Volltext Seite (XML)
Nr. 4V Mittwoch, den S. März LSL0 Ä. Jahrgang MchslschkNolksmtung Ukscheint täglich uach«. mit ilit-xahme der Eonn- und FesUage. »n«^ab« t.i Mt! ^DteZrtt >„ Wort und Bild' dterteljLhrlich- ^^r^Lrerden ^dur^ Boten »40 ^- Jn "g-mj Mr Wahrheit, Recht und Freiheit Nnfeeate werden die «gespaltene Petttzeilc oder deren Raum mit »S ^.Reklamen mit SO « die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt, vochdruckeeet, Redaktion und OleschiiftSftellri Dbedden, iptlluitzer Strafte 4». - Fernsprecher 1»0« ... Schriftftiick» keine Verbindlich»»»« prechstunde: II —1!4 Uhr, Zylinderhut und Jakobinermütze. Dresden, den 1. März 12l0. Mehr ein harmloser Scherz schienen anfangs die Straßendemonstrationen zu sein, die von seiten der Sozial- demokraten aus Anlaß der Wahlrechtsvorlage in einzelnen Städten Preußens veranstaltet wurden. Doch bald er hielten sie ein anderes Gesicht: die Zusammenstöße zwischen Polizei und Sozialdemokraten mehrten sich und arteten in den einzelnen Orten zu förmlichen Schlachten aus, wo bei cs hüben und drüben Verwundete gab. Die sozialdeino- kratische Presse legte die Verantwortung allein der Poli zei zur Last. „Das Blut," schreibt der Vorwärts, „das in den Straßen von Frankfurt geflossen ist, kommt aufs Haupt der Polizei und ihrer Auftraggeber, kommt aufs Haupt der preußischen Junker und ihrer Negierung, die den Schrei nach dem freien Wahlrecht ersticken möchten. Das Blut, das in der Nacht zum Freitag das Pflaster färbte, brauchte nicht zu fließen, wenn die Polizei nicht statt ein. Werkzeug zur Sicherung der Sicherheit, ein Werk zeug zur Unterdrückung von Volksbewegungen sein sollte! Der friedliche Verlauf der Donnerstagsdemonstration in Halle beweist es schlagend! Daran kann all die unver schämte Stimmungsmache der Polizei, für die sich dm Mehrzahl der bürgerlichen Blätter unbesehen hergibt, nicht- andern! Und trotz allen Blutvergießens wird der Zweck der Reaktionäre, die Unterdrückung der Bewegung gegen die Wahlreformlüge, nicht erreicht werden. Der Wahl- reckstskampf geht weiter! Und gerade die tollen Polizei ausschreitungen mahnen uns, wie notwendig es ist, Preu ßen zu einem wirklichen Kulturstaat zu machen. Die Er bitterung über diese Polizeitaten wird neue Scharen von Wahkrechtskämpfern erstehen lassen!" Und diese neuen Wahlrechtskämpfer kamen und stiegen auf die Straße; nicht die Jakobinermütze zierte ihr Haupt, sondern der Zylinderhut, denn es waren die bürgerlichen Demokraten der Reichshauptstadt, die sich am Sonntag ge drängt fühlten, ein wenig Achtzehnhundertachtundvierzig zu spielen. Sie sammelten sich im Zirkus Busch. Die Freisinnigen I>. Naumann und Dr. Meiner leiteten die Versammlung, über deren Verlauf wir gestern berichteten. Die Redner peitschten die Massen, selbst ein National liberaler namens Maurer-Saarbrücken suchte die Volksseele zum Kochen zu bringen und in ihr die Sehnsucht nach den Barrikaden zu erwecken. Man hatte anfangs eine Reso lution vorgeschlagcn, in der nur von dem geheimen und direkten Wahlrecht für den preußischen Landtag die Rede war: die Gleichheit ließ man beiseite. Aber im Auditorium waren viele Sozialdemokraten. Und diese ließen sich das nicht bieten. Die Galerien lärmten, und so zogen denn die „Intellektuellen" ihre Wissenschaft zu Rate und fanden schließlich, daß zur Glückseligkeit auch die „Gleichheit" ge höre; so wurde sie noch rasch in die Resolution hinein geschoben. Die Drahtzieher wollten es nicht, aber wer sich in den Strom begibt, muß mit ihm schwimmen, und so kam es, daß die Zylinderhüte schließlich mit den Jakobinermützen zusammen vom Zirkus Busch zum Schloß und vor das Kanzlerpalais fortgerissen wurden, um dort ein Hoch auf das allgemeine Wahlrecht auszubringen. Was mag Herr v. Vethmann-Hollweg gedacht haben, wenn er sich daran erinnerte, daß in der Wahlnacht 1907 derselbe Freisinn dem Reichskanzler eine Ovation darbrachte, als die Sozialdemokraten dezimiert worden waren? Jetzt er schien er an