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Rr. 8« Sonnabend, de« 16. April 161V V. Jahrgang achslHeKolksMung werden die kaesvaltene Petitzeile oder deren Raum mit ?S^RcNkmctt mit SO F die Zeile berechnet, bei Wtcderhoilmsea entsprechenden Rabatt. Buchdrucker»!. Redaktion nad G-sch-ift-ftelle, ^ ' ^ ^ Trceden, Pilliiitzcr Strafte 4». — Fernsprecher lit«« 8L°-^WN^"«sSKÄL' tür Wahrheit, Recht und Freiheit »--»--..»-s-A« Lrichrmt tüalich nach«, mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. «nLaabe 4. r Mit .Die Zeit In Wort und Bild- viertelsShittch- S.r« ^. In Dresden durch Boten 8.10 ^!. In gang Deutschland stei Paus 8,8« Unabhängiges Tageblatt Die verschwundene Milliarde. II. (Von unserem Mitarbeiter.) lRachdruck verboten.» ^ Parts. 12. April 19 io. Rönage, der Liquidator von 63 Orden (darunter die IW Etablissements der Kapuziner und die 63 der Jesuiten) wurde auf Betreiben der von Combes präsidierten Sonder kommission des Senats schon früher seines Amtes infolge „unregelmäßiger Geschäftsführung" enthoben. Was dar unter zu verstehen ist, hat u. a. ein vom Generalvikar de Lo bet in Perzignan angestrengter Prozeß vor wenigen Tagen bewiesen. Der skrupellose Liquidator hatte einen Kirch- turn,, einen Marmoraltar, eine Orgel, d. h. Gegenstände, die gar nickst bestanden, zu hohen Summen versichert, einfach, um ein persönliches Geschäft als fingierter Unterhändler Zu machen. — Und nun hat sich Dnez, der Liquidator von 13 Kongregationen (darunter die Brüder der christlichen Doktrin mit 1700 Anstalten und die Franziskaner) als Gauner ersten Ranges entpuppt. Duez, der Mann mit dem wohlgepflcgten Kapuzinerbart und dem sprudelnden Witz r'ines Handelsreisenden, der Politiker und Richter zu Tische lud, um die „laufenden Geschäfte" bei Austern und Cham pagner gemütlich zu besprechen, der Mieter von vier Pariser Luxuswohnungen, der Kenner von galanten Adressen, der läckielnd eingestand, daß ihn sein Don-Juan-Ver- gnügen allein auf 300 000 Franken pro Jahr zu stehen konrme. Was dieser Kunde, der sich in verschiedenen Fällen nicht einmal der Mühe unterzog, die ihm übertragenen Geschäfte Zu buchen, an Geldern entwendet hat, als er in seine eigene Tasche und in die seiner Helfershelfer hineinliquidierte an statt in die staatliche, läßt sich auch nicht annähernd be stimmen. Jedenfalls ist die Summe von fünf Millionen, die m den Blättern als Unterschlagung vermutet wurde, viel zu niedrig gegriffen. Es dürfte sich nach unseren bei kompetenter Seite eingezogencn Erkundigungen um min destens zwanzigMillionen handeln. Ob die Oeffent- lichkcit jemals einen Einblick hinter die Kulissen dieses sensationellen Skandals gewinnt, erscheint mehr als frag lich. In sonst gut unterrichteten politischen Kreisen gilt es als offenes Geheimnis, daß Duez als früherer Angestellter des Liquidators Jmbert in der Erbschaftsangelegenheit deS tragisch verschwundenen Barons Jacques de Reinach in den Besitz von Geheimnissen gelangt sei, die für manchen Mann von Stellung kompromittierend wirken müßten. Die Preß- reporter im Duezprozeß haben tatsächlich auch schon mysteriöse Gestalten in der Amtsstube des Untersuchungs richters auftauchen sehen, und man hat den viel bemerkten Zögernden Gang der Verhandlungen bereits damit in Zu sammenhang gebracht. Gegen den dritten Liquidator Lecouturier, den Schwager des millionenschweren „Matin"-Besitzers und seine geschäftlich vervctterten Hintermänner hat der frühere „Matin"°Nedakteur Mouthon im „Journal" eine Reihe äußerst sensationeller Artikel veröffentlicht, die ein geradezu haarsträubendes Gebaren kennzeichnen. Der Journalist, gegen den der „Matin" (wohl i»ro korma) eine Klage auf 600 000 Franken Schadenersatz in Aussicht stellte, versuchte den Beweis zu erbringen, daß die Kartäusermönche auf Betreiben des Boulevardblattes trotz einer offiziellen Autorisationsznsage aus Frankreich vertrieben wurden, natürlich zum Zwecke, um ihre