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Dienstag. Zweite Ausgabe. Abends 6 Uhr. IS. August 1851. Eeinzig. Die Zeitung er. scheint titglich zwei mal und »ird »««gegeben in ketpzig Vormittag« l l Uhr, Abrnd» « Uhr; in Dr«»d«n Abend« t Uhr, Vormittag« 8 Uhr. Viel« für da« Vierteljahr > Lhlr.; jede einzelne Stum mer l Ngr. —- Nr. 424. Mutscht Allgemeine Zeitung. «Wahrheit und Recht, Freiheit und Gesetz!» Zu beziehen durch alle Post ämter de« An- und Au«la»de«, sowie durch die iirpedittonen in »eipjig (Querstraße Nr. 8) und Dresden (bei <!. Höckner, Neustadt, An der Brücke, Nr. I). Jnsertton-gebü-r für de« Ra«m einer Zeile > Ngr. Rußland und die Gegenwart. IV. (Vgl. Nr. 361.) — Mit dankenSwerther Schnelligkeit ist dem ersten Theile dieses interessanten und bedeutenden Werkes der zweite nachgefolgt. Der selbe beschäftigt fich ausschließlich mit Rußlands anöwärtiger Politik. DaS HinauSgreisen über die gegebenen Macht- und GebietSgrenzen, die Politik der Eroberungen, sei eS mit der rohen Gewalt der Waffen, oder mit der feinern diplomatischer Ränke, war für das Rußland, wie eS Peter der Große wollte und schuf, ebenso sehr Bedürfniß und Lebens bedingung des Bestehens wie für das Frankreich Ludwig'S XIV. und Napoleon's, ja in dem Maße noch mehr, als ein nationaler Zusam menhalt für das ungeheure Reich, neben dem künstlichen deS persönlichen ZarendeSpotiSmuS, fast nur durch die Befriedigung nationalen Selbst gefühls in der Macht deS eigenen Herrschers über weite Gebiete und ge waltige Kräfte zu gewinnen war. So sehen wir denn diesen fast noth- wendigen Eroberungsdrang der russischen Autokraten fort und fort thätig, neue Mittel und Wege deS VorrückenS zu gewinnen, besonders nach dem Westen. Mit Recht hat der Verfasser auch diese Richtung der russischen Eroberungspolitik vorzugsweise inS Auge gefaßt, die uns zunächst und zumeist berührt. Anfangs nun zwar mußte der halbastatische Staat sich seinen Eintritt in das europäische Staatensystem mit Waffengewalt er kämpfen, indem er an allen umliegenden Staaten natürliche Feinde sei nes VorrückenS nach Westen fand. Bald jedoch gelang eS der schlauen russischen Politik, diese Gegner selbst unter sich zu entzweien, auch wol in den einzelnen Staaten die verschiedenen Parteien aneinander zu Hetzen, und so den Widerstand gegen seine Eroberungen zu brechen, ja sogar sich Gehülfen und Werkzeuge zur Förderung seiner Zwecke zu schaffen. Die politiqua vo-partngogntv, am großartigsten, wenn wir die Sache diplomatisch, am schmählichsten, wenn wir sie rechtlich und sittlich be trachten, gegenüber Polen ins Werk gesetzt, ward bald zu einer politiqus cko oomplioos, welche Oesterreich und Preußen, die natürlichen Vor mauern des Westens und insbesondere Deutschlands gegen Rußland, zu offenen Pässen für dieses machte, durch welche eS seinen siegreichen Ein zug in das Herz Westeuropas hielt. Abwechselnd diese beiden Staaten gegen Frankreich vorschiebend, wo es einer Abwehr oder einem An griffe auf dieses galt, und dann wieder über sie hinweg demselben Frankreich die Hand reichend, um Oesterreich und Preußen sammt dem ganzen Deutschland in Ohnmacht zu erhalten, verfolgte Rußland unter der Fahne einer „Politik der gemeinsamen Interessen" immerfort dieselbe selbstsüchtige Politik. Vielleicht geht der Verfasser zu weit, weqn er fast alles Unglück Deutschlands und Preußens in den Jahren 1806—12 auf Rußlands treulose Politik