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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumcralion«- Prns 22j Sgr. THIr.) vierteljährlich, 3 Tblr. für da« ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt auf diese« Beiblatt-dcr AUg. Pr. StaatS- Zeitung in Berlin in der Erptdilion (Mohren-Straße Nr. 34); in der Provinz so wie im AuSlande bei drn Wohllöbl. Post-Aemtern. Lrreratur d e s Auslandes. Iß. Berlin, Montag den tz. Februar 1837. Schweiz. Erziehung und Gefangenschaft. Eine Zugendgeschichle au« Genf. Die Erziehung, so sagt ein alter Spruch, die Erziehung macht den Menschen. Es giebt eine ganze Galtung von Leuten, die, so zu sagen, auf der Schwelle von ihres Vater« Kramladen groß gewachsen sind, die schon als Knaben durch tägliche Begegnung mit der alltäglichen Welt abgericben werden. Zudem sic nun so auswachsen, erlangen sie wohl eine Art von praktisch pfiffiger Menschcnkennwiß, einen Instinkt neu gierigen Herumschnüffclns; sie sind auf der Gaffe zu Hause, ihr Denk vermögen giebt sich mit dem Allertrivialsten zufrieden, und sie hallen sich ihr Lebelang an bie Moral und an die Bormtbeile ihre« Sladtvierleis. Bei alle dem können sie Advokaten oder Präsidenten werden; sic finden sich in jederlei Beruf und verwalten ihn gut oder schlecht, je nachdem sie's eben an der Ladenlhiir gelernt. Es giebt aber eine andere Art Leute; die haben zu ihrer Knaben zeit, so etwa ums böte Jahr, in einem kleine» Kämmerlein gesessen mil der Aussicht auf einen weilen stillen Hof und auf einsame Dächer. Darüber find sie nachdenklich geworden. Sie sind wenig verlraul mil dem, was aus der Gaffe vorgebt, aber desto verlrauler damit, wie e« innerlich bei ihren nächsten Nachbarn ausfledt. Dabei erlernt man gleichfalls Menschenkenniniß, zwar keine so extensive, aber eine desto vertrautere und intensivere. Und wenn es draußen gar nichts zu sehen giebt, so lebt der Knabe mil sich allein und muß bei sich selbst ein- kehren. Derweilen sttzl der Andere auf der Schwelle, an der Gaffe, und guckl alle Augenblick nach elwa« Neuem; wie sollte er stch selbst kennen lernen? — Er bal's nicht nölhig, er hat keine Zeil, keine Lust dazu. Wenn nun beide Knaben eine« Tage« zu Advokalen oder Prä- sidenlen heranwachsen, so bäucht mir, der au« dem Kämmerlein wird sich wohl anders anstellen, als der von der Ladenschwcllc. Es ist ein ernstlich Ding darum, was Einer im löten Jahre für eine Wohnung bat, was für Leute er Vorbeigehen sieht, was in feine Ohren tönt, und was es zu lachen oder zu weinen giebt, und was die Nachbar» machen, und was sonst Alles passtrt. ES soll einmal Einer einen ErziehungS-Plan auSklügeln; er soll nach dem Rache eines Freundes, eines Buches, oder nach eigenen erleuchlele» Jntenlionen, seines Sohne« Herzen«- und Geistesgaben nach väterlichen Absichten lenken! Er richte stch drauf: alles Lebendige und Leblose in der Nach barschaft, jedes Wort, jeder Ton, jedes zufällige Ereigniß vermag mehr al« die planvollste pädagogische Weisheit. Gut, wenn e« Euch zu Stallen komml; schlimm, sehr schlimm, wenn sich'« mil Euren Absichten nicht verträgt. Da« ist eine Summe von unauSweichbaren Einflüssen; man kann sie nicht vermeiden, — noch mehr, man kann sie nicht entbehren. Das erinnert mich an meine schönen Knabenjahre, die ich im stillsten Quartiere der guten Stadt Gens verlebte, hinter