weltbekannte Likör- sabrikation, für die ein Amerikaner seinerzeit vierzig Millionen Franken vergeblich geboten hatte, um die Bagatelle von 600000 Franken zu erwerben und sie mit ungeheueren Verdiensten in die Taschen eines Konsortiums auszubeuten. Trotz gewisser Vertuschungsversuche ist in der findigen Presse eine ganze Reihe äußerst typischer Details vom kecksten F r e i b e n t e r t u m bekannt geworden, die den Liquidationsskandal grell genug beleuchten. Leider ver bietet uns der Raum, näher darauf einzugehen. Nur ein weniger bekanntes Beispiel. Während in den ersten fünf Jahren 60 Advokaten in Opulenz schwelgten und für eine doch recht minderwertige Arbeitsleistung zirka eine Million cinheimsten, sind 2000 von der Not gepackte oder invalide Kongreganisten mit schäbigen 16 000 Franken als Unter stützung abgespeist worden. Ueber die Art, wie sich die Ver mietungen und Verkäufe unter der Hand vollzogen, und sonstige Massengeschäfte abmickelten, ließe sich ein Buch schreiben. Blätter sämtlicher Richtungen ergingen sich tagelang in heftigen Angriffen ans die zutage getretene Korruption. In der Affäre Duez selbst besteht der eigentliche Skandal nicht in dem Diebstahl von 10 oder 20 Millionen, sondern darin, daß der Gauner selbst von Magistrats- Personen gegen den I n st i z m i n i st e r unter st ü tz 1 w n rde, und daß die vom Gerichte zu Hilfe ge zogenen Nechnnngssachverständigen nach Prüfung der Ge schäftsführung diese geradezu als ein Muster von Klarheit und Umsicht erklärten. Das ist der Krach der Justiz, rief der royalistische „Ganlois" aus, und selbst die extrem radikale „ A c t i o n " meinte: Die Republik befindet sich einer juridischen Maffia gegenüber gestellt, die sich unter dem Gesetzesmantel organisiert hat. Aehnlich lautete auch die Erklärung des Finanzministers Barthon von der Kammertribüne herab: „Ich habe die unbedingte Pflicht, dem Parlamente die Wahrheit zu sagen, und ich muß es daher ersuchen, mit der Negierung nachznforschen, ob nicht etwas Krankes in unserer Gerichtsver fassung ist, das mit dem Eisen ausgebrannt werden muß." Freilich kam es ob dieser Rede zwischen Barthon und seinen ministeriellen Vorgängern Monis und VaW, die sich betroffen fühlten, im Senat zu einem Rededuell. Selbst verständlich pro korma. Es galt, die Fassade zu retten. Es mußte festgestellt werden, daß sie persönlich nicht für die Skandale verantwortlich gemacht wurden. Fünf Nachmittage haben Kammer und Senat dem Liqnidations- skandal gewidmet. Man versuchte, ihn nach der politischen, finanziellen, juristischen und moralischen Seite zu beleuchten. Dem gegenwärtigen Kabinett fiel es nicht schwer, den Be weis zu erbringen, daß dieses es an dem nötigen Eingreifen nicht fehlen ließ, um den ehrlichen Gang der Abwickelungen zu sichern. Die Feister datieren von Combes' Zeiten. Unter- und Oberhaus einigten sich daher auf eine der Form nach verschiedene, aber inhaltlich gleiche Tagesordnung, die den skandalösen Machenschaften in der Ordensvermögens- liciuidation ihre Entrüstung und dem Ministerium das Vertrauen ausdrückt. Inzwischen sind bekanntlich sämtliche Liquidatoren ihres Amtes entsetzt und ist die weitere Ge schäftsführung der Domänenverwaltung übertragen worden. In politischen Kreisen herrscht der Eindruck, daß die repu blikanische Mehrheit die politische Verantwortlichkeit als abgetan ansieht und nur noch die strafrechtliche Abrechnung fordert. Da die Ordensmilliarde, die man als leckeren Köder zur Durchführung des Kulturkampfes benützte, nun zu einem Nichts zusammengeschmolzen ist, so fahndet man ans der herrscl)endcn republikanischen Linken nach der Lösung des merkwürdigen Rätsels. Dieser Aufgabe unterzieht sich das große radikalsozialistische Provinzblatt des Südens „La D6p0che de Toulouse". Es stellt selbstverständlich in seiner Schlußfolgerung die Behauptung ans, daß die 1072 Millionen — wenn man vom Millionendiebstahl Duez ab- f-?ht — auf Grund