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21. Jahrgang Donnerstag, äen 29. Juli 192ö Nr. 174 Mer Tageblatt Anzeiger stir sas Erzgebirge WZM «egramme, Lagebla« n«—ss»»«»s». EtUhaUras sie amtUch« Serannlnrachoagea be» Rat— s«t Stasi aas se« Rmtrgrricht» Aar. psflfcheck-»e»t» N«1 Eetpztg Nr. VeMii-s AOMe in -en Merbun- und die WOnngsstage. Debatte im Oberhaus. — Deutschland erfüllt Vertrüge ehrlich. London, 27. Juli. In Erwiderung auf eine Anfrage Lord Parmours über die Äußerung Ehamberlains in der Frage des Beitrittes Deutschland zum Völkerbund sagte namens der Negierung Lord Tecil, wenn er recht verstehe, sei Parmour besorgt, ob irgendeine derartig mangelhafte Erfüllung der Entwaffnungsverpflichtungen durch Deutschland bestehe, daß die Vermutung möglich wäre, daß es die Vor bedingung für seinen Eintritt in den Völkerbund nicht völlig erfüllt habe. Für Deutschland komme dies nicht in Betracht, da seine Verpflichtungen betreffend Rüstungen von dem Ver sailler Vertrage abhängig seien. Die einzige Frage, die zu untersuchen sei, sei die, ob die aufrichtige Absicht besiehe, internationale Verpflichtungen zn beobachten. Zur Prüfung dieser Frage sei ein kleiner Unterausschuß gebildet worden, in welchen Sir Austen Chamberlain den Vmsttz führte, und der einen Bericht der Botschafterkonferenz vor sich gehabt habe, worin erklärt würde, sie sehe keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß Deutschland ehrlich beabsichtige, seine interna tionalen Verpflichtungen zu beobachten. Die Entscheidung des Unterausschusses, wonach Deutschland alle für die Mit gliedsschaft zum Völkerbund notwendigen Bedingungen erfüllt habe, sei weiterhin gültig und sei in keiner Weise zweifelhaft oder abgeändert worden. Was Chamberlains Erklärungen im Unterhaus angehe, so habe er Locker Lampsons abgegebenen Erklärungen nichis hinzuzufüqen, nämlich daß es zwar richtig sei, daß noch immer Fragen unerledigt seien, und daß die Regieiung das bedauere, daß diese Fragen aber nicht derartig seien, daß sie der Negierung irgendwelche Besorgnis im Hinblick auf die Erfüllung der Verpflichtungen Deutschlands einfiössen. Poincare verliest die Regierungserklärung. Ungeheurer Lärm der Kommunisten. Die Vertrauensfrage mit 3S8 gegen 1VL Stimmen angenommen. Paris, 27 Juli. Kammerpräsident Raoul P 6 ret leitet die heutige Sitzung der Kammer mit einer kurzen Ansprache ein, in der er für das Vertrauen dankt, das ihm durch seine Wahl zum Präsidenten der Kammer erwiesen worden sei und in der er die Abgeordneten auffordert, jetzt all« Gedanken der Zwietracht fallen zu lassen und sich mit ganzer Kraft für das Sanicrungsmerk einzu-' setzen. Frankreich werde neue Lebenskraft aus der Ver einigung der Männer schöpfen, die bereit sind, sich mit ihrem Willen und mit ihrem Herzen für das Land einzusetzen. Die Hilfsquellen Frankreichs seien unbegrenzt. Wirklich Dauerhaftes könne jedoch nur durch eine gemeinschaftliche Anstrengung erzielt werden. Die Eröffnungsrede des Kammerpräsidenten wurde wiederholt von den Kommunisten unterbrochen. Jedoch wurde die Lage noch dramatischer, als Minister präsident Poincarä die Rednertribüne bestieg, um die Regierungserklärung zu verlesen. Gleich zu Beginn der Ver lesung erhob sich der Kommunist Lächln, um Poincars zu unterbrechen. Er rief: „Sie sieht man nur in Zeiten de» Unglücks". Die Rechte protestiert, worauf die Kommunisten sich erheben und die Internationale anstimmten. Die