der Seite des Singer und Zehngeboto- Hoffmanns, um etwas Nevolutionsromantik zu treiben, allerdings so ungefährlich, daß ihnen die Zylinderhüte, die der ausbrechende Regen durchweichte, die Illusion raubte und sie allmählich nach Hause trieb. Es lag über dem Ganzen der Hauch aus der Zeit der Reifröcke und Perücken, der gutmütige Glanz einer harm losen Demonstration. Es hätte nur gefehlt, daß der Reichs kanzler im Aufträge des Serenissimus auf dem Balkon er schienen wäre und gesagt hätte: „Kinder, wir werden es schon machen, geht nach Hause, ihr werdet ja ganz naß und holt euch noch den Schnupfen." Die Polizei ließ die Par tei des Stadtparlanientcs denn auch ruhig gewähren und das „Recht auf die Straße" versuchen. Ob denn den Frei sinnigen das Asphaltpflaster nicht doch etwas sehr glatt vor kam? Was hätten sie nur angefangen, wenn ihre auf rührerischen Reden im Zirkus Busch die Genossen zu Taten wie in Frankfurt verleitet hätten? Tie Schuld wäre auf sie gefallen und der Fleck auf der weißen Weste des Herrn Dr. Meiner wäre nicht sobald verschwunden. Die Liberalen haben in der letzten Zeit viel von ihrem Prestige verloren. Die nationalliberale junge Garde macht mit ihrem Radikalismus den Liberalismus noch gänzlich fertig. Im Lande erfahren sie eine Niederlage nach der anderen: der rote Bundesbruder nimmt ihnen die Mandate weg. Stolz fühlten sie sich 1907 als die Lieblinge der Götter und des Fürsten Bülow. Es sind jetzt erst drei Jahre ver flossen. Die Liberalen glaubten, daß cs im Reichstage nur eine Mehrheit geben könne, der sic selbst angehören. Ihr Erwachen aus dem Taumel war zu jäh, als Zentrum und Konservative ohne die bockbeinigen Liberalen die Reichö- finanzreform machten. Sie selbst wollten 400 Millionen indirekte Steuern bewilligen; als die andere Mehrheit nur <'>10 Millionen indirekte Steuern bewilligte, nützte ihnen ihr Bündnis mit den Sozialdemokraten und die Steuer liche nichts mehr. Ihre sozialdemokratischen Verbündeten kreideten sie wahrheitsgemäß bei den Wählcrmassen als eine Partei ohne Rückgrat und ohne politische Ehrlichkeit an. Es ist zwischen beiden ein ähnliches Verhältnis, wie zwischen Liberalen und Konservativen in Sachsen. Letztere glaubten mit Rücksicht auf die bevorstehenden Landtags wahlen bei der Abstimmung über die Erbschaftssteuer für Witwen und Waisen schlau zu sein, wenn sie mit den Libe ralen Arm in Arm gingen. Es hat ihnen nichts genützt; im Gegenteil, sie stießen durch diesen Kniff auch noch die bäuerlichen Wähler vor den Kopf. Die Liberalen aber zogen gegen diese Partei zu Felde, weil sie schließlich als konser vative doch dem Reiche geben mußten, was es brauchte; die Liberalen aber in ihrer gewissenlosen Taktik Arm tn Ätmi mit den Sozialdemokraten die bitterste Notlage des Reiches auszubeuten suchten, um eine miserable Jntercssenpolitik zu treiben. Der Lohn wird ihnen nicht ausbleiben. Auch der Hansabund wird mit seinen „braunen Lappen" ihren Besitz nicht zu erhalten vermögen. Kriselt's doch schon lm Lager der großen Industrie des Westens, die doch bisher die stärksten Stützen der Partei geliefert hat. Der Wahl kampf 1911 wird sehr heftig werden. Jener von 1907 dürfte noch übertroffen werden. Hier gingen die bürger lichen Parteien zusammen, 1911 gehen die Liberalen von Bassermann bis Bebel, Zylinder und Ballonmütze wird zur Wahlparole werden. Nur eines vergessen die Liberalen: Welcher Umstand ließ denn das falsche Wort von der Herr schaft des Zentrums vor 1907 prägen? Es war der Zu fall, daß das Zentrum in allen staatserhaltenden Fragen mit den Konservativen und bei der Abwehr reaktionärer Anschläge mit den Sozialdemokraten eine Mehrheit bildete. Sollten die Sozialdemokraten die Früchte der liberalen Hetze einheimsen und den bürgerlichen Parteien Mandate entreißen, so wäre ja der Zustand vor 1907 wieder herge stellt: die Liberalen aber könnten von den schönen Tagen des Blockreichstages träumen, wo beinahe Herr Basser mann — geadelt worden wäre. Politische