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14. Sonnabend, den S April. 1887. Aetletrißische Aeitage zum sächsischen Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. „Dir Besteigung »es Ortler" Lurch Hermann Reinstein, Oberlehrer in Plauen i./B.*) Da, wo Oesterreich und zwar Tirol und die Schweiz, sowie Italien an einander grenzen, steht ein mächtiger von der Natur gestellter Grenzstein, den wir den „Ortler" nennen, .der aber eigentlich ein ganzes Gebirge, eine Alpengruppe darstellt. Die Ortleralpen sind das höchste Gebirge Oesterreichs. Gewaltige Felsmassen mit scharf ausgezackten Kronen, steil abstürzende Eiskämmc, wilde Spitzen mit außerordentlicher relativer Höhe umspannen die weiten Gletscher und Schneefelder, welche als wunderbar und wundervolle Gewandung die obersten Stufen dieser Gebirge bekleiden. Sie bilden eine Welt für sich voll eisigen Ernstes ohne Laut, als den der abbrechenden Firnlasten und stürzenden Lawinen, — eine schauervoll großartige Wildniß, voll Wechsel in den Gestalten neben der Monotonie der Farben. Wohl 60 Gletscher, riesigen Eisströmen gleich, ziehen sich von den Firnmeeren zu Thal. Die das Suldenthal nördlich und südlich um stellenden Gipfel bauen sich aus Schiefer auf, während jener riesige Wall, der das Suldenthal vom Trafoi- Ihale scheidet, die klippigen Grate und kahlen zerrissenen Ä^ände des Dolomits zeigt. Ernst und großartig ist der Hintergrund des Suldxnthales, düster im Gegensatz zu dem mehr freundlichen Trafoierthale. Beide Thäler, jedes mit seinem brausenden Gletscherbache, münden bei Gomagoi an der berühmten Stilfser-Joch-Straße. Gomagoi heißt deutsch „Beidwasser". In dem Winkel zwischen beiden Thalrichtungen liegt oder vielmehr erhebt sich die höchste Spitze der Ortleralpen, der majestätische Ortler selbst, zu einer Höhe von 3907 Meter oder 12,500 preuß. Fuß. Die meisten Karten aiennen ihn „Ortelsspitze", auch kommen die Namen „Orteler" und „Orteles" vor. Das Volk sagt „Ortler". Es war im Jahre 1804, als ein Passeirer Gems jäger, „Joseph Pichler", gewöhnlich „Josele" genannt, auf der Jagd im Hochgebirge den Entschluß faßte, den bisher noch nie erstiegenen, ja von manchen Seiten her als unersteiglich erscheinenden Bergriesen zu be zwingen. Es gelang ihm, aber die Schilderung der Gefahren erweckte die Nachahmung nicht sonderlich und die böse Welt glaubte sogar nicht daran, so daß er den. Aufstieg im kommenden Jahre in Begleitung eines Or. Gebhard nochmals wagte. Die nächsten Besteigungen *) Die hier abgedruckte Schilderung ist eine der besten und anziehendsten, welche aus diesem Gebiete erschienen sind. Die selbstlose Bescheidenheit, die natürliche Einfachheit, mit welcher Herr Reinstem seine Thaten und Erlebnisse schildert, verdienen die vielseitige Anerkennung, welche derselbe in seiner engeren Heimath sür seine treffliche Arbeit bereits in reichem Maße gefunden hat. Red. d. „siichs. Erzählers". wurden 1824 und 1834 unternommen. Bei der letzteren Besteigung begleitete der greise Josele die Expedition, die von „Thurwieser" (nach welchem die Thurwieserspitze benannt ist) geleitet wurde, so weit er konnte, aber er mußte bald zurückbleiben und erwartete an einem niedriger gelegenen Punkte die Rückkehrenden. Von 1834 bis 1864, also volle 30 Jahre, gelang es nicht, die Spitze zu gewinnen. Bei vielen Versuchen wurde nur der Anfang des Grates erreicht. Derjenige, dem bas Hauptverdienst gebührt, die Ortleralpen (sowie auch die südlicher gelegenen Gruppen) und den Ortler selbst untersucht zu haben, ist der österreichische Premier lieutenant Payer, der später sich auch durch die Theilnahme an der österreichischen Nordpol-Expedition einen Namen gemacht hat. Von ihm ist auch die erste Anregung zur Ausbildung von guten Führern ausgegangen, an welchen Tirol und besonders die Ortleralpen gänzlich Mangel litten. Payer bestieg nicht nur alle zur Ver messung nöthigen Signalgipfel, sondern es ist wohl keine namhafte Erhebung der ganzen Gruppe von ihm unbeachtet gelassen worden. Auch der Monte Cevedale, die Königsspitze und die bedeutendste unter allen den 30 bis 40 Spitzen, der Ortler (dieser letztere am 4. Septbr. 1865), wurden einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung unterworfen. Ein Hauptresultat dieser kühnen Unternehmungen sind ganz vorzügliche Karten und Zeichnungen. In seinen Berichten erwähnt Payer mit großer Liebe und Achtung seinen Führer Johannes Pinggera, der in allen Lagen Geistesgegenwart und kaltes Blut, sowie die größte Aufopferung, selbst m Todesgefahr bethätigte. Nach diesem haben sich die Ortlerführer, deren es etwa 9—10 giebt, hauptsächlich ge bildet und es ist eine Freude, von diesen Leuten erzählen zu können, wie sie in ihrer natürlichen Einfachheit so Großes zu leisten vermögen nach Körper wie Geist, der zwar nicht hohe Wissenschaftlichkeit, aber, was viel höher zu schätzen ist, eine außerordentliche Beobachtungsgabe, ein vorzügliches Verständniß für die Hochalpenwelt und ihre Eis- und Schneeverhältnisse, und einen wirklichen Jnstinct für die Wahl der Mittel in jeder neuen Lage zeigt. Die Namen dieser Führer, z. B. des Joh. Ping« gerra, Joseph Pinggera, Peter Dangl, der Gebrüder Pichler, Enkel des alten Josele, auch Veit Rainstadlers und wie sie alle heißen, haben weithin bis Norddeutsch land und England, Wien und Italien, ja nach Amerika hinüber einen guten Klang bei allen Alpenvereinen und Hochalpentouristen. Von den Payer'schen Berichten über seine Ortlerbesteigung sind verschiedene Stellen bcmerkens- werth, auf welche ich später zurückkomme. Seit 1875 sind die Besteigungen des Ortler insofern etwas erleichtert, als ungefähr 3 Stunden vom Sulden- thale aufwärts, hoch auf dem Tabarcttagrate, den