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Weg von der 1. zur 2. Sinfonie überblickt, so wird die augenfällige Entwicklung Bruckners deutlich. Einige Dinge sind es, die in der 2. Sinfonie erstmalig auf treten: Zunächst sei auf die schwebende Atmosphäre des Beginns des ersten Satzes hingewiesen. Bedeutsam ist auch die Tatsache, daß der Choral einen wichtigen Platz im Gesamtaufbau einnimmt (besonders ausgeprägt im Finalsatz). Ferner macht sich der Wille zur zyklischen Abrundung nachdrücklich bemerkbar, das Hauptthema des ersten Satzes kehrt im Finale in formbildender Eigenschaft wieder. Zu diesen Abweichungen vom klassischen Sinfonieschema kommt als letztes Moment die Auseinandersetzung mit der Pause (deren mißverstandene Verwendung der Sinfonie den Beinamen „Pausensinfonie" eintrug). Bruckner wurde zum Neuentdecker und -erwecker der Pause, die hinter der tönenden Musik ihre Stille vernehmbar machen soll. Gleich zu Beginn des ersten Satzes erscheint das Hauptthema der Sinfonie, eine sehr lyrische und ausgewogene Melodie. Zwei weitere Themen, die immer noch der Grundstimmung verhaftet bleiben, schließen sich an. Aus dem dritten Thema erwächst gemäß Bruckners gestalterischer Eigenart — Verbindung von sinfonischer Entwicklung und konzertanter Ausbreitung — eine kammermusikalische Zwischen episode gelockerter polyphoner Formgebung. Nach der Durchführung, in der die Auseinanderstzung mit den Themen erfolgt, leitet ein Takt Generalpause die Reprise ein. Die Reprise, in der die einzelnen Themen nach klassischem Muster noch einmal mit leichten Abwandlungen erscheinen, offenbart ein typisch Bruck- nersches Prinzip, nämlich die Bereicherung der Grundsubstanz mit neuen melo dischen Ausdruckszügen. Es schließt sich eine dreifach gegliederte Coda an, in der die thematische Substanz aufgegriffen und aufgelöst wird. Der zweite Satz, ein feierlich bewegtes Adagio, ist formal eine Verschmelzung von klassischer Bauart mit durchführungsartigen Aufschwüngen und jenem vom Komponisten bevorzugten Variationsprinzip im Sinne figuraler Bereicherung. Der Ausdruckscharakter steigert sich von hymnischer Grundstimmung bis zur Weihe eines Chorals. Das zeigen die beiden Themen, die miteinander in Wechselbe ziehung treten. Das erste, in reinem Streicherklang, ist lyrisch gehalten, das zweite ein feierlicher Choral. Ein rhythmisch markantes, melodisch scharf umrissenes Motiv führt das Scherzo ein. Nach der Exposition wird durch Flöten und Hörner ein Ländler angedeutet. Das Trio des Scherzos erinnert an den Beginn des ersten Satzes, nur daß hier das Thema heitere Fröhlichkeit atmet. Das ungewöhnlich breit angelegte und außerordentlich vielgestaltig entwickelte Finale zeigt als hervorstechendes Merkmal die zyklische Abrundung. Dies betrifft das Wiederaufnehmen des Hauptthemas aus dem ersten Satz, das sofort nach einer bis zu einem großen Höhepunkr gelangenden Einleitung erscheint. Das zweite Thema schließt sich kurz darauf an, worauf wieder das Finalhauptthema erklingt. Die eigentümliche Rückbeziehung der einzelnen Themengruppen auf Vorhergegangenes ist ein besonderes Kennzeichen der formalen Entwicklung innerhalb dieses Satzes. Nach einer großen Steigerung, die den ganzen bisheri gen Entwicklungsgang der Exposition zusammenfaßt, folgen fast drei volle Takte Generalpause. Was sich nun anschließt, hat sich weit von dem Vorhergegange nen entfernt, es ist ein weitgeschwungener Choral. Die Durchführung nimmt Bezug auf das Finalhauptthema und das zweite Thema des Satzes. Die Themen erscheinen in vielfältigen Verarbeitungen und mit reichen Umspielungen. Noch einmal ertönt in der ausgedehnten Coda das Finalhauptthema. 806 Dresden, Alaunstr. 36-40 Nächstes Konzert: Donnerstag, 22. Mai 1975 mit Reinhold Ändert, Berlin und der Gruppe „Toast", Dresden Preis des Programmheftes: -,30 M III 9/92 JtG 059 10 75