Rundschau. Dresden, den I.März GlO. — Im preußisch»« Abgeordueteuhause wurde am Montag der Etat des Ministeriums des Innern ohne wesentliche Debatte zu Ende geführt. — Am Dienstag wird der Bergetat beraten. — Segen die Beschlüsse der Kameruner Laudkommissian rennt die „Tägliche Rundschau" — das Organ der Grün- düngen aller Art — an; daS Blatt stellt die For- derung auf: „Es mutz vielmehr in diesen Beschlüssen der ReichstagSkommisston eine Aufforderung an die Kolonial- regierung erblickt werden, eine schwere Rechtsverletzung zu begehen, - eine Aufforderung, welche hoffentlich von der Regierung zurückgewiesen werden wird." Wir müssen diese Hoffnung zerstören, denn die Regierung hat sich ausdrück- lich mit diesen Anträgen einverstanden erklärt und sogar noch eine Verschärfung derselben beantragt und auch durch gesetzt. Da» Blatt, das einst für TipPelSkirch eintrat, bleibt sich somit treu. — Kreplin gegen Deruburg. Bürgermeister Kreplin hat gegen den Staatssekretär wegen der bekannten Aeußcrung , in der Budgetkommission des Reichstages Strafantrag wegen Beleidigung gestellt. Herr Dernburg hatte bekannt- lich Herrn Kreplin mit dem Diamantenschwindel von Hoolop in Verbindung gebracht. — Noch eine Lülow-Schuld. Dem Reichstag ist ein Gesetzentwurf, betr. die AufstandSauSgaben für Südwest- afrika zugegangen, durch den ausnahmsweise gestaltet werden soll, daß die durch den Aufstand hervorgerufenen Ausgaben, soweit sie nicht in der Heimat geleistet und noch nicht verrechnet sind, in einer einheitlichen Abrechnung ohne Trennung nach RechnungS-Jahren nachgewiesen werden dürfen. Die Prüfung darf ebenso wie die Kontrolle des Rechnungshofes auf Stichproben beschränkt werden. Der Reichskanzler soll ermächtigt werden, zur Deckung der Mehraus gaben bet den durch die Etats aus Anlaß deS Eingeborenen- ausstandeS bewilligten Fonds die Summe von 29,7 Mill. Mark im Wege deS Kredits flüssig zu machen. Diese Summe hat der Reichskanzler 1908 ausgegeben, ohne daß er die Zustimmung deS Reichstages nachgesucht hatte. Als da» Zentrum aber neun Millionen Mark abstrich, da schrie er über das antinationale Zentrum; rund 24 Millionen hat er aber unter Bruch der ReichSversassung ausgegeben. Dafür müßte eigentlich eine Indemnität nachgesucht werden. Warum geschieht dies nicht? Der Reichstag wird erst nachhelfen müssen. — Die neue Fahrkostenerstattung für prrusj. Staats- beamte. Gemäß dem neuen Gesetzentwürfe sollen erhalten bei Dienstreisen an Fahrkosten für das Kilometer einschlicß- lich der Kosten der Gepäckbeförderung für Wegestrecken, die auf Eisenbahnen oder Schiffen zurückgelegt werden können: 1. aktive Staatsminister und Beamte der ersten bis fünften Rangklasse 9 Pfennig, wenn der Fahrpreis für die erste Wagenklasse bezahlt ist, anderenfalls 7 Pfennig, 2. Beamte, die nicht zu diesen Klassen gehören, sowie Subalternbeamte der Provinzial-, Kreis- lind Lokalbehörden und andere Be amte gleichen Ranges 7 Pfennig, wenn der Fahrpreis für die zweite Wagenklasse oder die erste Schiffsklasse bezahlt ist, anderenfalls 5 Pfennig: 3. sollen alle anderen Beamten, soweit sie bisher Anspruch hatten, 5 Pf. erhalten. Für Wege strecken, die nicht auf Eisenbahnen, Kleinbahnen oder Schif fen zurückgelegt werden, sollen erhalten pro Kilometer: 1. aktive Staaatsminister und Beamte der ersten bis fünften Nangklasse 60 Pfennig, 2. Beamte, die nicht diesen Klassen angehören, sowie Subalternbeamte der Provinzial-, Kreis- und Lokalbehörden und Beamte gleichen Ranges 40 Pfennig und 3. alle anderen Beamten, soweit sie bisher berechtigt waren. 