schiebt; die Schwäche und Rathlosigkeit, die damals und bis zur endlichen Ermannung 1813 am preußischen Hofe herrschte, hat gewiß auch ihr volles Theil daran. Jndeß ist wol nicht zu leugnen, daß Alerander nicht immer ein ehrliches Spiel spielte, mindestens ebenfalls durch Unsicherheit und Unzuverlässigkeit Preußen wiederholt in schwierige Lagen versetzte. Droysen's Mittheilungen in Uork'S Leben, die von Hormayr veröffentlichten Briefe Gneisenau'S und andere Documente aus damaliger Zeit bestätigen diese Auffassung deS Verfassers. Bekannt ist, was auch hier angeführt wird, daß selbst da mals, alö die Russen unter dem Titel von „Befreiern Deutschlands" den fliehenden Franzosen nachrückten, der russische Befehlshaber schlechter dings Ostpreußen dem Kaiser huldigen lassen wollte, und von dieser Prätenston nur durch Schön'S energische Erklärung: daß er dann den Landsturm gegen ihn aufbieten werde, abgehalten wurde. Nach solchen Vorgängen wird die vielangerufene Proclamation von Kalisch natürlich vom Verfasser auf ihren wahren Werth zurückgesührt, auf Alerander's Parteinahme für die Wiederherstellung der legitimen Dynastie in Frank reich; welche ihm als Vorwand dienen mußte zur Abweisung der iso ge rechten Ansprüche Deutschlands auf Zurückerlangung früherer Erobe rungen von Frankreich in das gehörige Licht gestellt, durch die Stif tung der Heiligen Allianz und die daraus sich entwickelnde gemein same Politik der Regierungen gegen die freiem Regungen der Völ ker ward Rußlands Macht über den ganzen Continent zweifellos aus gedehnt, russischer Einfluß auf die deutsche Fürstenpolitik maßlos ver größert, „Erringung der ersten Stelle als Weltmacht und Schutz deS absolutistischen PrtncipS durch die von den erobernden Uebergriffen selbst bedrohten Mächte", DaS war es, was Rußland mit dieser Politik der Heiligen Allianz, mit den Congressen von Aachen, Lai bach re, erstrebte und erreichte. Territorial durchbrach eS Preußens öst liche VertheidigungSlinie durch seinen weit hereinreichenden polnischen Antheil, während es Oesterreich in die Flanke faßte mittels der durch nationale und konfessionelle Sympathien ihm zugewendeten Ost- und Südslawen. Um aber beide Mächte und Deutschland noch sicherer zu umfassen, faßte eS seine Position in der hinlänglich bekannten Weise nörd lich in Dänemark, südlich in der Türkei. Trotz dieses großen Machtzuwachses und dieser so schlau gewählten Stellungen ward Rußland doch durch die Julirevolution überrascht, ver mochte nicht den Bruch deS LegitimitätSprincips und der Verträge von 1815 in der Losreißung Belgiens von Holland zu hindern, mit Mühe auf dem eigenen Gebiete die polnische Revolution niederzuwerfen. Nach dem aber diese Gefahr vorübergegangen, nahm eö seine alte Politik des Jntriguirens bei den Höfen (namentlich der Mittel- und Kleinstaaten Deutschlands), der Verlachung der öffentlichen Meinung durch eine be zahlte gewandte Publicistik wieder auf. Der PanslawiSmuö ward zu einer gefährlichen Waffe gegen Oesterreich gemacht. Mit Preußen lockerte sich daö frühere intime Verhältniß in etwas seit 1840, als dieser Staat einige, wenn auch schwankende Schritte auf der Bahn einer mehr selb ständigen und volksthümlichen Politik zu thun begann. Die öffentliche Meinung aber in Deutschland zeigte sich immer erbitterter und argwöh nischer MLg_Hie Tendenzen der Zarenpolitik. In Rußland selbst zuck ten dann und wann die Symptome eines in dem Ungeheuern