Mitglieder der Rechten und der Mitte erhoben sich gleichfalls und suchten durch Händeklatschen den Gesang zu übertönen. Der Kammer präsident unterstützt sie dadurch, daß er fortgesetzt mit der Glocke läutete. Die Kommunisten aber lärmten weiter. Soweit auf der Journalistentribüne Worte zu verstehen waren, hörte man die Rufe: Eonspuez, Poinears Poinears, la Ruhr. Kreidebleich stand Poincarö auf der Rednertribüne und erklärte schließlich, als der Lärm etwas nachgelassen hatte: Ich habe nicht das Recht, die Regierungserklärung abzubrechen. Ich werde sie nicht abdrechen! Poincars kann einige Sähe in Ruhe verlesen, er wird dann aber fortgesetzt von Cachin und seinen Anhängern unterbrochen. Der Kommunist Renauld Jean ruft wieder- holt: Und die Politik vom 11. Mai? — Wo ist das Kartell der Linken? Er wird nochmals zur Ordnung gerufen. Poincar 6 kann die Verlesung der Regierungserklärung, die nun an einzelnen Stellen den Beifall der Rechten, der Mittelparteien sowie einiger Radikaler findet, zu Ende führen- Als Poincarä di« Rednertribüne verläßt, veranstalten die Kommunisten wiederum eine lärmende Kundgebung, die ihr Ende findet, als der Kammerpräsident die ringe- gangenen Interpellationen — es sind deren elf — zur Ver lesung bringt. Poincarä erhebt sich und erklärt, die Regierung fordere di« Zurückstellung der Besprechung der Interpellation bi» nach der Durchberatung der Finanzgesetze, die er der Kammer unterbreitet habe, und für di« er das Verfahren außerordentlicher Dringlichkeit, da» die umgeschaltete Geschäfts ordnung vorsieht, fordern werde. Die Lage sei äußerst ernst. Jede Stunde der Verzögerung könne sie verschärfen. Jetzt handele es sich nicht mehr um Reden, sondern um Taten- In der Abstimmung wurde der Antrag der Regierung, die Interpellationsdebattr zu vertagen, worüber die Regierung die Vertrauensfrage stellt, mit SS8 gegen 101 Stimmen angenommen. Ferner wurde der Antrag der Regierung, die Erklärung der außerordentlichen Dringlichkeit für di« Finanzgrsetze zu be willigen, mit 418 gegen 81 Stimmen angenommen- Darauf vertagte sich die Kammer auf Freitag nachmittag. Paris, 27-Juli. Die Regierungserklärung, die Minister präsident Poincarä heute nachmittag in der Kammer und Justizminister Barthou im Senat verlesen haben, lautet wie folgt: Da« Kabinett ist im Geiste nationaler Versöhnung gebildet worden, um der Gefahr, die gleichzeitig unsere Währung, die Freiheit unseres Schatzamtes und das Gleichgewicht unserer Finanzen bedroht, begegnen zu können. Jeder der Männer, die sich einmütig zusammengetan haben, um an diesem Werke des öffentlichen Wohls zu arbeiten, ist der Ansicht gewesen, daß er die Pflicht hat, in diesem Augenblick diesem Werke all seine Gedanken und seine Kräfte zu widmen. Später werden andere Fragen auftreten, über die diese Männer verschiedener Ansicht sein werden. Heute jedoch sind sie vollkommen einer Meinung über die dringliche Notwendig keit der Finanzsanierung und über die dabei anzuwendenden Mittel. Nach aufmerksamer und gewissenhafter Prüfung der Lage haben wir die feste Uebcrzeugung gewonnen, daß es möglich ist, schnell den Stand der französischen Finanzen zu bessern und den Kurs des Franken zu heben. