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Staatsan?eiger für Erscheint Werktag» nachmittag» mit dem Datum de» Erscheinung»tage». Bezug»pret»: Monatlich 3 Mark. Einzelne Nummern 1b Pf. Fernsprecher: Geschäftsstelle Nr. 21295 — Schriftleitung Nr. 14574 Postscheckkonto Dresden Nr. 2486. — Stadtgirokonto Dresden Nr. 140. den Zreiftaat Sachsen Ankündigungen: Die 32 mm breite Grundzeile oder deren Raum 30 Pf, die 66 mm breite Grundzeile oder deren Raum im amtlichen Teile 60 Pf., unter Ein gesandt 90 Pf. Ermäßigung auf GeschäftSanzeigen, Familiennachrichten u. Stellen gesuche. — Schluß der Annahme vormittags 10 Uhr. Zeitweise Nebenblätter: Landtags-Beilage, Verkaufsliste von Holzpflanzen auf den Staatsforstrevieren. Verantwortlich für die Redaktion: I. B.: Oberregierungsrat Hans Block in Dresden. Nr. 251 Dresden, Dienstag, 27. Oktober jl925 Reichstags Auslösung? Berlin, 26. Oktober. Taß der gegenwärtige Reichstag trotz des Ausscheidens der Teutschnationalcn den Ver trag von Locarno genehmigen wird, kann nach den Stimmen der Presse deS Zen trums, der Demokraten und der Sozial demokraten nicht gut angenommen wer den. Tenn auS allen drei Parteien liegen, wenn auch noch nicht Beschlüsse, sondern doch be merkenswerte Meinungsäußerungen vor, daß diese Parteien nicht daran denken werden, die Verantwortung für den Loearnovertrag den Deutschnationalen adjiinehmrn und auch ohne sie die Ratifi kation des Vertrages auSzusprechen. Infolgedessen wird in allen Parteien schon sehr stark mit einer Auslösung deSReichs- tages gerechnet. Sollte das Kabinett Luther in der einen oder der anderen Weise ergänzt im Amte bleibe«, so hätte eS Wohl die Möglichkeit, zu dem in Locarno vereinbarten Dermin An sang Dezember den Vertrag von Lo carno zu unterzeichnen und erst danach den Reichstag zur Vornahme der Ratifizie rung zu befragen. Eine vorherige Be schlußfassung des Reichstages, die daS Ka binett zu, Unterzeichnung bevollmächtige» wurde, wäre nicht erforderlich. Die Snscheidung dcS Reichstages liegt bci der Beschlußfassung über die Ratifizierung. Tie Auslösung des Reichstages braucht also die Unterzeich nung oes Vertrages nicht auszuhalte». Der späteste Dermin für die Neuwahlen ist mit 6« Lagen »ach der Aulvsung vcr- sassungsmäßig festgesetzt. Der ZMfamme», tritt deS ucuen Reichstages müßte spätesten» SN Lage nach der Wahl erfolgen. Selbst verständlich würden in diesem Falle die Fristen nach Möglichkeit abgekürzt werden, sodaß eS nicht ausgeschlossen erscheint, daß der neue Reichstag, falls überhaupt aufgelöst wird, noch vor Weihnachten zusammen tritt. * Beschluß dcs Neichslabinetts. Berlin, 26. Oktover. Tas Reichskabinett hat seine heute mittag begonnencn Beratungen am Abend fortgesetzt und ist zu folgender Stellungnahme gelangt: Tas Reichskabinett betrachtet etz als feine selbstverständliche politische Pflicht, auf dem in Locarno begonnrnen Wege sortzuschreiten, um dem Reichstag recht zeitig vor dem 1. Dezember, dem rage, der für die Zeichnung deS in Locarno paraphierten Ver trages vorgesehen ist, ein Gesamtergebnis zur Beschlußfassung unterbreiten zu können. Aus dieser Erwägung erachtet eS das Reichs- kabinett für geboten, von einer Demission abzusehe« und die ReichSgeschäfte »eiterzu führen. Der Reichskanzler, der im Laufe deS Nachmittags Vertreter der RetchStagS- sraktione« empfangen hatte, hat dem Herrn »eichSpräsidenten über dir politische Lage Bortrag erstattet und zugleich seine Vor schläge wegen der zukünftige« Gestaltung des ReichSkabinettS unterbreitet. Der