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Lautstärkeverhältnissen, mit Überraschungswirkungen, mit bis dahin noch recht wenig gebräuchlichen Effekten der Instrumentation. Die Wirkung dieses Experi ments war so, wie heute Neue Musik auf unser heutiges Publikum wirkt. Man war damals schockiert, das heißt: von dem Paukenschlag erschreckt. Wir wissen heute, daß Haydn durch seine damals immer neu wirkenden Werke die Musik auf die Höhe der Wiener Klassik hinaufgeführt hat. Wir sehen heute nicht mehr, wie kühn für seine Zeit alles war, was er schrieb und wie unverständlich viele seiner Werke durch die Neuartigkeit seiner Tonsprache auf seine damaligen Hörer wirkten. Haydn hatte es also auch schon mit einer gewissen Trägheit seines Publikums zu tun, das sich durch die Musik leicht in einen träumerischen Zustand versetzen ließ und ärgerlich bei der Zumutung des Paukenschlages aus dem genießerischen Schlummer emporfuhr. Haydn liebte das Denken in der Musik, was er in seiner ganz neuen Art der Motivaufschließung und der Themenverarbeitung auch be wies. Mozart und Beethoven haben gerade diese Eigenart übernommen. Eine kurze, langsame Einleitung geht dem eigentlichen ersten Satze, einem sehr lebhaften, im Sechsachteltakte stehenden Musikstück, voraus. Das zweite Thema unterscheidet sich vom ersten durch eine größere Süßigkeit und eine graziöse Zartheit. Gerade dieser Satz ist ein Beispiel für das klassische Gleichgewicht zwischen Gefühl und Geist, das sich in seiner erstaunlichen formalen Abrundung zeigt. Der zweite Satz mit dem ominösen Paukenschlagexperiment ist auf einer schlich ten, volkstümlichen Melodie aufgebaut, die in verschiedenen Absätzen immer wieder verändert wird. Das Menuett ist dem volkhaften Musizieren noch am nächsten. Man sieht förmlich die Tänzer sich nach diesen Klängen drehen. Der Schlußsatz ist ein Rondo. In ihm kommt die Seelenheiterkeit Haydns und sein großer Witz, der sich mit einem außerordentlichen Können paart, zum Ausdruck. Haydn war ein geistreicher Mensch, der gerade in den Schlußsätzen seiner Sinfonien seinen Geist funkeln läßt. Um ihn hier ganz zu verstehen, bedarf es einer gewissen musikalischen Schulung, um sich dieser Fülle von motivischen Beziehungen und Verwandlungskünsten hingeben zu können. Eines der meisterlichsten, ja genialsten Werke Igor Strawinskys ist das gemeinsam mit Alexander Benois geschaffene Ballett Petruschka, das 1911 in Paris uraufgeführt wurde und 1947 vom Komponisten nochmals über arbeitet, in der Instrumentation aufgelichtet, in der rhythmischen Notierung ver einfachtwurde. Diese revidierte Fassung der Partitur bildet den Schlußteil unseres heutigen Konzerts. Ursprünglich hatte Strawinsky eine Art Klavierkonzert schrei ben wollen (erst in der Fassung von 1947 wurde die Verwendung des Klaviers ausgeglichen und überzeugender in das bisherige Klangbild eingefügt). Dabei war die Assoziation einer entfesselten Puppe entstanden, die „durch ihre dia bolischen Sprünge das Orchester zur Verzweiflung bringt, das nun seinerseits ihr mit drohenden Fanfaren antwortet". Dank des Interesses Djagilews an dem Werk nahm es bald Gestalt an als „choreographisches Schauspiel“, dessen Handlung uns in den Faschingstrubel eines Petersburger Jahrmarktes versetzt. Ein Gaukler, ein Schausteller, führt seine Puppen vor, eine Ballerina, einen Mohren und den russischen Kasper Petruschka. Sein magisches Flötenspiel bringt die Puppen zum Leben und Tanzen. Petruschka, der fast menschliche Züge besitzt, liebt die Ballerina, der jedoch menschliche Wärme fehlt. Sie hat sich ihrerseits in den grotesk und farbenfreudig aufgeputzten Mohren verliebt, der in unbeherrschter Eifersucht Petruschka mit seinem Schwert verfolgt und ihn schließlich tötet. Diese Tragödie der Puppen spielt sich vor einem kontrast reichen, farbenprächtigen Hintergrund ab, der plastischen Schilderung eines Volksfestes. „Petruschka — das ist das Leben selbst! Seine ganze Musik ist von solch einem Schwung, solcher Frische, solchem Geist, solcher gesunden, echten Fröhlichkeit, solcher unaufhaltsamen Kühnheit erfüllt ..." — äußerte Nikolai Mjaskowski einmal, und Sergej Prokofjew stellte fest: „Petruschka ist in höchstem Grade unterhaltsam, lebensvoll, heiter, witzig und interessant". Diesen Urteilen ist kaum etwas hinzuzufügen. Die Verwurzelung der burlesken Szenen „Petruschka" im russischen Mutterboden ist offensichtlich und überall spürbar — im Musikalischen wie in der ganzen „Atmosphäre", die das Werk besitzt. Mitreißende Vitalität und gestische Schlagkraft sind nicht die geringsten Vorzüge der längst populär gewordenen Partitur, deren bekanntestes Stück wohl der kraftvolle und schwungvolle Russische Tanz ist. Groteske Sprünge und marionettenhafte Bewegungen kennzeichnen Petruschka (das Klavier ist bedeut sam an der Charakteristik dieser Puppe beteiligt). Als unberechenbar und aufbrausend wird der Mohr geschildert. Der Walzer ist parodistisch den „Stei rischen Tänzen" von Josef Lanner nachgebildet. Das bunte Jahrmarktstreiben ist durch eine flirrende, turbulente Musik stimmungsvoll wiedergegeben. Russische Volkslied- bzw. Volkstanzthemen prägen den Tanz der Ammen und der Kutscher. Ihre Melodien vermischen sich im Jahrmarktswirbel, bei dem auch Masken aufzüge nicht fehlen. Am Schluß intoniert die Trompete ein letztes Mal — wie im „Till Eulenspiegel" von Richard Strauss — das „neckende" Thema des Helden. „Ich wollte, daß der Trompetendialog in zwei Tonalitäten am Schluß zeigt, daß Petruschkas Geist immer noch protestiert . . . Auf diese letzten Seiten war ich und bin ich noch jetzt stolz, mehr als auf irgendwelche andere Stellen der Partitur", bekannte Strawinsky. ohilhamnonie Programmblätter der Dresdner Philharmonie — Spielzeit 1970 71 — Chefdirigent: Kurt Masur Redaktion: Dr. Dieter Härtwig Die Einführung in die Haydn-Sinfonie schrieb J. P. Thilman Druck: veb polydruck Werk 3 - 111-25-12 3,2 ItG 009-99-70 3. PHILHARMONISCHES KONZERT 1970/71