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SächsifcheStaalszeilung Staatsan^eiger für den Zreistaat Sachfen Erscheint Werktag» nachmittag» mit dem Datum de» ErscheinungStage». ve»ug»pret»: Monatlich »KO Mart. Einzelne Rummem LO Mart. Kernsprecher: Geschäftsstelle Nr. 21295 — Echristleitung Nr. 14574. Postscheckkonto Dresden Nr. 2486. Ankündigungen: Die 82 mm breite Grundzeile oder deren Raum im Ankündigung»- teile 75 M., die 66 mm breite Grundzeit« oder deren Raum im amtlichen Leite ISO unter Eingesandt 180 M. Ermäßigung auf Familien» u. Geschäftsanzeigen. Schluß der Annahme vormittag» 10 Uhr. Zeitweise Nebenblätter: Landtags-Beilage, Synodal.Beilage, Ziehungslisten der Verwaltung der Staatsschulden und der Landeskulturrentenbant, Jahresbericht und Rechnungsabschluß der LandeS-BrandversichemngSanstatt, Be^aufSUste von Holzpflanzen auf de» Staatsforstrevieren« Verantwortlich für die Redaktion: Hauptschriftleiter Bernhard Jolle» in Dresden. Nr. 302 Freitag, 29. Dezember 1922 Vier Tage vor der Pariser Konferenz. Einigung über die Grundlinien in Berlin. Die Reichsregierung soll sich am Donnerstag über die wesentlichen Grundlinien der nach Pari» zu richtenden Vorschläge nach langem Hin und Her schlüssig geworden sein. Für Freitag ist deshalb eine abschließende Besprechung mit Vertretern der Wirts hast beabsichtigt. Bei dem nach Pari; zu übermittelnden Vorschlag handelt es sich nach unseren Informationen in der Hauptsache um einen Plan, der eine end gültige Lösung vorsteht und in dem eine feste Summe, die nach Ansicht der Regierung der deutschen Leistungsfähigkeit ent- spricht, angegeben werden wird. Auch sind b e- stimmte Garantien vorgesehen, die Haupts sächlich von der Industrie getragen werden sollen. Im Verlauf der Kabinettsreratui gen haben innerpolitische Motive, die von dem Reichswirt- schastSminister Becker und dem Rerchsaußenmimster verfochten wurden, eine gewisse Rotte gespielt. Der vorgesehene Plan an sich stellt d.Shalb ein Kompromiß zwischen der Auslassung drr einzelnen Regierungsmitglieder dar. Eine einheitliche Auffassung, insbesondere über die Höhe der anzubietendeu Summe, konnte nicht zustande kommen. Langsam beginnt man jetzt auch in den Ententestaoten Vorbereitungen für die am 2. Januar in Paris beginnende Konferenz zu treffen. Bonar Law soll z. B- einen nenen britischen Reparationsplan ausgearbeitet haben, über den er auch mit Deutschlani) zu verhandeln gedenkt. Das Programm scheint der Pfänderpolitik PoincaröS insofern entgegen- zukommsn, als es sich zu Sanktionen unter der Voraussetzung bereit erklärt, daß der von Deutsch land zu zahlende Betrag auf eine ver nünftige Summe herabgesetzt wird, aber die Sanktionen erst dann in Kraft treten sollen, wenn Deutschland die Zahlung dieser h.rab- gesetzten Summe nicht ordnungsgemäß leistet. Sollte über die Reparaiionssrage im allgemeinen eine Einigung in Paris zustande kommen, dann will der englische Ministerpräsident Vorschläge über die Lösung der Frage der alliierten Schul- den machen. Wahrend also auf der letzten Lon- doner Konferenz das Rrparationsproblem mit der Frage der interalliierten Schulden verlnüpft wurde, soll jetzt jede Frage einzeln behandelt werden. Schon daraus ist zu entnehmen, daß rin Einvernehmen zwischen England unb Frank reich auch in Paris nur schwer zustande kommen wird. * Bonar Laws Reparationsplan. London, 29. Dezember. Bonar Law wird am Montag nach Paris ab reisen. ES steht noch nicht fest, wer ihn be gleitet. Im Laufe der Woche wird ein Kabinetts- rat zur Besprechung der britischen Politik ab- gehalten werden. Einer Blättermeldung zufolge wird Bonar Law, w.nn die Atmosphäre auf der Konferenz günstig ist, e nen Plan zur Behandlung der Reparationsfrage einbringen. In der Zeitschrift „Nineteeuth Century" setzt sich in einem „England zwischen Europa und Amerika" betitelten