eines sehr geschickten Manövers, das vom Papst, dem Episkopat und teilweise auch von den franzö- üsck-en Gerichten bis zum Kassationshof hinauf unterstützt wurde, wieder in die Geldkoffer der Orden zurückgewandert sei. Das Toulouser Organ, das die Wahlen des Südens, d. h. in mindestens 20 Departements, macht, belegt seine Ausführungen mit „authentischen Ziffern". Die Republik sei die Bestohlene. Merkwürdig bliebe es aber doch, daß diese Einsicht so spät kam, und daß der Staatssäckel sich eine so gewaltige Summe, ohne auch zu mucksen, methodisch aus der Tasche ziehen ließ. Die verschwundene Milliarde muß als Wahlreklame dienen. Tatsächlich hat die episkopale Protestation seinerzeit die Erträgnisse des Verkaufes der Ordensgüter bedeutend herabgemindert, da die Käufer viel fach fernblieben. Und sollte man es den Kongreganisten ver übeln, wenn sie „Zivilgesellschaften" gründeten und mit den profitsüchtigen Liquidatoren direkte Verhandlungen pflogen? Sie wollten einfach retten, was noch zu retten war. DaS war das elementarste Gebot der Klugheit und der Selbst- crhaltung. Oder vielleicht nicht? Deutscher Reichstag. Der Reichstag verwies am Donnerstag nach längerer Debatte den Entwurf zur Entlastung des Reichsgerichts an eine Kommission von 21 Mitgliedern. Dann wurde in die Beratung der Verlängerung des schwedischen Handels- Vertrages eingetreten. Die Zentrumsabg. Speck und Erz berger wiesen darauf hin. daß dieser Handelsvertrag in der jetzigen Form nicht verlängert werden könne, da er die deutsche Ausfuhr erheblich schädige und forderten eine un- bedingte Abänderung des Vertrages. Ic. Berlin. Sitzung vom 14. April 1910. Auf der Tagesordnung steht die Interpellation Bassermann betr. Eisenbahnunglück bei Mülheim. Unterstaatssekretär Richter: Der Reichskanzler ist bereit, die Anfrage in der zweiten Hälfte der kommenden Woche zu beraten. Es folgt die Fortsetzung der ersten Lesung der Entlastung des Reichsgerichtes. Abg. Dr. Heinze (natl.): Warum hat man keine neuen Senate geschaffen? Man hat genügend befähigte Richter in Deuischland. Die kleine» Mittel zur Entlastung halte ich im all gemeinen für berechtigt, gegen einige habe ich Bedenken. Die Aufnahme des Difformitätsprinzips erregt die größten Bedenken, wenn man ihm auch eine gewisse Berechtigung nicht absprechen kann. Das hanseatische Oberlandrsgericht hat den Partikularismus immer stark beton», auch das sächsische. Sie gehen nicht immer mit dem Reichsgericht zusammen. Dadurch wird die Rechtseinheit stark gefährdet. Diese Vorlage ist eine der dringendsten und muß rasch verabschiedet werden. (Beifall.) Abg. Stadthagen (Soz.) hält den Entwurf für ganz un geeignet zur erfolgreichen Reform. Abg. Dr. Varenhorst(Rp-): Das Difformitätsprinzip lehnen wir ab, aber eine Entlastung ist dringend geboten. — Abg. Dr. Lattmann (W. Ver.) kann dem Difformitätsprinzip kein freund liches Gesicht abgewinnen. Abg. Seyda (Pole): Das Reichsgericht ist wohl ein sehr großes Gericht, aber cS könnte doch noch vermehrt werden und neue Senate erhalten. Staatssekretär Lisko: Mit HilfSsenaten geht es nicht, denn sic würden dauernde Senate werden. Ein solches Mittel würde nur für kurze Zeit reichen. Der Gerichtshof würde einen Umfang annehmen, so daß man nicht mehr arbeiten kannte. Ich bitte dringend, den Entwurf noch vor der Vertagung zu erledigen. Ohne mechanische Mittel geht cs nicht, die Zahl der Revisionen einzuschränken. Abg. Dahlem (Ztr.): hat die lebhaftesten Bedenken gegen den Entwurf, der keine Abhilfe bringe und doch dem recht, suchenden Publikum schade. Abg. Dr. Junk (natl.): Die Bildung eines einzigen ScnatcS könnte allen Mißständen abhelfen. Warum will man dies nicht? Wenn die Borlagc so spät kommt, so kann sie nicht mehr leicht verabschiedet werden. Der Entwurf ist nicht annehmbar, er bringt wesentliche Verschlechterungen. i (! Pilgerfahrt zur Einweihung der Kirche Mariä Heimgang auf dem Berge Sion in Jerusalem. (Spezialbericht unseres Korrespondenten.) Am Bord deS Etaiendam. 