Volltext Seite (XML)
Sonntag, 22. September 1912. Telegramm-Adresse: Zk«chrichte« Lresde«. Femsprecher: 1t » 20S8 « 8801. L8SS Druck und Verlag von Liepsch Lc Reichardt in Dresden e» ais/ar'/ ' enorine ^usvslil! Ssi6sntiaus virl kkilki' Kltmarkt S. Anzeige,i-larif. Annahme »l»> Anlün. diounacn l>I» nachm. » >>4r. Lonnla,'. nur Marlenftrake IN oan II dt. >/-l Ich,. Die elnipalllae <bru„d,eil« »0. n Silben» ,0 PI, Namtlirn.Mchnchi,» m>> Lre.den -a P, - bie jweilpalliae ,je>i« lluiTeilirue 7NPs,,I>,- zweispattige Sleklam!- ,'ile I.L» M. — In Älnmmern nach Bonn > imd N.iarta,«« a - einjpaliige a-rundieil» II« Pf. Familien. Nachrichien au» D,e - ben die Grund»"Ie ii» Pf. — Nubwüril-,, BuflkSge nu> gegen Borauadezahlung. Jedes Beiegblatt lojlel I» Hauptgeschäftsstelle: Marien strafte 88 4» „Raumkunst" 0r«»ck»n-K., Vtlckoeiaate»,»« S/7. Oie l»1»t«»»ch»el»« ^I»t«Uu»U im lfnigesckors u»<i «fee Halle enlliL»: — äntiquittlen — XunatLerensiäiiUe. Im II. u. III. Siocll»erk bekinUet sicli äie Ausstellung von n»«»^e^nee» Hvrvvnaodwvrrvll all. Ilrt. Ken,»Igle, ltopk- u. ülleaeeerlaaen, etieumatiacke ». glclitlicNe ättackcn verile,, nngen,,,» geliinleit ». inejstens sclinell beeuliigt ilurcli „Lctimuckae, n»rv»n»ttell»nil«n unU neevenbeeutiiienilsn ^anttiol - Spieitua". liclit In I'Issctieu ru 8» I'kennige, l,Ä! „Nil 3.— Illach. Vcrsanä nacli ausvärts. IaÜHVvi»-^K»»tI»vlL«, Vrvktivn, ^Itin»rlLt. W-Imim.HW«' I!» ^«Ner Ken ^arlc D,—, mit Lclmur /ilaik 2,75. tmplsii-lli'sclisii-l'sllttliii'm. l.i.Wllei'. Xgi. SLoks. btolliolseant ^«llllll« Inedvaroll. I-agsr doodksinvr äsutsekvr uuä snAlisotiör Knrug-, iiosen-, pslstot- und jlVs8tvN8to<fs in »Ilan mockerilsa ^»rdvo und kriwa-tzualitätso, ir»i»»eii-IL«»»»tN»»8toü«, ttill»r«ltuel»«, Suul« Vnelre. MU' UIl»jlL'ori>»tuvI»v kür Lönixliost Läotisisetls Ltsatskorstbsamts in srstlcjüsslAbn ßadrikatsil. Hermann?äi^<ftel 8vd6Ü6l8irs856 19 21 Aüv erkigo ^esev. Mutmaßliche Witterung: Wechselnde Bewölkung, trocken. Ernst von Schuch war in dem gestern im Opern haus« - ihm zu Ehren veranstalteten Festkonzerte Gegenstand begeisterter Ovationen. Die König!. Generaldirektivnder sächsischen GtaatSeisenbahnen hat ihren Beamten und Ar beitern mit Rücksicht aus die besonders hohen Ansorderun gen der letzten Zeit Anerkennung »nü Dank aus gesprochen. Die Dresdner Fleischerinnung hat beschlossen, auch weiterhin den Verkauf dänischen Fleisches zu übernehmen. Der Iustizausschuß dcS BundeSratcS wird in der kommenden Woche über die von Bayern gewünschte authentische Interpretation des Iesuiten- gesctzes beraten. Der prcuftischc Minister der öffentlichen Arbeiten hat aus Anlab des Brandes im Theater des Westens zu Charlottenburg eine Revision sämtlicher Theater in Preußen angeordnet. Bei der OaseZanzur hat zwischen den Italie nern und Türken ein erbitterter Kamps stattgefun den. bei dem die Italiener 20» Tote und Ver wundete hatte«. Ein Taifun hat in der chinesischen Provinz Tsche- kiang ganze Städte und Dörfer zerstört,- »»»»» Menschen find ertrunken. Der Lag von Babelsberg. Der diesjährige 22. September ist ein nationaler Ge denktag von ganz besonderem Range. Fünfzig Jahre sind cs heute, üab in Schloß und Park von Babelsberg König Wilhelm und Bismarck jene entscheidende Unterredung hatten, die diese beiden Männer zusammensührte zu welt historischem Handeln. Es war eine lener /geheimnisvollen Stunden, da der Genius der Geschichte in seinen aus erwählten individuellen Nüstzeugcn ganze Völker und Ge schlechter segnet. Das unmittelbare Ergebnis dieser Unter redung lautet in der Sprache des Chronisten zwar un gleich nüchterner: Wilhelm I. überwand sich, Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten und Minister dcS Aus wärtigen zu berufen. Aber wir wissen heute, daß diescr Tag nicht nur Preußen, sondern ganz Deutschland angeht: Daß er der Geburtstag der neuen deutschen Geschichte ist. Und der aanze Erdkreis weiß cs, daß Bismarcks Eingreifen in die Geschicke seines Vaterlandes eine Wellenbewegung erzeugte, die ihre letzten Ausläufer bis an die fernsten Gestade in Ost und West unseres Plane ten warf. Darum haben wir gegen uns selbst das Recht und gegen König Wilhelm und Bismarck die Pflicht, dieses Tages bet seiner fünfzigsten Wiederkehr in nationalem Hochgefühl zu gedenken und in unauslöschlicher nationaler Dankbarkeit. Das sei hier geschehen, indem wir ihn mit gedrängten Worten sowohl vom psychologischen, als vom politisch-historischen Gesichtspunkte aus kurz zu würdigen suchen. Es ist dem alten König nicht leicht gefallen, Bismarck an seine Seite zu rufen. Er empfand vor dem als blinder Draufgänger Verschrienen etwas von jenem Granen, mit dem der Mensch den entfesselten Naturgcwalten gegcnüber- tritt. Als Monarch, als Familien- und Lanücsvater, als Kind der Freiheitskriege, als peinlicher Gcwissensrichter seiner Selbst mußte er sich erst innerlich überwinden, bevor er sich dem Dämon anvertrantc. den er mit dem feinen In stinkt seines ehrlichen Solbatcnherzens in Bismarcks Seele witterte. Aber es wäre zn dieser Selbstüberwindung nie gekommen, die herbstlichen Bäume von Babclsbcrg hätten dem schicksalsschweren Zwiegespräch der beiden Helden nie gerauscht, wenn nicht die Slot, die bitterste Königs- und Landesnot, Wilhelm I. zu diesem Schritt gezwungen Hütte. Mit der Abdanku « g surku » dc in der Hand trat der König seinem bisherigen Gesandten am Pariser Hofe entgegen, dessen Orientpoltttk er im Jahre 1824 als „Gnm- nasiastenpolttik" verurteilt hatte, den er 1838 an der Newa „kaltgcstellt" hatte, der ihm jetzt als Franzoscnsreund höchst verdächtig war. Wie hoffnungslos »nd wie ver zweifelt mutzte das preutzische Staatsschtff ans den Wellen treiben» wie unheilschwangcr die Wetterwolken über ihm> drohen, daß ein Wilhelm I., die Objektivatiun mon archischer und soldatischer Pflicht, sich gedrungen fühlte, von der Kommandobrücke abzutretcn. Es ist die unmittelbare Wirkung von Vabcls- berg» daß Preußen und Deutschland vor diesem Un glück bewahrt blieben. Bismarcks entschlossener Sprung an das Steuerruder rettete der weiteren stürmischen Fahrt den königlichen Kommandanten, den Man», der mit scincr ruhigen Sachlichkeit, seinem unbestechlichen Gerechtigkeits sinn und seiner frommen Demut allein groß genug war, das Gcnje neben sich zu ertragen und walten zu lassen. Sehr bqld gewöhnte sich sodann der König daran, den Sturm, mit dem Bismarck in den politischen Blätterwald fuhr, nicht anders zu betrachten als den Herbstwind, der in den Baumkronen von Babclsbcrg rauschte. Hier wie dort mußte das welke Laub fallen, um einem künftigen Frühling Platz zu machen. Der Dämon in Bismarck ossenbartc sich ihm als das historische Gesetz, an dem nichts dämonisch war als der unerbittliche Wille, durch den cs sich realisierte. Die rein menschliche Wirkung des Tageö von Babelsberg mar das allmähliche gleisen jenes Freund- schaftsb lindes zwischen Herr und Diener, jene liebevolle und hingebende Angleichung ihrer Naturen, die dem greisen König schon »ach sechs Jahren die Worte diktierte: „Mein größtes Glück ist cs ja, mit Ihnen zu leben und fest einverstanden zu sein .... Ihr Name steht in Preußens Geschichte höher als der irgendeines preußi schen Staatsmannes. Den soll ich lassen? Niemals! Ruhe und Gebet wir- alles ansglcichcn." Und als der Tag von Babclsbcrg zum 25. Male wiederkehrte, da begrüßte der neunzigjährige Hcldenkaiser als »ewig