Herr Reichspräsident hat die Entlassung», gesucht der Herren Reichsminister Nen- Haus, Schiele und v. Schliebe« genehmigt mW hat, unter Billigung der Aortsüh- ruug der «etchsges chä ste durch da» jetzige Kabinett, mit der Wahrnehmung der Geschäft« de» Reichsminister» der Finanzen den «etchSkanzler vr. Lnther, de» Reich». Minister de» Innern de» Reichswehr. Minister vr. Geßler und deS Reichs. wirtsch,st»«t»isterS de» RetchSver» kehr»«t»tster vr. »roh»« b«anstra,t. * Tie Stellung der Parteien. Berlin, 27. Oktober. über die gestrigen Besprechungen de» Reichskanzlers mit den Führten der Reichstagsparteien melden die Blätter, daß Bolkspartei und Zentrum gewillt seien, unter allen Umständen den Kanzler zu ünter stützen, um das Werk vonLocarno nicht zu gefährden. Der Vertreter der Demokraten, Reichs minister a. D. Koch, betonte laut „B. T.", daß die Demokraten selbstverständlich nicht eine Außenpolitik desavouieren wollen, die in ihrer Linie liege. Sie müßten es aber ab lehnen, gegenwärtig als bloße Lückenbüßer zu dienen. Die Verantwortung für die gegenwärtige Politik oder gar die Bete iligung an der Reichsregierung käme nur in Frage, wenn ausreichende Garantien dafür gegeben würden, daß eine Wiederholung der augenblicklichen Situation unmöglich gemacht werde. Die Führer der Sozialdemokraten wiesen dem „Vorwärts" zufolge darauf hin, daß eipe definitive Stellung der Sozialdemokraten erst nach der Sitzung des für Mittwoch einberufenen Vorstandes der Reichstag?- fraktion erfolgen könne. Sie ließen jeooch keinen Zweifel an ihrer Auffassung, daß die Sozialdemokratie nicht daran denken könne, die Deutschnationalen der Verant wortung in diesem Reichstage zu enk- heben. Wenn die Deutschnationalen den Ver ¬ trag ablehnten, dann würde nur übrigbleiben, den Reichstag aufzulösen und das Volk selbst entscheiden zu lassen. Vorher erklärte der Reichskanzler noch, daß die Regierung zur Ratifikation des Vertrages Stellung nehmen und die Entscheidung des Reichs tages herbeiführen werde, sobald sich die endgültige Gestaltung der sogenannten Rückwirkungen des Vertrages von Lo carno übersehen ließe. Eine frühere Ein berufung des Reichstages, als sie vorgesehen ist, hält der Reichskanzler nicht für angebracht, um in der Zw schenzeit die Rückwirkungen abwarten zu können. * * * Ter S. P. D. Dienst schreibt: In einem Teil der demokratischenPresse wird für die Bildung der Großen Koalition als Ausweg aus der jetzigen politischen Situa tion Stimmung gemacht. Da bei der Sozial demokratie nicht die geringste Neigung zu einer derartigen Koalition herrscht, muß der Vorschlag der demokratischen Presse von vorn herein als erledigt betrachtet werden. * Berlin, 26. Oktober. Die Leitung der Demokratischen Partei hat sich mit dem Reichswehrminister vr. Geßler Die Berliner SlMverordnetenwahlen. Das Endergebnis. Berlin, 26. Oktober. Zahl der Wahlberechtigten 2 935908, abgegebene Wahlscheine 124, Zahl der ungültigen Stimmen 16657, Zahl der gültigen Stimmen 1853115, Wahlquotient 8236. Gültige Stimmen erhielten Sozialdemokratische Partei 604704, Deutschnationale 385 326, Deutsche Volks partei 111 432, Kommunisten 347382, De mokraten 171961, Deutsche Wirtschafts partei 73264, Zentrum 63265, Unab hängige Sozialdemokraten 14608, Deutsch völkische Freiheitspartei 27534, Deutsch soziale Partei 25200, Evangelischer Gemein schaftsbund 17161, Arbeiterpartei 627, Deutsch- nationaler Bund der Hauswirte 147, Sparerbund 4101, Nationalliberale Rcichspartei 1309, Deutsche Mittclstandspartei 2479, Deutsche