Körper umherschleichenden GiftS auf, bald in Bauernaufständen, bald in mili- tairischen Verschwörungen. ES kam das Jahr 1848. „Vorüber war nun jene Zeit der be- quemewHerrschaftsübuiig, wo bei einer irgend inconvenabeln Politik deS Westens die deutschen Armeen alö Vorhut des russischen Gegendrucks mit derselben Sicherheit zu benutzen waren, wie das französische Interesse gegen jede Concentrationsbewegung Deutschlands. Die deutschen Heere konnten jetzt möglicherweise sogar zum Vortrabe des Westens gegen den Osten werden. Rußland sah sich auf dem Continent isvlirt, in Wahr heit auf den Standpunkt gestellt, welcher seit Menschenaltern der hoff nungsvolle Wunsch aller vorwärtsstrebenden Elemente Europas gewesen. In dieser äußersten Verlegenheit that daS russische Cabinet einen schlechten, unvorsichtigen Schritt. Seine. Märzproclamation war ein lauter Auf schrei zornvollen Erschreckens vor dem Siegesschritt der Revolution (man erinnert sich des herausfodernden Schlusses dieses Manifestes: «Mit unö ist Gott; vernehmt eS, ihr Heiden, und unterwerft euch, denn mit uns ist Gott!»); seine beschwichtigenden Erläuterungen dazu erschienen vollends als Selbstgeständniß vom Mangel einer wahren innern Gegen kraft. Aber Rußland hatte diesen ersten Schrecken rasch überwunden, nachdem eS erkannt, wie die bewegenden Ideen Westeuropas so ganz anderer Natur blieben als die progressiven Regungen in Rußland, wie der kosmopolitische Eifer der Revolution seinem feindlichen Charakter ge gen Rußland keine geschlossene Gestalt zu geben vermochte, wie der re formatorische Drang vor allem ein AuSgreifen über die Grenzen der Nationalitäten zu verhindern suchte, um nicht neue Zerrüttung zum in ner» Chaos zu fügen. Die unmittelbare Gefahr war also beseitigt, als die Circulardepesche vom Juli erschien. Im Inhalt dieses Aktenstücks erkannte Deutschland endlich doch einen PaciScirungSversuch mit den neuen Machtelementen. Man glaubte, Rußland ziehe sich auf sich selbst zurück, und erst, da jene Elemente schon keine Macht mehr waren, ließ die Besetzung der Donaufürstenthümer, die ungarische Intervention und der Kongreß zu Warschau schmerzlich erkennen, wie die russischen Trom melwirbel und Hornrufe des Sommers 1848 nicht blos Signale zur Aufstellung einer Cordonlinie gegen Europa gewesen." Der Verfasser hält gleichwol jenen „Jrrthum" für heilsam, weil ein europäischer Krieg ge gen Rußland das demokratische Element in dem Grade gestärkt haben würde, daß daS nationale ConcentrationSstreben wieder weit zurückge- drängt worden wäre. Darüber läßt sich streiten; gewiß aber scheint, daß der nächsten großen Bewegung erster Ziel- und Sammelpunkt ein sol cher allgemeiner Kreuzzug gegen Rußland sein wird, denn man hat er kannt, daß die Contrerevolution so lange unbesiegt und unbesiegbar ist, als sie an Rußland einen feststehenden und unberührten Rückhalt hat. Am Schluß faßt der Verfasser nochmals daS Äerhältniß Rußlands und seines innern Staatssystems zu den westeuropäischen Staaten und insbesondere z» Deutschland in folgenden Betrachtungen zusammen: „Ge diehe eine dauernde Festigung der Nachbarstaaten, gediehe eine natürliche Vereinigung mehrer, gediehen nationale Gruppirungen im großen Stil, so würden dieselben Verhältnisse erzeugen, deren Rückwirkung auf Ruß lands Völker nicht auöbleibcn könnte. ES würden Kriege nothwendig werden, welche nicht mit Armeen, sondern mit Berufungen an die Na-