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^2° ZO. Sonnabend, den 22. Juli. 876 Aelletrißische Aeitage zum sächsischen ErzäUer. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. Nummer hnn-ertsiebenun-dreißig. Erzählung von Levin Schöck ing. I. Es war in Homburg, schon gegen das Ende der Saison; obwohl eine Menge der Badegäste bereits heimwärts oder weiter nach dem Süden zu Touren in die Schweiz, zum Winteraufenthalt in Italien aufgcbrochen war, zeigte sich die Gesellschaft jedoch noch zahlreich, buntbewegt und glänzend genug; ein Bad zweiten Ranges würde mit diesem Fremden schwarm, den die wundervollen Herbsttage Heuer noch in Homburg zusammengehalten, immer noch überfüllt erschienen sein. Zu diesen Zurückgehalteneu gehörte ein langer blonder Jüngling, von seiner Erscheinung nach etwa dreißig, und seinem Wesen nach etwa zwanzig Jah ren, der den Typus des Engländers hatte, obwohl er — nur mit ein wenig englischem Accent — flie ßend Deutsch sprach. Und auch das war nicht just englisch an ihm, daß er ziemlich viel sprach unv bald hier, bald da kurze flüchtige Bekanntschaften anknüpfte, ohne viel darnach zu fragen, ob der Mann, mit dem er eine Partie Billard spielte oder bei Tische zum Dessert eine Flasche Champagner trank, ihm auch richtig vor gestellt sei und ihm zuverlässige röldrsnosZ von Seiten irgend eines riZlrt llonourable vorgewiescn habe; oder ob die junge Dame, mit der er auf den Bällen im ConversationShause tanzte, zur Nobility, zur Gentry gehöre oder zur — Dcmi-Monde. Vorstellungen, welche er, La er ohne nähere Be kannte war, gewöhnlich selbst vornehmen mußte, machte er meist kurz ab, indem er, flüchtig den Rand seines Hutes berührend, sagte: Stockfleth, Augustus, Kaufmann aus Calcutta. Die wörtliche Wiederholung dessen, waö in der Fremdenliste über ihn zu leien stand. Und das halte denn ja auch wohl seine Richtig keit; ein wenig indisch, sonnenverbrannt sah er schon aus, und übrigens, wenn es nicht seine Richtigkeit gehabt, so würde sich wohl Niemand die Mühe gegeben haben, dies zu untersuchen; es war durchaus kein Grund da, den Mann nicht für das zu neh men, für was er sich gab, und sich zu irgend einer gründlicheren Erörterung dessen, was Mister Augustus Stockfleth betraf, veranlaßt zu sehen; denn Mister Augustas Stockfleth war nach der Meinung derer, die in flüchtige Berührung mit ihm gekommen, ein harmloser, gutmüthiger Mensch und im Ganzen das, was der amtirende Jurist einen „unerheblichen Com- parenten" nennt. Er war, wie gesagt, groß, hatte ein etwas zu längliches Gesicht, einen röthlich schillernden Backen bart — sn Cotelctte, natürlich — und große blaue Augen, die, wenn sie nicht eine entfernte Aehnlichkeit mit blauen GlaSknöpfen gehabt hätten, recht hübsch gewesen wären. Mister Augustus Stockfleth saß eines schönen Nachmittags hinter dem ConversationShause in den Anlagen, wo die Gesellschaft ihren Kaffee nahm und dem Spiel der Musikcapelle zuhörte, oder plauderte, musterte, krilisirtc und sich mustern und kritisiren ließ. An dem runden Tische, an dem er allein saß, ließen sich nach einer Weile zwei Personen, welche in der Nähe keinen andern Platz gefunden, nieder, ein Herr und eine Dame. Der Herr war eine im Ganzen annehmende Erscheinung, ein Mann fast schon in mittleren Jahren, von stark aufrecht getra gener Gestalt, schwarzem kurzgeschniltencn Haar und starkem Schnurrbart — das ganze Wesen verricth den Militär in Civil — oder außer Dienst. Die Dame mochte fünfundzwanzig Jahre zählen; sie war von der Natur mit einer hübschen Gestalt und einem sehr hübschen Gesichte und offenbar auch vom Glücke sehr gütig auszestattet, wenigstens hinreichend, um jene Vortheile durch eine reiche Toilette in's rechte Licht setzen zu können — ihr rauschendes Seidenkleid von hellgrauer Farbe, das cokctt auf ihrem großen blonden Chignon thronende Hütchen, der weiße mit goldncr Stickerei bedeckte Ueberwurf, alles das, bis auf die grauen Handschuhe und die grauen feinen Stiefelchen und den mit demselben Stoffe überzogenen Sonnenschirm, stellte in dieser Erscheinung den Typus der modernsten Dame der großen Welt dar, und ihre „Airs", wie man das nennt, paßten zu dem Allem vortrefflich. Sie legte ihren Sonnenschirm vor sich auf den Tisch und darauf ihr gesticktes Taschentuch vom feinsten Battist, aus dem ein starker Duft von Poudrc d'Jris bis zu Mister Augustus Stockfleths Geruchsorgan hinüberwogte; dann zog sie den Handschuh von ihrer Rechten und strich mit dieser sehr weißen, sehr feinen und wohlgepflegten Hand ihren blonden Scheitel glatt. Bei dieser Operation warf sie einen prüfenden Seitenblick auf den Jüngling aus Indien und streifte dann ihr Taschentuch auf eine Weise, daß es vom Tische zu Boden fiel. Augustus Stockfleth hatte im nächsten Augenblick mit einer durchaus nicht englischen Behendigkeit und Zuvorkommenheit das Tuch aufgehoben und der Dame überreicht. Sie dankte mit großer Leutseligkeit und eine kleine Unterhaltung folgte, die nach einigen Minuten zu