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine sofortige und entschlossene Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament unbedingt notwendig. Deshalb bringt die Regierung einen Gesetzentwurf zur Erschließung von den Ausgaben entsprechen den Einnahmequellen ein. Um jede neue Jnflationsgefahr zu vermeiden, wird die Regierung die Billigung dieser unerläßlichen Zusatzeinnahmen beantragen unter Beobachtung des Sparsamkeitsgrundsatzes. Wenn auch entsprechend den Anregungen der Sachver ständigen die Regierung gezwungen ist, unverzüglich zu diesem Zwecke gewisse indirekt« Steuern zu erhöhen, so wird sie doch gleichzeitig durch direkte Besteuerung des er worbenen Vermögens für die gerechte Verteilung der Lasten sorgen. Ein Teil des Ertrages wird jährlich zur Speisung einer Amortisierungskasse für die Bons der nationalen Verteidigung dienen. Außerdem müssen Maßnahmen getroffen werden, um das Vertrauen aufrechtzuerhalten und es der Regierung zu ermöglichen, künftig alle Verpflichtungen des Staates einzuhalten, die Produktion im Mutterlande und in den Kolonien zu fördern und die Lebenskraft des Landes zu steigern. Wir behaupten nicht, in einigen Wochen oder auch nur in einigen Monaten die gesamte Wirtschafts- und Finanz problem« lösen zu können, die der beinahe überall in der Welt herrschend« Notstand vor uns hat erstehen lassen. Die Hauptsache ist aber ohne Zweifel, daß Dringlichste ohne Umschweife und ohne Winkelzüge in Angriff zu nehmen. Ebenso wie wir selbst haben die Gläubigernationen Frank reichs, die Frankreich fest entschlossen ist, im Rahmen seiner Möglichkeit zu bezahlen, ein Interesse daran, daß wir vor allem die Währungskrise beheben, die auf vielfache Ursachen zurückzuführen ist, die jedoch sehr wohl beschwichtigt und deren gefährliche Auswirkungen vermieden werden können. Frankreich hat ernstere und schmerzlichere Stunden als diese erlebt. Es hat sich seiner Zett durch Einigkeit und Energie gerettet. Auch heute sind diese di« Bedingungen des Sieges. Die Regierungserklärung schließt mit den Worten: Mein« Herren l Gehen wir sofort an unser« schwere Aufgabe für di« Republik und da» Vaterland. Vas Arbeitsbeschaffungs programm cier Regierung. Zürforge für sie ausgesteuerten Erwerbslosen. BerlIn, 27. Juli. Die Verhandlungen über die Durch führung des Arbeiisbeschasfungsprogramms der Negierung sind jetzt in mehreren wesentlichen Punkten "zu einem Ab- schluß gelangt. Die Wasserstraßenabteilung des Neichsver- kehrsministeriums hat die Anweisungen zur versiärkten Durch, führung der bereits begonnenen Kanalbauteu herausgegeben. Für dies« Zwecke sollen insgesamt 18'/» Millionen RM mehr zur Verfügung gestellt werden als im Haushalt vorgesehen war. Verwandt werden diese Mittel in der Hauptsache für Arbeiten am Kanal Hamm-Lippstadt, am Hohenzollcrnkanal, am Oder-Spree-Kanal und an der unteren Oder sowie für gewisse Arbeiten am Mittellandkanal; 1,2 Millionen RM sind für die Fertigstellung der Schleuse bei Anderten am Mittellandkanal bestimmt. Ferner haben sich Reich und Länder über die Ausführung der Reststrecke des Mittellandkanals von Peine bis Burg geeinigt. Gleichzeitig mtt dem Haupikanal soll auch der Südflügel in Angriff genommen werden, und zwar zunächst der Kanal von Leipzig bis Kreypau, die Kanaltesierung der Saale von Kreypau bis Halle und der Zweigkanal Bernburg-Leopoldshall-Staßfurt. Diese Arbeiten können begonnen werden, sobald die Länder die ihnen zugr- gangenen Verträge mit dem Reich vollzogen haben. Ebenso sind die Verhandlungen über die Reichsbahn aufträge zum Abschluß gekommen Es werden Aufträge über msgesamt 120 Millionen RM vergeben, nachdem die Reichs- bahnverwaltung zu dem vom Reiche