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Mittwoch den 1. März 1011 Nr. SO — IO. Jahrgang Erscheint täglich nachm, mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. An-gabe 4 mit .Die Zeit in Wort und Bild" vierteljäbrlich il.lv In Dresden durch Boten S,4V -6. In ganz Deutschland frei Haus «KL in Oesterreich 4,4« L An*g«be v ohne illustrierte Beilage viertel'Shrlich 1,80 4t. An Dresden durch Boten L.lv In ganz Deutschland sret Haus »SS in Oesterreich 4,07 X. - einzel-Nr. I« 4. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserate werde» die Ngespaltene Petitzeile oder deren Raum mit lü 4, Reklamen mit SV 4 die Zeile berechnet, bei Wiederholungen eulsprecheiide» Rubult. Bnchdrmkerei, Redaktion und Geschäftsstelle! Dresden, Pillnitzer Strafte 4«. — Fernsprecher lttv« AürRiiikgabe unverlangt. Echriftstürkekeineiverbindlichkrtt RedaktiouS Sprcchslunoe: ll bis l!i Uhr. Kaktee-Oenuv ist teuer, wertlos, gesuncllieitZsctiäcligenii. Kakao-Oenuli ist dillix, Hrortvo» kür LrnLlirun^ unä Oesuncllieit, woiilsclimeckeiicl unä deltümmlick. Wir empkelllen unsere Sperlalsorteo ru 80. IVO, 120, 140—200 pfg. per pkunä. Oerlinx L kockstroii, vresäen. dlieckerlsgen in allen Stadtteilen. Für ven Monut März abonniert man aus die „Sächsische Bslkszeitung" mit der täglichen Roman beilage sowie der wöchentlich erscheinenden Beilage „Feierabend" zum Preise von 00 Pfg. (ohne Bestellgeld), durch den Bolen mS HauS 70 Pfg. Bezugspreis auf die Ausgabe ^ mtl der illustrierten Unterhaltungsbeilage „Die Zeit in Wort und Bild" erhöht sich monatlich um 10 Pf. 4 Aschermittwoch. Alles ist Staub. „Alles Fleisch ist Heu." Auch die hochthronende Sonne bringt Vergänglichkeit zu Fall. „O Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit!" So klagte Erdenweisheit, als ihr schlug .die Stunde der großen Ver achtung". In volkstümlicher Sprack-e, reichen Bildern und Sym bolen, redet die Kirche mit den Seelen. „Die unvergleich liche Erzieherin der Charaktere" hat Jules Payot sie ge nannt. Wie sehr verdient sie diesen Ehrentitel! „Nur das ist die wahre Religion, die unsere wahre Natur erkanirt hat," sagt Pascal. Sagt er es mit Recht, dann laßt uns die Hand küssen, die heute Asche streut auf unser Haupt. Kirche Christi, wir grüßen dich mit heiligem Gruße! Auch wenn du als ernster Bußprediger vor uns stehst, wenn streng du forderst und gebietest — wir grüßen dich! Tausend Hände möchten uns fortreißen von deiner Liebe, von der Fülle deines Lebens. In der großen Passion dieses Jahrhunderts, wo viele dir untreu werden, drängen wir uns dichter zu dir, geloben wir wie einst ain weißen Tage der ersten heiligen Kommunion: Dir leben, dir sterben wir! Und wenn „der Mann der Schmerzen" unsere Wege kreuzt, uns ansieht mit den „Augen der Ewigkeitstiefe", zu uns sprechen will mit bleichem Munde, so wollen wir, ihm zuvorkommend, rufen: Mit dir Wachen und beten wir, Herr Jesus Christi „Kreuzige ihn!" schrien die Juden. Waren sie grau samer als „die Modernen", die auf ihn Hetzen die Hunde eines alles verneinenden kritischen Verstandes? Verloren haben sie die innerste Seele und das Wesen der Welt religion. Von Kultur, Fortschritt, Wissenschaft, Reichtum, Lebenslust reden sie gern, als ob der ewige Richter fragen würde: „Was hast du in der Technik, in der Philosophie geleistet? Hast du gut gedichtet? Hast du flott getanzt, dich amüsiert?" — Nein, so kann der nicht fragen, der uns das „eine Notwendige" gezeigt hat. Alles ist Eitelkeit, Staub und Asche, Menschenkultur oder Götzendienst der Ver nunft. Am Brotbrechen, an Kreuz und Dornenkrone, an Liebe, Demut und Geduld erkennen wir das Christentum Jesu Christi. Möchte die heilige Fastenzeit, diese weihevollen Tage stiller Einkehr, für manche Um- und Rückkehr sein! Keiner