Ausmtz der frühere Chefredakteur der „Times", Henry Wickham Steed, mit den politischen Plänen Bonar Laws auseinander. Den Aus führungen Steeds ist um so mehr Bedeutung bei- zumessen, als Steed während und nach dem Kriege ein ausgesprochener Gegner Deutschland» war und ihm insolgedessen eine Umschminkung der Tatsachen zugunsten Deutschland« vollkommen fern liegt. Steed macht in diesem Aufsatze Poincarä daraus aufmerksam, daß er Bonar Law sehr mißverstanden habe, wenn er daran glaube» daß eine Sonderaktion FraukueichS im Ruhrgebiet« den FortdeOund der englisch-französischen Ent«»-« retten könnte. Es liege nicht im LeMMwunent Bonar Law», Drohungen an- zuiveuwn» Sr ziehe e< vor, anzunehmen, daß setnr Mitunterredner sich über die Folgen ihrer Gm-Wagen Rechenschaft abzulegen wissen. Bvm» Kd» weiß sehr gut, daß da» englische Volk sich entschieden gegen eine Aus dehnung der Besetzung deutschen Ge bietes wende. Bonar Law wünsch?, Deutsch land keine Geschenke zu machen und er wünsche auch nicht, daß dies sich seinen Berpfl chtungen, die gerecht seien, entziehe. Er würde auch zu stimmen, daß die englischen Forderungen gegenüber den Alliierten herabgesetzt oder annulliert würdet:, und er würde auch aus de» englischen Reparationsanteil verzichten, wenn dadurch eine praktische Lösung der Reparation»- frag? erfolgen könnte. Aber mit einem müfirn die srauzösifche« Staatsmänner unbedingt rechnen, d«ß Bonar Law eine Besetzung des Ruhrgebietes oder wenigstens der Hauptpunkte des Ruhr- gedirteS a',S eine Schädigung Englands und des übrigen Europas betrachte und daß eine derartige Maßnahme in jedem Kalle peinliche Folgen für die französisch- englischen Beziehungen haben miisse. Man könnte die deutsche ReparationSsumme von 132 Milliarde» Goldmark auf etwa 40 Milli arden herabsetzen. Ma» könnte die S^uldver- schreibunge» der Kategorie 6 und etwa ein Viertel ver Kategorie L vernichten, ebenso di« inter- alliierten Schulden. E» sollte aber die deutsche Schuldsumme nicht nur endgültig auf den obenerwähnten Betrag festgesetzt werden, son- der» Deutschland auch die Bedingungen und die Zeiträume bekanntgegeben werden, in denen es sich in billiger Weise seinen Zahlungsver- Pachtungen unterziehen könnte. Man könnte auch eine Austeilung der Reparationsleistungen unter die Alliierten vornehmen. Tie Krönung des ganzen Gebäudes wäre ein Vertrag zwischen Frankreich, England und Belgien, der di, Sicherheit aller Inter essenten gewährleistete, wobei gleichzeitig die Entmilitarisierung der Rheinlande unter der Kontrolle deS Völkerbundes erfolgen könne. Unter Entmilitarisierung ver steht er natürlich die Räumung der Rh«i«- lande durch die alitierten Truppen. * Poincares Abfichten für den 2. Januar. (United Telegraph.) Paris, 29. Dezember. Am Quai d'Orsay herrscht gegenwärtig eine fieberhafte Tätigkeit, um dos technische und Wirt- schastliche Programm für die am 2. Januar be- ginnenden Besprechungen vorzubereiten. Die Sachverständigen arbeiten Tag und Nacht. Es rerlaulet, daß die französische Regierung einen umfangreichen und genau begründeten Bericht ausarbeilet, um darzulegen, daß Deutschland im Laufe diese» Jahres tatsächlich die nötigen Holz- mengen zu seiner Verfügung gehabt hätte, um sein?» Verpachtungen nachzukommen. Ter Bericht folgert daraus, daß die deutsche Rrgirrnug ihre Verpflichtungen absichtlich nicht erfüllt habe. Poineart soll die feste Absicht hoben, auf der Zusammenkunft der alliierten Ministerpräsidenten unbedingt und in erster Linie die absichtliche Verfehlung Tentschlands feststen,« zu lasf,n, damit rr daS Rech» erhält, sofort Sanktionen und Zwangsmaßnahmen an» zuwendkm * Keine Note PoiuearLs. Pari», 29. Dezember. Der diplomatische Mitarbeiter der Agentur HavaS dementiert die vom „Petit Journal" ver breitete Nachricht, PoincalL wcrde der deutschen Regierung in einer Rote Mitteilen, er