden stattfindrndcn Aufführungen des Swansen war dort gewesen, er hatte ihr ein paar wunderbare Orchideen gebracht — sie sollten der stilisier ten goldbestickten weißen Chiffon-Wolke am Abend den weichen Zauber erhöhen. Ja — sie wollte sie tragen, er sollte nicht vergeblich dagewesen sein. Nach Tisch wollte sie sich niederlegen und schlafen bis sie sich fertig machen mußte. Da klopfte das Mädchen noch einmal an ihre Tür Sie brachte ihr einen vollen losen Strauß deutscher roter Rosen. Das ganze Zimmer durchdunstete der süße Duft — wie Heimatlosen! Wie die Rose aus Barken, deren be rauschende Duftwellen an jenem Tage so zärtlich zum Balkon hinaufzitterten, als sie Konrads Mutter wieder für sich gewann ein Brief dabei — von Konrad! Eva sprang von dem Diwan auf und drückte ihr er glühtes Gesicht wie trunken in die Rosen: „Von Konrad! Wirklich und wahrhaftig von Konrad!!" Der Brief lautete: „Liebste Eva! Durch Freundes Güte diesen Gruß, in den alle guten Wünsche von zu Hause und aus Barken für Sie und den heutigen Abend verquickt sind! Was gäben sie alle darum, heut mit Ihnen sein zu können. In alter, unveränderter Freundschaft. Konrad." Eva stürzten die Tränen aus den Augen. Ja, waS gäben sie alle darum, heut hier sein zu können! Und was gäbe sie, einen von allen hier haben zu können, und wäre es selbst nur Tante Alexandra! Eva lächelte, sie wußte, daß Tante Alexandra freiwillig verzichtet hatte, sie wollte lieber sterben als eine Coßnitz, die letzte Coßnitz, auf dem Podium sehen, sie für Geld singen zu hören! Aber Mutter Finchen hatte durchaus kommen wollen, und der Haupt- mann hatte auch nichts dagegen gehabt. Sie buk deshalb auf vierzehn Tage Vorrat an weichen Makronen und hatte schon ihren Koffer bereit gestellt. Doch Eva bat die Mutter