sollte fehlen, wenn um die Fahne der Kirche die Blitze zucken geistiger Verfolgung! Wie eine Mauer stehe das christliche Heer! „Wenn im Mittelalter der Priester am Altäre das Evangelium verkündete, entblößten die Ritter das Schwert und vernahmen in dieser kriegerischen Haltung das süße Wort Jesu Christi," schreibt Lacordaire. „Die Waffe ist bereit." so fährt der große Kanzelredner fort, „nicht um den Glauben aufzuzwingen, sondern um die Freiheit desselben zu sichern." — Katholiken! Waffen bereit! Schwert aus der Scheide! „Vexilla ragis prockennt! Des Königs Banner wallt hervor!" Was wir jetzt betrachten in der ergreifenden Schön heit heiliger Geschichte, was Jahrtausende hinter uns liegt, zu uns herüber dämmert wie die matten Linien eines fernen gewaltigen Gebirges — im Grunde ist es immer Gegenwart und Wirklichkeit, wiederholt sich immer das selbe erhabene und tragische Schauspiel. Wem einmal der Blick für diese Wahrheit aufgegangen ist, dem erscheint das Leben in einem anderen Lichte, dem durchweht tiefer Ernst die Seele, und es ist ihm, als hörte er im Lärm des Marktes und im Kampf der Meinungen den überirdischen Klang einer göttlichen Stimme. Die Kirche steht in heißem Streite. Sie, die so viele Feste feiert, scheint nie Fest- und Ruhetag zu haben, stets scheint die düstere Wolke des Aschermittwochs über ihrer Kuppel zu lagern. Aber cs scheint nur so! Die, welche schärfer spähen, sehen den glimmenden Frühschein des Ostermorgens, fühlen das Nahen des himmlischen Lenzes und jener Seligkeit, die kein Ende hat. 8. Politische Rundschau. Drei den, den 28. Februar 1911. — Im Reichstage ging am Montag die General- debatte zum Militäretat endlich zu Ende. Zunächst gab der Abg. Gröber eine eingehende Würdigung der Ehren- gerichtsvorschrifie» ab und gab eine Reihe bedeutsanier Anregungen. Er forderte dann volle Gleichberechtigung für alle Konfessionen gemäß dem ParitätSgeietz von 1869. Der nationallib. Abg. Osa. n trat sür Zulassung der Juden ein und war so national, daß e« selbst dem folgenden „BundeSbruder" Schöpfst» (Sd.) zu bunt war und er den Nationalliberalen schaife Vorwürfe machte. Er behandelte dann die Soldatenmißhandlungen eingehend. Kc-psch (Vpt.) sollte dann eine Abrechnung mit den Antisemiten holten, aber sie fiel ungem.ein schwach auS; der Redner trug im höchsten Brustton der Überzeugung allerlei Gemeinplätze vor, das dem Hause eine bester« Stunde bereitete. Kriegs- minister v. Heertnge«, der sich immer mehr zu einem temperamentvollen Redner entwickelt, rechnete dann scharf mit der roten Agitation gegen die Rekruten und die Armee ab und fand lebhaften Beifall. Zum Schluß gab es noch- mal« ein Judenduett. Dann erhielt der KricgSmiiiister seinen Gehalt genehmigt. — Im preußischen Abgeordnetenhaus! wurde mit der Beratung des HandelsetntS begonnen. — Gegen UuterstaatSsekrrtSr Böhmer im Reich*- kolouialamt verbreitet die „Tägl. Rundschau" eine faustdicke Unwahrheit. Sie schreibt: „Den Höhepunkt seiner parlamentarischen Machtsnt- faltung hat das Zentrum erreicht, wenn auch Herr Unter staatssekretär Böhmer, als er jüngst sein Amt antrat, diese parlamentarische Diktatur noch so hoch ein>chätzte, daß er zunächst Herrn Erzberger in einem Briese um sein gnädige* Wohlwollen bat. So weit sind wir wieder gekommen, daß hohe Beamte bet Uebernahme eine» hohen LtaatS- amleS sich nicht zunächst scagen: „Wie erfülle ich meine Pflicht und wie diene ich dem Kaiser und dem Reiche am besten, sondern wie erwerbe ich das Wohlwollen des Zentrum-f" Diese Behauptung ist, wie uns der Abgeordnete Erz berger mitteilt, vollständig aus den Fingern gesogen. Unterstaatssekretär Böhmer hat nie einen Brief dieses oder ähnlichen Inhalts an den Abgeordneten Erzberger gerichtet. Wie kann man nur solche