sei bereit, jed-n Reparationsvorschlag zu prüfen, wenn er nicht auf Handelsabkommen von Privatpersonen und Finanzinstituten basiert sei. Diese Nachricht ist vollkommen falsch. Ter Ministerpräsi dent hat weder eine Rote über etwaige Vorschläge der deutschen Regierung nach Berlin gerichtet, noch eine Note, wie da» „Pelit Iouinal" eben ¬ falls behauptet hatte, über oie verweigerten Stickstosslieferungen. * Mnsiolini geht nicht nach Paris. Paris, 29. Dezember. Einer Meldung aus Rom zufolge erklärte Mussolini im gestrigen Ministerrat, er werde am 2. Januar nicht nach Paris gehen, denn die fehlende diplomatische Vorbereitung für die Pariser Kon ferenz mache eS unmöglich, eine definitive Lösung des Reparationsproblems zu erz elen. Die italie nischen Botschafter in London und Pari;, Torretta und Avezzano, werden Italien vertreten. * Die amerikanische Anregung zn einer Mrtschaststonferenz. London, 28. Dezember. Reuter meldet auS Washing.o : Die erste osfiznlle Andeutung über die Stell»:lgnahme zu einer internationalen Wirtschafts konferenz erfolgte gelegentlich der gestrigen Rede von Lodge im Senat, wo dieser darauf drang, daß der Präsident nicht gehindert werden solle „bei den Bemühungen, die er gegenwärtig uuternlmmt." Da« Staatsdepartement Hal tS ad- gelehnt, sich zu äußern, aber es verlautet, daß Präsident Harding ernstlich in Erwägung zieht, dem Senat ein Rundschreiben zuzusenden, in dem er Mittellungen über die Vcrhandlnngen machen und sein Bedauern über das Eingreifen des Kon gresses aussprechen werde, dns seine Bemühungen vielleicht behindern könnte. ES verlautet ferner, daß Harding verschiedene Möchte darüber sondiert hat, ob eine Wirtichastskonferenz er- wünicht sei. über die Frage, ob diese Kon- sercnz in Amerika abgehalten werden solle und ob Amerika daran te lnehmen werde, ist indessen nichts bekannt geworden. London, 29. Dtzember. Reuter meldet an» Washington: Präsident Harding hat in einem Briefe an Senator Lodge den Senat aufgefordert, den Antrag Borah üder eine neu« Ab- rüstungskonfereuz nicht anzuneh- men, weil ihn dicS bei de» Verhandlungen behindern würde, die bereits Wege« einer inter- nationalen WirtschaftSkonftrcnz geführt würde«. Der Brief bcfagt, der Senat könne in an, gtmefsener Weife brzvglich internationaler Ver handlungen feine« Rat erteilen, aber ei« Beschluß im Sinne Borahs könne bei den europäischen Mächte« einen falschen Eindruck erzeugen. Tie Regieiung be mühe sich bei der Regelung der e«ropä>sche« Lage, die seit vielen Monate« in eingehender und wohlüberlegter «eise erwogen worden fei, b.hilslich zu fei«. Der Präsident erklärt, die Reparationsfrage sei die Grundursache der europäischc» Schwirrlgkeiten. Amerika könne aber nicht das Recht sür sich in Anspruch nehme«, einer Ration zu sage«, was sie an Reparation«« bezahlen müss«, und «i«rr ander««, was sie ««nehmen müss«. Kaller «nd die Warschauer Mordverschwöraug. Warschau, 29. Dezember. Im Zusammenhang mit der Ermordung de» Staatspräsidenten Narutowitsch haben in den letzien Tagen zahlreiche Haussuchungen auch in Privalwohnungen pattgefunden. Die Untersuchungen ergaben u. a. die erstaunliche Tatsache, daß die Warschauer Jagd genossenschast in ihrem Laden in der Kru- lewSkastraß«, ohne Genehmigung te» Regierung», kommissar», Mafien, und zwar nicht nur Jagd- wassen, sondern auch Revolver an diejenigen Personen verkaufte, die eine Legitimation der aniijemillschen Aktion-gesells» aft Rozwoi vor wiesen. Auch i» den Räumen de» Verband«» der oberschlesiscden Aufständischen und de» Verbände» der Angehörigen der ehemalige« Hallerschen Armee fanden Revisionen statt. Ferner Pellte sich heraus, daß die Woh«ung des Generals Haller fortgesetzt in tele phonischer Verbindung mit einem be- stimmten Polizeikommissariat der Stadt Warschau stand, wodurch die Zusammen arbeit von Haller mit der Polizei