30 Pfennig pro Kilometer. Die Fahrkosten werden für die Hin- und Rückreise besonders berechnet. Hat ein Beamter Dienstgeschäfte an verschiedenen Orten unmittel bar nach einander erledigt, so ist der von Ort zu Ort wirk lich zurückgelegte Weg ungeteilt der Berechnung der Fahr kosten zugrunde zn legen. Bei Berechnung der Entfernung wird jedes angefangene Kilometer für ein volles Kilometer gerechnet. — Gr«f PosatzowSky, der frühere Staatssekretär des Innern, hat für die Münchener Zeitschrist „März" einen Aussatz geschrieben, wonach er die Wahrnehmung gemacht hat, daß sich im Reichstag und preußischen Abgeordneten- Hause in den letzten Monaten Stimmungen fühlbar machen, die dem föderativen RetchSgedanken nicht förderlich zu sein scheinen. Anlaß zu diesen Aeußerungen hätten be sonders tie Verhandlungen über die Einführung von Schiffahrtsabgaben und über die Aenderung des preußischen Wahlrechts gegeben. In seinen Aeußerungen über den letzten Punkt tritt Graf PosadowSky für da» Reichstagswahlrecht ein und macht noch über die ReichS- tagSauflösung 1906 folgende interessante Bemerkungen: „Auch die Gegner des Reichstagswahlrechts, welches mit dem Reiche geboren ist, müssen anerkennen, daß unter der Herrschaft diese« Wahlrechts in Deutschland auf gesetzlichem und wirtschaftlichem Gebiete eine un geheure Kulturarbeit geleistet ist, und daß die aus Grund dieses Wahlrechts gewählte Körperschaft noch stets die Mittel gewährt hat, welche der Verteidigung unseres Vaterlandes zu Land und Wasser notwendig waren. Der Streitpunkt, der im Winter 1906 zur Auflösung deS Reichstages führte, kann nicht als ein solcher betrachtet werden, bei dem es sich ernsthaft um Versagung der Mittel zur nationalen Verteidigung gehandelt hatte." Wie man die Reichslande germanisieren soll, sagt uns ein General v. Wrochem, der in einer Versammlung des Alldeutschen Verbandes folgendes vorschlug: „In erster Linie fordert er eine Wahlrechtsreform dahin, daß, um den Einfluß des die Wahl beherrschenden Klerus zu brechen, die Hälfte der Vertreter zum Landcsausschuß durch die Berufsvertretungen, Universitäten usw. gewählt werden. Tann wünscht er Aufklärung des Volkes und fordert Besserung der Schulverhältnisse durch Ausschaltung des Einflusses der Geistlichkeit und Entfernung der zahllosen in der Schule tätigen katholischen Schulschwestern. Die An stellung und Besoldung der Lehrer habe fernerhin allein durch die Negierung zu erfolgen. Für wünschenswert hält der Vortragende auch die Einführung von Simultanschulen. Als wichtiger Faktor sei noch die deutsche Armee genannt, die eine wahre Erziehungsanstalt für die reichsländische Jugend bilde. Noch auf Generationen hinaus müsse man an der Gepflogenheit festhalten, den Rcichsländer im Reich« und den altdeutschen Rekruten in den Neichslanden dienen zu lassen. Sehr nützlich in den Neichslanden seien auch die Kriegervcreine, deren Tätigkeit zur Wahrung und Aus breitung des Deutschtums erfolgreich beitrage." Wenn man nach diesen Rezepten verfahren würde, könnte man nur erreichen, daß die katholische Bevölkerung sich vom Reiche abgestoßen fühlt; wer das Land gewinnen will, muß es nehmen, wie cs ist und darf besonders an den religiösen Verhältnissen nichts ändern »vollen. Ter Kulturkampf in den Neichslanden führt mir zur Entfremdung mit Alt deutschland. Für „Religion und Sitte!" Die „Germania" schreibt: „Wie hiesige Blätter berichten, fand in der Nacht von Sonnabend ans Sonntag in den Festsälen des Ber» liner Landwehr-Offizierkasinos der „Ball der Oester reicher" statt. Unter Lesterreicl>ern stellt man sich ins gemein Katholiken vor. und es dürfte wohl auch die große Mehrzahl der Oesterreickxr, die an der Veran staltung teilnahmen, aus Katholiken bestanden haben. Da ist es nun für die gläubigen Katholiken Berlins ein un erhörtes Aergernis, daß Katholiken eines anderen Staates durch Veranstaltung eines Balles mitten in der Fastenzeit ein Kirchengebot gröblich mit Füßen treten. Noch größer aber wird dieses Aergernis dadurch, daß. wie die Blätter weiter berichten, auch der hiesige Bot schafter Sr. kaiserlich-königlichen apostolisclM Majestät Franz Joseph und das gesamte Botschaftspersonal mit dem Generalkonsul an dem Balle teilnahmen. Wir wissen nicht, ob auch in Oesterreich selbst — wo ja aller dings vieles möglich ist, was man anderwärts für un- denkbar hält — so hohe Staatsfunktionäre an Tanz-