der Petrikirche, unweit des alte», schon damals al« Gesängniß dienenden bischöflichen Palastes. Bor meinem Fenster wiegle ein schön belaubter Akazienbaum seine Blätter; durch da« Grün hindurch sah ich die hohen Pfeiler ter Kirche, die alten Thurmmauern; auf der anderen Seite die schwarze Gcfängi'.ikmauer; dazwischen durch cine freie Oeffnung den See mit seinen schönen Usern. Wie glücklich war ich doch vor anderen Knaben meines Aller«! Nicht im einsamen Kämmerlein zwischen Dächern, nicht aus der prosaischen Ladenschwelle, — an einem Ort, in einer Gegend wuchs ich heran, wo ich fürwahr ein großer Dichter hätte werden müssen, hälle in ter äl.ckeria prima meines Gehirn« nur das geringste Körnlein zu einem Dichter gelegen. Mil wem ich in dem Stübchen lebte? Ersten« mil meinem Pr/izeplor, ein klein wenig; zweilen« mit mir selbst, ziemlich viel, am meisten aber mit Euchari«, mil Galalea und mit der lugendsamen reizenden Estella. Jedermann machl nämlich i» seinem Leben ein Stadium durch, ein kurze« Stadium, wo er sich an Florian'« Jdvllen herzinniglich ergötzt. Damal« war ich gerade mittendrin. Mit welcher Lust träumte ich mich unter die Lämnur'hütenden Schönen, und wie erbaute ich mich an ihrer pretiösen Naivetät, und wie schlürfte ich ihre rosenduftende» Sentiment«, und wie schön dachte jch mir sie im ländlichen Putz mil den bunt- bebänderlen Hirlcnstäben, lausentmal schöner, tausendmal anmuthiger, tausendmal edler und klüger und liebreicher und empfindsamer al« die schönsten Mädchen in Eens. Ich halte ihnen Liebe und Treue gelobt; nur Schade, ich durste bei Leibe nicht« davon merken lassen. Nämlich: vor rin paar Tagen hatte mein Präzeptor mil mir einen sehr ernsten DiSkur« geführt. Wir übersetzlen den Telemach: wie er sich aus der Insel der Kalvpso so vortrefflich aussührt und die schöne Euchari« um der Tugend willen verläßt, welche Aufführung ihm Mentor dadurch erleichtert, daß er ihft in« Wasser wirft. Also las ich: <>t il precipita lölomalzn« äan» la mor, und übersetzte, so gut ich es konnte: et TVIemacbum in mare sie rupe pravcipituvit. Da fing Herr Rätin, so hieß mein Präzeptor, zu fragen an, wa« ich wohl da von dächte, und ob der Herr Mentor recht gethan?. Jch saß ziemlich verdutzt; so viel hatte ich aber doch schon weg, daß ich den Herrn Mentor in Gegenwart de« Herrn Präzeptors nicht tadeln dürste. Im Grunde wollte es mich bedünken, daß der Herr Mentor mil seinem Zögling doch ei» bischen zu grob umgcsprungen. „Jch meine", sagte ich, „der Telcmach ist »och recht gut davongekommen, daß er einiges bittere Meerwaffer geschluckt Hal." — „Sie haben meine Frage nicht »erstanden", hob Herr Ralin an; „sehen Sie, Telemach war in die Nymphe Eucharis verliebt. Nun ist aber die Liebe eine sehr schädliche und nnebrbare Leidenschaft und läuft der Tugend zuwider. Wenn ein junger Mann verlieb! ist, so wird er träge und weichlich und zu nichts nutz, als seiner Geliebten zärtliche Kom'plime»lc zu machen, wie Her kules der Ompbale. Der weise Mentor hat cs also vortrefflich ange fangen; um den Telemach vom Rande des Abgrundes zurückzuziehen, hat er ihn herumergeworfen. Sehen Sie", sagte Herr Ralin, „so hätten Sic mir antworten müssen." Sv ersubr ich denn auf indirekte Weise, wie bedenklich mein eigener Kasus war und wie weil ich schon vom Pfade der Tugend abgewichcn; denn gewiß, ich