gegen die Regierung sich ohne weiteres ergibt. Großes Aufsehen erregt serner de Feststellung, daß in dem Gebäude, in dem die Au»stellung statlfand, bei deren Eröffnung der Staats präsident ermordet wurde, am Tage des Attentats die telephonische Leitung vorher zerschnitte» wor den war. Ein Jahr des Aufstiegs ? Die Bedeutung eine- Jahres über die ge schichtliche Entwicklung wird nicht in seinen letzten Tagen, sondern meist nach Jahrzehnten richtig beurteilt. Erst die Distanz läßt das wirtlich Be deutsame eines Zeitraumes vor dem Unbedeuten den hervortreten. Wie wäre wohl im Jahre 1903 ei» deutscher Schriftsteller verlacht worden, der, zurückblickend aus das Jahr 1902, geschrie ben hätte, daß dieses Jahr die Katastrophe Deutschlands besiegelt habe. Und doch war es so. England hatte damals seinen letzten Versuch gemacht, mit Deutschland in eia freundschaftliches Verhältnis zu kommen; an dem Größenwahn Wilhelms II., an den von Tirpitz inspirierten Flottenplänen war auch dieser Versuch ge scheitert. Damit entschied sich En-Umds Politik. E» trat auf die Seite der Gegner Deutschland» und begann die Einkreisung, die 1914 unser Ver hängnis wurde. Aber wer in den Neujahr»- artikeln de» Jahre- 1903 blättert, findet kaum ein Wort über diese Wendung de» Sch cksal». Die wenigsten Deutschen haben überhaupt die Außer p litik versolgt, und noch heute dürften neun Z.hntel der Bevölkerung nicht wissen, daß das „perfide Albion" jahrelang ehrlich um die Freundschaft Deutschlands geworben hat. Und die etwas von den Dingen wußten, haben ihre Bedeutung nicht erkannt. Ihnen schien andere» weit wichtiger, was inzwischen längst vom Stru del der Ereignisse verschlungen ist. Wird heute ein Politiker verlacht werden, der das hinter uns liegende Jahr 1922 als ein Jahr des Aufstiegs bezeichnet? Es ist anzunehmen. Wie — wirs man ihm entgegenrusen — hast du ganz vergessen, daß in diesem Jahre der Wert ker deutschen Marl, ron Anfang bis Schluß be rechnet, auf ten vierzigsten Teil gefallen ist? Hast du vergessen, daß in diesem Jahre di: Be völkerung entsetzlich unter Teuerung, Nat und Mangel gelitten hat? Daß die Entente neue Pressionen gegen uns ausgeübt hat? Daß reak tionäre Mörderorganijationen «ine Tätigkeit wie nie zuvor entfalteten? Und doch . . . Vielleicht wird d.r Geschicht schreiber von 1950, unter allgemeiner Billigung, de» Satz niederichreiben: Damals, im Jahre 1922, begann, dank der konsequenten und entschiedenen ErsüllungSpolitik, das Schicksal Deutschlands seine erst: Wendung zum Befielen zu nehmen. Wir erlebten bereits Symptome. Sie sind so stark, daß eigentlich niemand in Deutschland — trotz der agitatorischen Phrasen der Radikale» rechts und links — eine Abkehr von dieser Po litik wünscht. Als daS Kabinett Wirth 1921 die Erfüllungspolitik inaugurierte mit der Be gründung, daß nur so die Besetzung de» Ruhrgebiets zu verhindern sei, erklärte der Ihrer der Deutschuationalen, Herr Hergt: Die Besetzung de» Ruhrgebiets kommt doch, so oder so. Sie ist bi»her nicht gekommen, und der Repräsentant der sranzösischen Annexions politik, Herr Poincarb, hat noch kurz vor Jahresschluß die Erklärung abgeben müssen, daß er diese Besetzung niemals beabsichtigt habe. Na türlich ist das nicht richtig. Herr Poincaiö spielt die Rolle de» Fuchse», dem die Trauben zu sauer sind. Wären wir aber den deuischnatio- nale» Rezepten gefolgt, so hätte sich gegenüber drn sranzösischen Besetzungsplänen auch nicht eine Stimme in der Welt für Deutschland erhoben. So hat dal Veto Engla id» nnd Amerika» den sranzösischen Säbel in di« Scheide gebannt. Deswegen hängt uns«: Zukunft»himm«l nicht voller Geigen. Ter Erfüllungtweg ist rauh und hart, und er wird e» aus absehbare Zeit bleiben. Aber e» ist doch ein großer Erfolg, daß heute die vor Jahresfrist heiß umstritieu« Fordern»- «mes Moratorium« nnd einer Anleihe sür Deutsch-