ganz unzutreffenden Behaup tungen in die Welt setzen? Der „Tägl. Rundschau" scheint schon der eine Umstand zu genügen, daß Böhmer Katholik ist. um ihu als vogelfret anzusehcn. — Die Nordd. Aklg. Ztg. schreibt: Der Kriegsminister v. Heeringen hat im Laufe der Debatte über den Militär etat, als von anderer Seite die Rede auf die französische Fremdenlegion gebracht worden war. mit berechtigter Schärfe seiner Entrüstung über diejenigen deutschen Blätter Aus druck gegeben, die für diese bekanntlich zum großen Teile aus deutschen Fahnenflüchtigen bestehende Truppe Reklame machen. Nicht nur der preußische Kriegsminister, sondern auch jeder gute Deutsche wird über ei» solches unpatrto- tisches Geboren entrüstet sein. Der Temps und einige französische Blätter haben sich bemüßigt gesunden, den General v. Heeringen wegen seiner Worte anzugretsen und dabei von Beleidigungen der französischen Armee gefabelt. Wir müssen diese Vorwürfe auf da« entschiedenste zurück- weiseil und möchten den Temps daran erinnern, daß die Act der Rekrutierung für die Fremdenlegion und die sich daraus ergebenden Folgen wiederholt die Oeffentstchkeit in einer Weise beschäftigt haben, die nicht geeignet war. die Sympathien der gesitteten Welt zu erwecken. — Als die österreichische Re-imrut-kapelle des Jnsan- terieregimentS Nr. *2 (Theresienstadt) im Berliner kaiser lichen Schlosse bei dem Konzert vor dem deutschen Kaiser- Paare den Radetzkymarsch spielte, erhob sich Kaiser Wilhelm von der Tafel. Seinem Beispiel folgte die Hofgesellschaft. Stehend hörte der Kaiser den Nadetzkymarsch bis zu Ende an. Am Ende des Konzertes trat das Kaiserpaar auf die Kapelle zu und sprach Kapellmeister Heyda und seinen Soldaten besondere Anerkennung für ihre überaus vorzüglichen Leistungen aus. Der Kaiser sagte, besonder» gefallen habe ihm der Vortrag der 13. Rhapsodie von Liszt. Er hätte nie geglaubt, daß diese Rhapsodie von einer Mtlliärmustk so glänzend vorgetragen werden könne. - Die Ersatzwahl in Landau-Jmmrnstadt hat daS allgemein erwartete Resultat gebracht: Stichwahl zwischen Zentrum und Liberalen, wie es seit einer Reihe von Jahren hier der Fall war. Bei der Neichstagswahl im Jahre 1907 erhielt das Zentrum 12 019, die Liberalen 10 633, die Sozialdemokraten 1999 Stimmen. In der Stichwahl wurde dann mit 13 836 gegen 10 831 Stimmen der ZentrumS- kandidat gewählt, da die Sozialdemokraten damals für ihst stimmten. Das Zentrum kann mit diesem Resultat sehr! zufrieden sein: denn es hat sich trotz einer beispiellosen Agi tation der Gegner annähernd auf der alten Höhe gehalten^ Eine neue Lulherbiographie. Ein neues Werk über Luther mag vielleicht manchem als überflüssig erscheinen in einer Zeit, die bereits klagt über die Unübersehbarkeit der Lutherliteratur. „Heute," so meint der protestantische Forscher H. Böhmer, „würd eine vollständige Lutherbibliothek sicher mehr als 2000 Bände zählen müssen, die gelehrten und ungelehrten Auf- sätzs in Tageszeitungen, Wochenschriften, Monatsschriften nicht eingerechnet." (Luther im Lichte der neueren For schung S. 2.) Und dennoch bekennt derselbe Forscher, wie jeder Kenner der Dinge, eine allen Problemen gerecht wer denden Lutherbiographie besitzen wir noch nicht, so wenig wie ein richtiges Lutherporträt. Mit feinem Humor be merkt Böhmer: „In dem weitest verbreiteten der modernen „Idealbilder", dem Oeldruck „Luther in der Pelzschaube", der so viele Kirchen „ziert", würde selbst die Doktorissa Katharina, wenn sie des Anblickes sich erfreuen könnte, ihren Doktor nicht wiederzuerkennen vermögen" . . . „Eine ge nauere Prüfung der literarischen Lutherporträts liefert fast ganz dasselbe Ergebnis . . . auch diese literarischen Luther- Porträts sind sich untereinander, namentlich soweit sie für weitere