lieble Estella so sehr, wie Telemach die Euchari«. Also nahm "ich mir innerlich vor, mein sündhaftes Gefühl zu bekämpfen; denn gus Herrn Nalin's Lehren und aus seiner großen Bewunderung für Herrn Mcnlor's pädagogische Kunstgriffe sah ich wohl voraus, daß die Sache mir einmal ei» großes Unglück znziehen könnte. Die Rede meine« Präzeptor« halte überhaupt einen tiefen Eindruck aus wich ge macht, und zwar eben darum, weil ich ihn nicht verstand. Es war etwa« RälbsetbasleS, GehtimnißvolleS für mich darin. Jch halt» den ernstlichen Borsatz, mich gut auszuführen, mich nicht in den Abgrund zu stürzen, meine sträflichen Gefühle zu unterdrücken, und meine Phan tasie beschäftigte sich unablässig mit den drohenden Worten meines Präzeptors, wie mit einem Orakel, um dessen dunkeln Sinn zu ergrün den. So war meine erste Liebe, beschaffen; der Diskurs meines Prä zeptors machte ihr den Garaus. Jch guckte nun fleißiger zum Fenster hinaus. Da war mir gegen über die schwarze dunkle Mauer, hinter welcher die Gefangenen steckten, und ganz unten lies in der Mauer ein einziges Fenster, eigentlich nur ein Loch, klein, mil Eiseiigillern verwahr! und draußen noch durch eine niedrige Maucrbrüstung verstell!, so daß dem Gefangenen nur von oben ein bische» Lich! in seinen Kerker fiel; er konnee den Kopf nicht her» auSsteckeii und auch durch da« Giller die Straße »ichl sehen; ich aber sah e« von oben. Der Anblick erregte mir kein Erbarmen, sondern Furcht und Abscheu. Da« Urlhcil eine« Knaben wird eben, weil es nach einer Seile bin unschuldig, gutmülhig und zutraulich ist, auf der anderen Seile rechl harl und streng und grausam. Da« Kind denkt sich in der Welt lauler gute und ehrliche Leute; um so tiefer ist seine Entrüstung, sein Abscheu darüber, daß Einer sich untersteht, zu stehlen und todtzuschlagen. Ich wußte es nicht anders, als daß bie Gerechtig keit die guten Leute gegen die Bösen beschütze; keine Strafe für die argen Bösewichter schien mir bart und streng genug. Später freilich mildert die Erfahrung solches Urthell; die guten und ehrlichen Leute kommen Einem schon verdächtiger vor; menschliche« Gericht erscheint nicht mehr heilig und unfehlbar; in den Bösewichtern erkennt man un glückliche Opfer der Berführung, der Armuth, der Ungerechtigkeit, und der Zorn über da« Berbrechen wandelt sich in Mitleid mit dem Bzr- brecher. Kinder aber, in ihrer glücklichen Unwissenheit aller dieser Dinge, haben daher manchmal harte und grausame Worte und Gedan ken; ihr moralische« Bewußlsehn äußert sich ln ungebrochener, unge, beugler Stärke. Wenn ich einen Mann von einem Gendarmen in« Gefäugniß führen sah, so sah ich den Gefangenen mit Haß, den Ge-l- darmen mit Liebe an. Wäre ich nicht so unverdorben gewesen, so würde ich den Gendarmen gehaßt und den Gefangenen bedauert haben- Eines Tage«, noch erinnere ich mich dessen deutlich, wurde Einer vorüdergesührt, bei dessen Anblick sich mein ganze« Blut empörte. Er Halle einem Anderen bei der Ermordung eine« ehrwürdigen Greises ge holfen, dessen Reichlbum ihre Habgier gereizt Halle. Ein Kind war unbemerkt Zeuge de« Berbrechen« gewesen, und sie batten eine» zwei ten Mord nick! gescheut, um sich de« Ankläger« zu entledige» Der eine von den Beide» wurde bingerichtek; der Andere mochte einen ge schickteren Bertheidiger gefunden, oder es mochten sich mildernde Umstände