8. April 1910. Ein alter Pilger, von dem die Rede ging, er habe die Absicht, in Jerusalem zu bleiben, um dort zu sterben, mußte kurz vor der Abfahrt unseres Schiffes in Genua auf An ordnung des Schiffsarztes wegen seines bedenklichen Ge sundheitszustandes wieder von Bord gebracht werden. Da durch verzögerte sich die Abfahrt des Pilgerschiffes. Bei -er Abfahrt hatte eine dichtgedrängte Volksmenge den Kai beseht gehalten, bis der Dampfer außer Sehweite war. Als die Anker lichteten, hatten die Pilger unter dem Ge- sang „Großer Gott, wir loben dich" Abschied von dem europäischen Kontinent genommen. Bald legte sich das Abcnddunkel über das Meer und es begannen die Leiden und Freuden der Seefahrt. Schon in der Nacht war das Meer ziemlich bewegt, so daß die gefürchtete Seekrankheit viele Opfer forderte. Hiervon abgesehen, aber war der Ge sundheitszustand im allgemeinen ein guter. Mit den mannigfachen Unbequemlichkeiten fand man sich gern ab, da man sich ja nicht auf einer Vergnügungsreise, sondern auf einer Pilgerfahrt befand. Das Schiff war denn auch eigens als Pilgerschiff ein gerichtet. Auf dem Mitteldeck war ein Nauchsalon zur .Kapelle eingerichtet, in welcher das Allcrheiligste ausgesetzt war. Tag und Nacht wurde es von andächtigen Pilgern bc- besncht. Diese „Ewige Anbetung" gehörte zu den Glanz punkten der Fahrt bis Jaffa. Rechts vom Allerheiligsten befand sich der Altar für die feierlichen Gottesdienste, Hoch- amt und Nachmittagsandacht. Das Scitendeck bildete das Schiff der „Kirche". An allen vier Tagen der Seefahrt waren morgens 9 Uhr feierliches Pontifikalamt und nach mittags 1/^6 Uhr Predigt und sakramentale Andacht. Die Pontifikalämter wurden gehalten vom Wcihbischof Dr. Joseph Müller-Köln, Bischof Dr. Augustinus Blndcm von Ermland, Abt Willibald Wolffsteiner O. 8. U. von Ettal und Bischof Dr. Georgius Schund von Grüneck von Chur, die Predigten von dem Domkapitular Dr. Blank-Köln. Marinepfarrer Keil-Cuxhaven, Domkapitular Dr. Düster wald-Köln und Pfarrer Neu-Gmünd (Eifel). Ein auf dem Schiffe gebildeter Pilgerchor sang während des Gottes- dienstes die Choralmesse und nachmittags die Lcmretanische Litanei nach der Komposition des Bischofs von Chur, der auch selbst die Proben leitete und das Harmonium spielte. Der Gesang, der zur Hebung der kirchlichen Andachten wesentlich beitrug, fand allzeitig Anerkennung. Bei solchen gottesdienstlichen Feierlichkeiten vergaß man fast, daß man sich weit von der Heimat auf dem Meere befand. Ein größerer Salon war in eine Kapelle verwandelt worden, in welcher von 120 Geistlichen von 6 Uhr bis 8 Uhr an 13 Altären ununterbrochen Heilige Messen gelesen wurden, wobei die Laien, teilweise mit größter Ausdauer den Ministrantendienst versahen. Zahlreiche Pilger nahmen an diesen Messen teil. Zahlreich war auch der Empfang der heiligen Kommunion. Bei den Tagesuntcrhaltungen fehlte es an Frohsinn und guter Stimmung nicht. Schach, Skat und andere Spiele füllten die freie Zeit aus. Musikalische Abendunter- Haltungen eines Streichquartetts verkürzten die langen Abende. Fröhliche Nnndgesänge ertönten bald hier, bald dort an Bord. Mehrfach trafen sich alte Bekannte und feierten ein frohes Wiedersehen. Von den Teilnehmern an der Grundsteinlegung der Sionskirche im Jahre 1900 fanden sich auf dieser Pilgerfahrt 30 Herren wieder zu sammen. Zur dauernden Erinnerung ließen sie sich auf einem Bilde typen. Interessant war abends das Meeres- leuchten, welches von Leuchtfischen hervorgerufcn wird. Fliegende Fische und Haifische bekamen wir leider nicht zu Gesicht. Während es an den ersten Tagen trotz der südlichen Lage ziemlich kühl und stürmisch gewesen war, brachte der letzte Tag das prächtigste Wetter und eine glatte See. Morgen, am Feste Mariä Verkündigung, soll das Schiff in der Frühe vor Jaffa ankommcn. Infolgedessen herrscht heute an Bord eine fieberhafte Erwartung.