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Voigtländischer Anzeiger. Fünfimdsechszigster Jahrgang. P e r a n t w o r t l t ch e R e d a c t i o n: vr. G. 2 a h N. Druck und Verlag von Moritz Wieprecht tn Plauen. Jährlicher AbonnementSpretS für dieses Blatt, auch bet Beziehung durch die Post, 1 Thlr. 6 Ngr. — Die JnsertiottSgebühreu t werden mit 1 Ngr. für die gespaltene Corpus »Zeile berechnet, größere Schrift nach Verhältnis des Raumes. — Donnerstag. 48« 20. April 1854. Zur morgenländischen Frage. 1. Der „kranke Mann/' Bekanntlich hat der Kaiser von Rußland in seinen Ge. sprächen mit dem englischen Gesandten in Petersburg, Seymour, die Türkei einen „kranken Mann" genannt. Das will so viel sagen, als daß das türkische Reich, der türkische Staat so darnieder sei, daß derselbe als Staatswesen, als selbststän. diges Ganze nicht lange mehr werde bestehen können. Wenn wir Privatleute dann und wann über Zustände eines Staates ein Urtheil fällen, die Zukunft desselben be sprechen rc., so ist das in der Regel nichts weiter, als po litische Kannengießerei. Es fehlen unS da meist gründliche Kenntnisse über das Wes.n eines Staates überhaupt und des besprochenen insbesondere. Es ist schon Jahrzehnte her, seit man meinte, die Türkei müsse auseinander fallen; aber man konnte keine schlagenden Beweise dafür bringen. Anders gestaltet sich die Behauptung, wenn ein Herr scher, wie der russische Kaiser ist, die Türkei für einen „kranken Mann*' erklärt. Da heißl's dann: „Denk' a Bissel darüber nach!" Denn solch' einem mächtigen Fürsten stehen alle und jegliche menschliche Mittel zu Gebote, über den Stand der Dinge in einem Staate sich die sichersten Nachrichten zu verschaffen. Wenn nun aber auch Ezaar Nikolaus die Glünde nicht angegeben hat, warum er den türkischen Staat einen baldigen Tod vorousfagt; wenn es auch sein kann, daß der Glaube an das, was man wünscht, etwas, vielleicht viel Einfluß auf sein Urtheil geübt haben mag; so lohnt es sich doch immerhin der Mühe, zu untersuchen, in wie weit er Recht haben mag. Denn wenn so ein Patient, wie die Türkei ist, abscheidet, gehen noch viel größere Veränderungen im Wellleben vor sich, als sie von dem Hintritle eines be deutenden Mannes, wie bekannt, unzertrennlich sind, abgesehen davon, daß, wo ein Aas ist, sich Geyer finden, d. h. wo ein Staat aus dem Leime geht, wie es z. B. im vorigen Jahrhundert mit Polen der Fall war, eroberungs- und erb, schaftslustige Nachbarn sich finden. Es könnte freilich Einer meinen: was gehts uns im Voigt, lande, in Sachsen und Deutschland an, ob der türkische Staat tobtkrank oder kerngesund ist, ob er noch Jahrhunderte lebt oder 1854 stirbt? Solch einem Frager können wir in Bezug auf unser Voigtland vorläufig nur die Gegenfrage stellen: Jsts einerlei, ob unsere Stickereien und baumwollenen Waaren einen großen, weiten, over engen, beschränkten Markt haben? Die Frage selbst dürste ein andermal beantwortet werden; wer aber unsere Gegenfrage versteht, wird auch die Wichtigkeit erkennen, welche die Türkei fürs Voigtland und Sachsen hat. Also: Ist die Türkei wirklich ein „kranker Mann?" Frei, lich stehen uns die Quellen nicht zu Gebote, aus denen der russische Kaiser die, wie es scheint, seine Ueberzcugung zu: Ja! stimmenden Gründe schöpfte; indessen vermögen wir doch aus so manchen, allgemein bekannten Unterlagen einige Schlußfolgerungen zu ziehen, deren Richtigkeit nicht abzu- läugnen sein dürfte. Wenn der Satz richtig ist, daß ein menschlicher Körper so lange für gesund zu halten sei, als alle seine Werkzeuge und Theile ihren Verrichtungen Nachkommen, so läßt sich dieß auch auf einen Slaatskörper anwenden. Von der Spitze des Staates an biß herab zum Geringsten muß Jeder seine Schuldigkeit thun, dann befindet sich ein Staat wohl und ist gesund. Wie stehtS nun hierin mit der Türkei? Der jetzige Sultan wird allgemein als ein wohlwollender, das Beste seiner Völker erstrebender Fürst geschildert. Aber eben so allgemein wird die allerdings durch viele Thatsachen un terstützte Behauptung ausgesprochen, daß er nicht im Stande sei, seinen Befehlen in seinem weiten Reiche Geltung zu verschaffen. Wenn aber die Anordnungen des Staatsober hauptes nicht überall und pünktlich befolgt werden, dann ist wohl der Staat selbst nicht gesund. Die Zusammensetzung, das Wesen und der Organismus des türkischen Staates erklären dieß und liefern zugleich weitere Beweise für die Ansicht des Czaaren. Der türkische Staat, über drei Erdtheile verbreitet, bildet ein Aneinander- gehängsel der verschiedensten Völker, Volksstämme, Religionen, Sprachen» Länder und Sitten. Wer wollte sie alle aufzäh len die Volker und Volksstämme, die in. und durcheinander, gemischt nur in der europäischen Türkei Hausen? In dieser allein wohnen etwa 12 Millionen Walachen, Bulgaren, Grie, eben, Arnauten» Bosniaken, Serben, Armenier, Juden, Zigeuner rc., über weiche etwa 2z Million Türken herrschen» die Beherrschten als Giaurs (Hunde und Ungläubige) ver. achten und von diesen meistens gründlich gehaßt werben. Und von diesen unterdrückten und von den Türken meist schlecht behandelten Stämmen gehören einige der römisch katholischen, andere der griechisch-morgenländischen Kirche (deren Oberhaupt der Patriarch zu Eonstantinopel ist), andere der griechisch, russischen (deren Oberhaupt der Ezaar ist), andere der griechisch, unirten oder vereinigten Kirche), die mit einigen Unterscheid