dankbarer König und Freund" also seinen Kanzler: „Ein leuchtendes Borbild von wahrer Vaterlandsliebe, unermüdlicher Tätigkeit, oft mit Hintansetzung Ihrer Gesundheit, waren Sie unermüdlich, die oft sich auftürmendcn Schwierigkeiten im Frieden und Kriege fest ins Auge zu fasten und zn guten Zielen zn führen, bie Preußen an Ehre und Ruhm zu einer Stellung führten in -er Weltgeschichte, wie man sie nie geahnt hatte. Solche Leistungen sind wohl gemacht, um den 23. Jahrestag des 23. September mit Dank gegen Gott zu begehen, daß Er Sie mir zur Seite stellte, um Seinen Willen auf Erden anszusühren." Und Bismarck antwortete: „Minister ernennt jeder Landesherr: aber es ist in neuerer Zeit kaum vorge- kommcn, daß ein Monarch einen Minister-Präsidenten 25 Jahre hindurch in bewegten Zeiten, wo nicht alles ge lingt, gegen alle Feindschaften und Intrigen hält und deckt. Ich habe in dieser Zeit manchen früheren Freund zum Gegner werden sehen,- Eurer Majestät Gnade und Vertrauen sind für mich aber unwandelbar gleich geblieben. In dem Gedanken daran liegt für mich reicher Lohn für jede Arbeit und Trost in Krankheit und Einsamkeit. Ich liebe mein Vaterland, das deutsche wie das preußische, aber ich hätte ihm nicht mit Freuden gedient, wenn cs mir nicht vergönnt gewesen wäre, es zur Zufriedenheit meines Königs zu tun." Wie wunderbar ergreifend lesen sich diese Briefe heute nach abermals 25 Jahren, da die beiden erlauchten Schreiber schon lange das Schweigen der Ewigkeit umfängt, und wie reich und glücklich ist unser Volk im Besitze solcher Dokumente. Welches war nun die ungeheure Wandlung, die sich mit dem Tage von Babclsbcrg in unse rem politischen Leben vollzog'? Es war, um es mit einem Wort zn sagen, die grundsätzliche Abkehr von jedem Doktrinarismus und die entschlossene und aus schließliche Orientierung nnsercr Politik nach dem preußisch-deutschen StaatSinter- esse. Was die Engländer seit mehr denn zwei Jahr hunderten, von Croimvcll bis Palmcrston, mit iinerbitt- licher Härte und heuchlerischer Klugheit als geheiligten Kanon für die Gestaltung ihrer auswärtigen Beziehungen betrachtet hatten, was für Frankreich seit Franz I. sich von selbst verstand und unter Ludwig XIV. und Napoleon I. gemeingefährliche Formen aiigenvminen hatte, das wurde nun endlich auch im guten Sinne für uns der Leitstern unserer Politik. Natürlich erhob sich sofort, und am lantesten bet den lieben englischen Humanisten, ein ent rüstetes Geschrei über die Materialisierung der Politik durch Bismarck. Aber Bismarck kannte seine Pappen heimer und ließ sich nicht abhalten, dem Pseudo-IdcallS- mus aus den Tagen der heiligen Allianz herzhaft zu Leibe zu gehen. Ta war zunächst die l c g i t i m i st i s ch c Doktrin, unter der man die Solidarität aller Throne vcrstano und >dic Verpflichtung derselben zu gegenseitigem Schutze. Sic wollte uns hindern, das junge Königreich Italien an- znerkenneil, und sic stand auch unserer eigene» nationalen Einigung beharrlich im Wege: denn hier wie dort niußicn der Nationalstaatsidce einige Throne zum Opfer fallen. Der unbedingte Legitimismus war also ein intcriialio- nalistischcs Prinzip, oas die naturgemäße Entwicklung Zcntralcnropas unterband. Ihm erklärte Bismarck den Krieg, indem er scharf zwischen heimatlichem und fremde»! Legitimismus unterschied. In betreff der inneren, zu nächst der preußischen Politik, war er Monarchist ans Neigung und aus Ueberzeugung. Ta war er entschlossen, die Fahne seines Königs hochzuhalten gegen jedermann, der wider sie znm Sturme blies. Das hat namentlich das preußische Abgeordnetenhaus erfahren, als es den Kamps um das Militärbudget z» einem Machtkampf zwischen Krone und Parlament vertiefen