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7, Sonnabend, de« 1«. Februar. 188S. Aeuetrißische Aeuage zum sächsischen Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. (Wird jeder Sonnabends-Nummer ohne Preiserhöhung des Hauptblattes beigegeben.) Mr Mögrl Glitte. Kahl starrt der Ast, die Flocken stieben — Der Winter kam gleich als ein Dieb. Ach, warum sind wir dageblieben? Die Heimath hatten wir so lieb! Was hilft uns unser zwitschernd Flehen? Solch' Winter ist ein harter Mann, Und manches wird von uns vergehen, Bevor es Obdach finden kann ! Dort hat sich eins im Schnee.verkrochen, — Denn manch' ein Körnlein deckt der Schnee! Dort sitzt's, — das Aeuglein halb gebrochen Vor Hunger, — ach der rhut so weh! Ihr wollt mit dem Gebot uns schützen Vor frevelnder Verfolgung Noth? Habt Dank! Allein was kann's uns nützen, Ereilt uns nun der Hungertod? Wer mag wohl hungernd fröhlich singen? Ach, habt Erbarmen! denkt daran: „Was ihr gethan an den Geringen," Spricht Er, „das habt ihr mir gethan!" Das ist sein Auftrag. Wir gebrauchen Zu Leben, ach, soMenig nur, — Doch wenig auch, um auszuhauchen Das kleine Seelchen auf der Flur! Ihr sagt ja: Geben ist so selig! So sprecht nun nicht um eitlen Schein! Und kommt der Lenz, dann soll euch fröhlich Zum Dank von uns gesungen sein! Das Körnlein aber, das ihr streuet, Wird euch im Herbst, wann's ernten! heißt, Vergeltend tausendfach erneuet. Weil ihr die Hungrigen gespeist! Uns lockte nicht der reiche Süden, Wir blieben gern beim AbschiedWer. Wir wollen uns're Flur behüten, — Und sterben wir gleich auch auf ihr! Nun kommt, ihr guten Menschen, spendet! Ein Bröcklein nur! Wir warten schon! Wann sich der Winter von hier wendet, Dann singen wir! Ist das kein Lohn? Die Verwaiste. Roman in zwei Bünden von Karl Hellmer. (Fortsetzung.) ! Gräfin Elise legte ihre Hand in diejenige ihres i Bruders: „Und fürchtest Du Dich nicht vor solcher i Aussicht? Fürchtest Du Dich nicht vor der Rückkehr in das alte Heim, welches so reich an schmerzlicher Erinnerung für Dich ist?" „Alle Befürchtungen sind dahin, 'sind in der Ver gangenheit begraben," sprach er, indem er sie unver wandt anblickte. Elise seufzte. Als Marie Gotthilf in das Zimmer trat, dankte ihr der Graf mit herzlichen Worten, daß sie sich die Mühe genommen hatte, Blumen in sAn Zimmer hinüber zu tragen. „Ich wußte nicht, daß Sie Blumen gern haben, werde es mir aber für die Zukunft merken," entgegnete sie mit jenem ernsten Lächeln, welches ihrem Antlitz einen so wunderbaren Zauber verlieh. „Ich liebe Alles, was schön ist," erwiderte er, in dem er ihr unwillkürlich einen vielsagenden Blick zu ¬ wandte; dann bat er seine Schwester, seine Heimkehr doch durch eine Spazierfahrt feiern zu wollen. „Du bist, wie ich höre, Tage lang nicht in der Luft gewesen," sprach er in überredendem Tone, „und ich bin über zeugt, es kann Dir nur gut thun, wenn Du wieder einmal ausfährst." Gräfin Elise stimmte freudig bei und brachte damit Mariens leise Bedenken zum Schweigen. Man rüstete sich also zur Ausfahrt und Marie nahm bald ihren Platz)neben Gräfin Elise im,Wagen ein. Noch war die Stadt sehr bevölkert, der Adel hatte sich noch nicht auf seine Schlösser zurückgezogen und der Fremdenzuspruch war groß. Man fuhr hinaus in den Prater, wo der Wagen eine Weile stehen blieb, und wenn Freunde hinzutraten, um die junge Gräfin zu begrüßen, so stellte sie Marie als ihre liebe Haus genossin und Freundin vor; das Herz des einsamen Mädchens war von Dankbarkeit erfüllt gegen das edle Wesen, welches ihr den dornenvollen Pfad der Dienst barkeit so leicht machte. Dem Grafen von Waldenberg war es nach und nach sehr angenehm geworden, mit dem Mädchen zu verkehren, das seine Schwester so