Arbeitnehmer partei 554, Nationalwirtschafiliche Vereinigung 648, Entschiedene Demokraten 164, Partei für Mieter schutz und Bodenreform 1249. Die Berliner Pre^e zum Ergebnis. Sämtliche Abendblätter sprechen in ihren Kommentaren zu den Berliner Stadtverordneten- Wahlen von einem Ruck nach links. Der „Berliner Lokalanzeigcr" sagt: Die bürgerlichen Parteien kehren ge- schwächt in die Stadtverordnetenversammlung zurück. Das Zünglein der Wage hat sich abermals zugunsten der drei marxistischen Parteien gesenkt und cs gilt nun, der neuen Lage ohne jeden Versuch der Selbsttäuschung oder Beschönigung ins Auge zu sehen. Die „Tägliche Rundschau" führt die Niederlage des Berliner Bürger tums auf die Wahlträgheit zurück, da nur 60 Prozent der Wahlberechtigten gestern ihre Stimmen abgegeben hätten. Die „Germania" betont, daß das Zentrum trotz der großen Be wegung, die der Austritt vr. Wirths aus der Reichstagsfraktion in der Zentrumswählerschaft hervorgerusen hat, seinen Besitzstand im großen und ganzen behauptet habe. Die auf Grund der Berliner Wahlen im Stadt parlament geschaffene Lage bezeichnet das „Berliner Tageblatt" als vorläufig völlig undurchsichtig. Die Wahrscheinlichkeit spreche dafür, daß wechselnde Mehrheiten, bei denen es auf wenige Stimmen ankommen werde, die Entscheidung treffen werden. Auch der „vorwärts" erklärt, daß, wenn in der Bettiner Stadtverordnetenversammlung nun auch eine unzweifelhafte Arbeitermajorität bestehe, es doch bei dem Charakter der kom munistischen Partei mehr als fraglich sei, ob sie arbeitsfähig sein wird. Jedenfalls habe die Sozialdemokratie das größte Interesse daran, auch die Kommunisten zu praktischer Ge meindearbeit heranzuziehen. * * * Die Ltimmenbcwegung. Berlin, 26. Oktober. Ter S.P.D.-Ticnst schreibt in cmer Wahl betrachtung u. a.: . . . Am schärfsten ist er (der Stimmenrück, gang. D. Red.) bei den Rechtsparteien. Die Deutschvölkischen verlieren gegenüber der Dez cm der wähl 43 Proz., die Deutsch, nationalen 33 Proz., und die Deutsche Volkspartei 30 Proz., wobei man berücksichtigen muß, daß die Deutsche Volkspartei schon im De zember einen katastrophalen Rückgang aufzuweisen hatte. Noch im Mai 1924 waren die Deutsch nationalen in Berlin die stärkste Partei und batten rund 50000 Stimmen mehr als die Sozialdemokratie. Heute sind sie von der Sozialdemokratie beinahe wieder um die Hälfte überflügelt. Sie zählen nur noch rund 20 Proz. der abgegebenen Stimmen für sich. Tie neue Stadt ero diictenversammlung spiegelt die soziale Struktur der Bevölkerung niit dem starken Überwiegen der Arbeiterschaft bereits viel deutlicher wider, als das vor vier Jahren der Fall war. Im Mai 1924 brachten die Arbeiterparteien 40 Proz. aller Stim men auf. Im Dezember 47 Proz. und bei der jetzigen Stadtverordnetenwahl 53 Proz. Diese Rückbildung ist in erster Linie auf den Wieder- anstieg der Sozialdemokratie zu setzen. Verhältnismäßig günstig, in Berlin sogar über das eigene Erwarten günstig, haben die Kom munisten abgeschnitten. Der katastrophale Rück gang, der ihnen vom Mai 1924 bis zum Dezember einen Verlust von beinahe 2 Millionen Stimmen einbrachte, ist bei diesen Wahlen zu einem ge wissen Stillstand gekommen. Dazu mag zu einem Teil die Illusion beigetragen haben, als ob die Kommunisten bereit wären, in Zukunft eine „vernünftige Politik" zu treiben, eine Illusion, die die kommunistischen Führer am allerwenigsten teilen. Anderseits ist der Stillstand der kommunistischen Rückwärtsbewegung sicher auf die steigende wirt schaftliche