Kreise berechnet sind, recht ähnlich, aber dem Ur bilds mehr oder weniger unähnlich. . Liebe und Haß, meint er, haben hier an der Darstellung eines Typus, nicht eines Porträts gearbeitet (S. 7). Wo der eigentliche Grund für diese unzureichenden Darstellungen zu suchen ist, wenigstens nach einer bestimm ten Seite.' hat der Protestant Braun allsgesprochen in den Worten, Luthers Leben „kann nicht geschrieben werden, so lange die Anfänge des Reformators, das Werden seiner weltbewegenden Sätze nicht anfgehellt sind. Wie wir hier noch im Dunkeln tasten, das beweisen hinsichtlich der Psycho logie die letzten Luthcrbiographien". An diesem Punkte nun setzt der erste Band des soeben im Herderschen Verlage erschienenen Lutherwerkes des Pater Grisar ein, der in durchaus vornehmer Sachlichkeit an das Problem herangeht und unbarmherzig alle Legen- den abschncidet, die von hüben und drüben sich um Luthers Person und Wirken angesetzt haben. Grisar geht dem Prozesse des inneren Abfalles nach, der bereits fertig war, als Luther gegen den Ablaßprediger Tetzel auftrat. Gerade aus den frühesten Schriften Luthers gilt es zu schöpfen. Und da kommen neben den Briefen in Betracht seine Erklärung der Psalmen, des Römerbriefes nebst den Predigten und Disputationen. Es ist kein „Da maskus", daS iin Kloster urplötzlich über den Mönch und Professor gekommen und ihn aus seiner Bahn gerissen hat, es ist ein allmähliches Werden, dessen erste Epoche im Jahre 1616 zum Abschlüsse kommt: „Der Römerbriefkommentar bedeutet tatsächlich die erste Konsolidierung der häretischen Meinungen Luthers. Schon von Aitfang an spricht er einzelne unverhohlen aus. Er hat offenbar während der Vorbereitung zu die sem Kollegium, im Sommer und Frllhherbst 1616, die Kri sis, die in ihm gärte, zur Entscheidung gebracht und mit Ueberwindung aller Bedenken zu dem entscheidenden Schritte sich entschlossen, vor dem Auditorium der Universi tät das Ergebnis seiner neuen, ganz subjektiven Auffassung vorzukragen" (S. 73). Der Endpunkt dieser Entwickelung ist dann die Leug nung der Willensfreiheit, die in der späteren Schrift „von dem verknechtetcn Willen" ihren Höhepunkt erreicht. Wer geneigt sein sollte, in Luthers Lebensführung den Schlüssel zu dieser Theologie zu suchen, möge das Wort Grisars be herzigen: „Weder der Kommentar zu den Psalmen noch der zuni Römerbriefe macht . . . den Eindruck von sittlicher Ver rottung des Verfassers. Ein Autor, der vor der eigenen Sinnlichkeit schlechthin kapituliert, würde schwerlich seinen niedrigen moralischen Standpunkt haben verbergen können; er würde Wohl eher versucht gewesen sein, an die epikureische ' Philosophie, an den Skeptizismus oder an dem im Schwange gehenden aufgeklärten Humanismus anzuknüpfen. Davon ist aber in den beiden letztgenannten Büchern nichts zu be merken" (S. 91). Vielmehr tritt darin eine falsche Mystik hervor, wie denn auch Luther in den vorhergehenden Jahren der Lektüre mystischer Schriften sich besonders hingegedcn hatte. woI nicht ohne tiefe Nachwirkung auf ihn geblieben ist: „Der Wirbel einer mystischen Welt treibt in ihm schon in den ersten Monaten alle Niederschläge von früher, jene gegen die Theologie und Kirchlichkeit seiner Zeit gerichteten Tendenzen, vom Grunde seiner Seele auf. Die Begeiste rung, mit der Luther von der „deutschen Theologie" und von Tanker spricht, zeigt, wie ein . . . protestantischer Theo loge (Hunzinger) sich äußert, „daß die Mystik deS Spät- Mittelalters wie ein Rausch über ihn gekommen ist . . . e- ist klar, daß hier ein Wendepunkt für Luthers Theologie, vorliegt" (S. 1-16). Aber es ist eine Ueberspannung der Anschauung Lei katholischen Mystiker, die Luther sich zuschulden komme« läßt, und daß es daher nicht angeht, die Mystik schlechthin*