wollte. In betreff der Zustände aller andere» Länder aber erkannte Bismarck keine Art prinzipieller Verbindlichkeit für seine preußisch- deutsche Politik an. Die Pflicht seines Monarchen. Rechts schutz zu üben, beschränkte sich nach seiner Ansicht aus die demselben von Gott gezogenen Grenzen des angestammte» Reiches. Die auswärtige Politik ist ihm nur ein Mittel, der heimischen Krone die Kraft zu erhalten, zu sichern und zu mehren, um den eigenen Untertanen den notwendigen Rechtsschutz gewähren zu könne». „Das Schwert unserer Gerechtigkeit kann nicht über die ganze Welt reichen," schreibt er einmal dem Minister Schleinitz, seinem zweit letzten Vorgänger: „wenn es in fernen Ländern wirken soll, so schwächt sich seine Wirkung zu Hanse." Mit solchen Anschauungen traf er der bisherigen preußischen Politik, auch der seines gegenwärtigen Monarchen, in das innerste Herz. Eine zweite Doktrin, die sich als drückende hypotheka rische Belastung der preußisch-deutschen Politik erwies, war die Forderung des Kampfes gegen die Revolution. Sic war die logische Folge des Dogmas von der Legitimität. Natürlich hatte auch diese Forderung inter nationalen Charakter. Man verstand darunter wesentlich die politische Bekämpfung imd höfische Ablehnung des bo»a- partistischen Frankreich. Louis Napoleon und das zwciie Kaiserreich waren illegitimen, revolutionären Ursprungs: folglich waren sie weder Hof- noch bündniSfähig. Damit schaltete man ein mächtiges Aktivum freiwillig aus ans seinen politischen Kombinationen und schwankte ewig hin »nd her zwischen der hochmütigen Gönnerschaft Rußlands und der intimen Feindschaft Oesterreichs. Schon von Frankfurt aus hatte Bismarck diese dogmatische Gebunden heit mit der ganzen Beredsamkeit seiner fleißigen Feder zu bekämpfen gesucht, und seine pvlitische Frenndichast mit Leopold v. Gcrlach mar darüber stark erkaltet. Um wälzungen im Auslände betrachtete der ingrimmige Feind der heimischen Revolution nicht von der Warte eines internationalen Rcchtshütcrs, sondern einzig und allein vom Standpunkt des praktischen Staatsmannes. Seine Stellungnahme zu den politische» Vorgängen und Pro blemen »in ihn her wird lediglich bedingt von den möglichen Vorteile» oder Nachteilen, die sic dem eigne» Voll »nd Land bringen könne», für die er vor Gott »nd der Geschichte die Verantwortung trägt. Weshalb sollte er Napoleon znrücklvcisen, wenn dieser mit ihm Geschäfte mache» wollte? Wenn der Effekt einen sicheren Reingewinn sür die natio nale Bilanz erwarte» ließ? In solchen Anschauungen haben wir den theoretische» Boden zn sehe», ans dem seit Babclsbcrg die erlösende B i s in a r ck s ch e Real politik erwuchs. Sic machten die Bahn frei von all den künstlichen Hemmungen und -Hindernissen, die u»S den nationalen Staat verwehrten, »nd stellten die Zukunft Deutschlands ganz auf die Kraft eines mächtigen, schöpfe rischen Willens. Außer seiner AbdankniigSurkilnde hatte König Wilhelm vor Bismarcks Empfang in Babelsberg sich noch ein acht Folioseitcn nmsasscndes politisches Programm aufgesetzt, jedenfalls »m den neuen Minister darauf zn verpflichten. Er nahm es noch mit hinaus in den Park, wohin die Unter redung sich fvrtsetztc. -Hier zerriß er cs in lauter kleine Fetzen, ohne daß es überhaupt zur Erwähnung gekommen mar. Es waren nur mehr -Herbstblättcr, die vom Van», seiner politischen Erkenntnis fielen und sich mischen wollten mit de» fallenden Blättern der Buchen »nd Ulmen im Park. Als der Frühling nenn Jahre später die Bäume von Babclsbcrg wieder belaubte, da war Wilhelm Trntscher Kaiser und Bismarck Deutscher Reichskanzler. Und so sei er n»s gesegnet für und sür: der srühkingsichwangcre Herbsttag von Babclsbcrg. XV,