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Aeltetrißische Aeilage zum sächsische» Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. Falsche Elternliebe. Das Dichterwort: „Warum willst Du weiter -schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!" kann unserm Geschlechte nicht oft genug vorgehalten werden. L)b es freilich, und wenn es noch so oft wiederholt würde, auch beherzigt würde, ist eine andere Frage; denn das Uebersehen des Nächstliegenden Lber dem Streben in'S Weite und Große gehört zu den characreristischen Zügen der jetzigen Tage. Es ist eine leicht erklärliche Erscheinung, daß unsere Zeit, welche Großes vollbracht, den Gesichts. Treis erweitert, alle Entfernungen auf ein Minimum 7«ducirt hat, lieber den Blick ins Ungemefsene schweifen, als ihn am Nächstliegenden und Einfachen Haften läßt; aber andererseits sollten doch gerade die vielen ungelösten Probleme und die mannichfachen -großen Aufgaben in des Menschen nächster Umgebung, ^welche uns über all den großen Fortschritten, Er findungen und Entdeckungen noch geblieben sind, uns anregen, immer wieder auf das Naheliegende zurück- zukommen und den Geist nicht allzu weit umher schweifen zu lassen. Wer allzu viel nach den Sternen -sieht, stolpert gar leicht über den ersten besten, im Wege liegenden Stein. Gewiß verdanken wir dem freien Hinausstreben in» Große, der Entfesselung Ger Kräfte und den hochgesteckten Zielen, welche die Signatur unser« Zeitalters bilden, manches -Gute, und Keiner wird zurückkehren wollen zu einer Leit, in welcher Kraft und Blick des Menschen jämmerlich eingeengt war nach allen Seiten hin. Mer in diesen hochfliegenden Gedanken liegt auch -eine Gefahr, welche nicht zu unterschätzen ist. Das Genie mag getrost zur. Sonne emporfliegen, wir Dlicken ihm bewundernd nach ; aber die Mehrzahl Her Menschen sind eben keine Genies, und wenn sie einen solchen Flug wagen, stürzen sie elendiglich Herab und zerschellen, Auf allen Gebieten kann man das Streben gewahren, Alles im „großen Styl' zu betreiben und über dem Entfernten das Nächstliegende Hu vernachlässigen. Wie sich dieses Streben auf dem Gebiete des Wissens bethätigt, brauchen wir kaum -auseinanderzusetzen, weil hier die Schäden gar zu offenkundig liegen. Den Leuten, welche, wie Gustav Freytag einmal sagt, alle Nebenflüsse des Amazonen- stromes kennen, aber keine Kiefer vom Eichbaum zu unterscheiden wissen; den Leuten, welche in der chinesischen Geschichte ganz vortrefflich zu Hause sind, ^rlle ägyptischen Könige an den Fingern herzählen können und jede Spitze des Himalayagebirges bis »auf einen Meter Höhe zu bestimmen wissen, die aber in ihrer nächsten Umgebung nicht zu Hause sind und nicht« in Acht und Augenmerk haben, weil das ja eben zu gewöhnlich und alltäglich ist — solchen Leuten kann man ja oft genug im Leben begegnen. Aber ganz dasselbe Schweifen in die Ferne gewahren wir im alltäglichen Leben überall, auf allen Gebieten und zu jeder Stunde, wenn auch vielleicht minder auffällig. Darauf aufmerksam zu machen, ist das verdienstliche Bestreben eines Artikels der „Rheinisch. Westfälischen Post", in welchem eS heißt: „Der Mann, welcher mit glühendem Eifer nach großem Besitztum trachtet und dabei etwa seine Hoffnungen auf die Lotterie oder in gewagte Speculationen setzt, um vorwärts zu kommen, und dem die Lehre von Fleiß und Sparsamkeit als dem sichersten Wege zu bescheidenem Wohlstände viel zu trivial klingt; die Frau, welche bei allen Wohlthätigkcitsanstalten mit an der Spitze steht, zu Hause aber nicht nur ihr Dienstpersonal lieblos behandelt, sondern überhaupt gegen die Ihrigen verdrießlich und bei jeder geringsten Veranlassung verstimmt ist und die Gemächlichkeit des Zusammenseins und der Familie trübt; der Politiker, welcher auf allen Bierbänken und in allen Volksversammlungen am kräftigsten das Wort führt und ganz genau weiß, wie es der Minister machen müßte, der aber sein eigenes Hauswesen nicht im Stand hallen kann und noch nie gezeigt hat, daß er sein eigenes Geschäft zu leiten versteht; der Blau strumpf, welcher Bücher über die „Frauenfrage" schreibt, aber die Kinder in Unordnung und Un sauberkeit verkommen läßt; der ehrgeizige Streber, welcher nach Orden und Titeln auslugt, aber sich noch nie darum gekümmert hat, ob ihm seine Unter gebenen und Amlsgenossen das Zeugniß treuer Pflichterfüllung, das schönste und vollwichtigste, je ertheilen werden; die Modedame, welche auf der Promenade, im Ballsaal, im Theater durch ihre prächtige Toilette glänzt, bei der aber um Himmels Willen Niemand zu Hause in die Winkel sehen oder von den ernsten Pflichten der Kindererziehung, von der wichtigen, heiligen Aufgabe und Pflicht der Mutter in der Kinderstube reden darf; der Familien vater, welcher in der fortwäh . enden Jagd nach Zer streuungen aller Art oder in allen möglichen Vereinen draußen Befriedigung sucht, aber das Glück ver schmäht, welches ihm am heimischen Herde blüht; die Frau, welche sich darüber beklagt, daß sie ihren Mann nicht durch ihr geistreiches Geplauder und ihr schönes Clavierspiel zu „fesseln" vermag, die aber kaum im Stande ist, ein einzige« Gericht ordentlich zu bereiten — alle diese und noch manche andere.