Rot, auf die anwachsende Arbeitslosig- keit zurückzuführen und auch darauf, daß ein Teil radikalisierter Massen von den Völkischen und Deutschnattonalen zunächst -u ihuen »urückwandert. in Verbindung gesetzt und gedenkt danach ihre Entscheidungen zu treffen. Für Dienstag nachmittag hat die Deutsche Volkspartei eine Fraktionssitzung anbe raumt, die jedoch nicht erst durch die Regierungs krise veranlaßt ist, sondern schon seit einigen Tagen zur Besprechung des Vertrages von Lo carno festgesetzt war. Der Vorstand der sozialdemokrati schen Fraktion wird am Mittwoch nachmittags eine Sitzung abhalten. * Stresemann über die Lage. Kopenhagen, 26. Oktober. Der Berliner Korrespondent des „ Politiken " hat am Sonntag nachmittag nach dem Rücktritt der deutschnationalen Minister eine Unterredung mit dem Reichsaußenminister. Strese mann erklärte wiederholt und kategorisch, daß der „Vertrag von Locarno" auf jeden Fall von Deutschland ratifiziert werde. Selbst wenn der gegenwärtige Reichstag den Vertrag nicht annehmen sollte, würde die Regierung Luther-Stresemann am 1.De- zember unterzeichnen. Man würde in diesem Falle neu wählen lassen und dann würde der neue Reichstag den Vertrag ge nehmigen. Der Minister glaubt überdies, daß die sozialdemokratische Erklärung, nm für Locarno zu stimmen, wenn auch die Deutsch- nationalen dafür sind, nur solange gilt, als die Deutschnationalen in der Reichs regierung wären. Er meint, daß mit dem Austritt der Deutschnationalen der sozialdemo- kratischeWiderstand erledigt ist. Er deutete schließlich an, daß er infolgedessen den Austritt der deutschnationalen Minister völlig kühl nehme, da er der Sozialdemokratie für seine Außenpolitik sicher ist. * Ter S.P.P.-Dienst wendet sich gegen diese letztere Auffassung und schreibt: In den letzten Tagen haben wir wiederholt erklärt, daß sich die Sozialdemokratie nicht zum Büttel der deutsch nationalen Verantwortungsscheu machen läßt und wenn Herr Stresemann bisher an dem Ernst dieser wohlbegründeten Auffassung gezweifelt hat, dann sollten ihn die Erklärungen der sozial demokratischen Parteiführer gegenüber dem Reichskanzler Luther endgültig überzeugen, daß er sich wieder einmal auf einem Irrweg befindet. * Bayerische Stimmen. München, 26. Oktober. Mit Ausnahme des deutschnationalen Partei- blattes wird hier die Entscheidung der Deutsch nationalen von den bürgerlichen Blättern ent schieden verurteilt. Das Organ der bayerischen Regierung, die „Staats zeitung", spricht von einer gewagten Politik, „weil sie durch das Herbeiführen einer Regierungskrise im gegenwärtigen Augenblick die leisen Anfänge zu eine r Konsoli dierung der enropäischen Lage, die durch den Sicherheitspakt und die Verhandlungen von Locarno zweifellos herbeigeführt wurden, wieder vernichtet und damit die ganze Welt, nicht nur die Alliierten, zu neuem Mißtrauen Deutschland gegenüber nötigten. Nicht minder gewagt ist eS, wenn man in einer Zeit, in der die Wirtschaftskrise auf das höchste gestiegen ist und die Teuerung die Massen leb- Haft bewege, die Regierung womöglich in die Zwangslage versetze, Neuwahlen auSzu- schreiben." Außerordentliche Erregung entstand auf dem gerade zu seiner Schlußsitzung versammelten Landesparteitag der Deutschen Volks- Partei. Sie äußerte sich in der Erklärung, daß die Haltung der Deutschnationalen „einen neuen Dolchstoß in den Rücken des deutschen Volke»" darstelle, ein Urteil, da» sich der ganze Parteitag unter Anwesenheit de» Staatssekretär» Kempke und des Abgeordnete» Geheimrat Kahl zu eigen machte.