zur Verfügung gestellten Betrag von 100 Millionen RM noch 20 Millionen RM au» eigenen Mitteln zur Elektrifizierung der Berliner Stadt- und Ringbahn aufwenden will. Von den 100 Millionen RM, die vom Reiche zur Verfügung gestellt worden sind, ^sind 20 Millionen RM ebenfalls für di« Elektrifizierung der Berliner Stadt- und Ringbahn, 80 Millionen RM zur Er- Weiterung des beabsichtigten Gleisumbauprogramms, 16 Millionen RM zur Fortführung und Erweiterung des ge planten Programms der großen Bauten (Brückenumbauten, Erweiterung von Bahnhöfen, neue Werkstätten, Elektrisierung, Wohnbauten) und 35 Millionen RM zur Beschaffung von Werkstoffen und Ersatzstücken aller Art zur Verbesserung des Fahrzeugparks bestimmt. Die Aufträge sollen möglichst nach den Bezirken gelegt werden, die unter der Arbeitslosigkeit be sonders zu leiden haben. Auch die Arbeiten an den früher begonnenen Bahnbauten, für deren Fertigstellung in diesem Haushaltjahre 10 Millionen RM bereitgestellt worden sind, werden in allernächster Zeit beginnen. Endlich haben sich die zuständigen Ministerien des Reichs und Preußens inzwischen auch über die Art geeinigt, wie der verstärkte Bau von Landarbeitermohnuugen, der be kanntlich auch einen Teil des Projektes für die Arbeitsbe schaffung bildet, ausgeführt werden soll. Das Reich stellt für diesen Zweck im laufenden Rechnungsjahr einen Betrag von 30 Millionen RM zur Verfügung; auch die Aufbringung des Landesanteils ist als gesichert anzusehen. Beabsichtigt ist der Bau von 25000 Landarbeiterwohnungen, von denen nach Möglichkeit 10 000 noch in diesem Haushaltsjahre erstellt werden sollen. Durch diese Beschaffung von Wohnungen, die für deutsche Landarbeiter geeignet sind, sollen zunächst vor allem die ausländischen Arbeiter entbehrlich gemacht werden, die auch im Winter in den deutschen landwirtschaft lichen Betrieben verbleiben. O Bei den Besprechungen, die am 23. und 24 Juli im Reichsarbeitsministerium mit den Vertretern der Landesregie rungen stattgefunden haben, wurde auch die Frage der besonderen Fürsorge für die Erwerbslosen erörtert, die die Höchstdauer in der Erwerbslosenfürsorge überschritten und deshalb keinen Anspruch mehr auf Erwerbs losenunterstützung haben- An den vorhergehenden Tagen war die gleiche Frage im Verwaltungsrat der Neichsarveits- verwaltung und mit den kommunalen Spihenverbänden be sprochen worden. Eine Verlängerung der Höchstdauer in der Erwerbslosenfürsorge über 52 Wochen hinaus kann nach Ansicht der Reichsregierung nur mit Zustimmung des Reichs- tags und nur in Form eines Gesetzes erfolgen. Der Reichs tag hat vor seinem Auseinandergehen den Standpunkt der Reichsregierung akzeptiert; nach der Haltung, di« er bet den Erörterungen über die Ausgesteuerienfrage eingenommen hat, legt er Wert darauf, bei einer endgültigen Regelung beteiligt zu werden. Die Länder teilten in ihrer großen Mehrheit den Standpunkt der Reichsregierung, daß bis zu dieser endgültigen Regelung die Fürsorge für die Ausgesteuerten auch weiterhin Sache der allgemeinen Wohlfahrtspflege ist, der sie nach dem jetzigen Rechtszustand obliegt, daß aber den Bezirksfürsorge- verbänden unter bestimmten Voraussetzungen finanziell Bei hilfen gewährt werden müssen. Im einzelnen haben die Länder und die anderen beteiligten Stellen für die vorläufige Regelung, um die es sich jetzt handelt, eine Reihe von Wünschen vorgetragen, zu denen die Reichsregierung noch endgültig Stellung nehmen muß.