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Dienstag, den Z. Avril 1928 Im Falle höherer Gewalt erlischt jede Verpflichtung auf Lieferung sowie Erfüllung v. Anzeigenaufträgen u. Leistung v. Schadenersatz. Für undeutl. u. d. Fern ruf übermitt. Anzeigen übernehmen wir keine Ver antwortung. Unverlangt eingesandte u. m. Rückporto nicht versehene Manuskripte werd. nicht aufbewahrt. Sprechstunde der Redaktion 2—3 Uhr nachmittags. Hauptschriftleiter: Dr. E. Desczyk, Dresden. Miaer 79 — 27. Zahrgavg «mal wöch. Bezugspreis für April 3,00 Mk. einschl. Bestellgeld. Anzeigenpreis«: Die Igesp. Petitzelle zo Pk-, Stellengesuche 20 Pf. Die Petitreklamezeile. W Millimeter breit, 1 M. Offertengebühren für Selbstabholer 20 Pf., bet Uebersenduna durch die «ost außerdem Portozuschlag. EInzel-Nr. 10 Pf., * Sonntags-Nr. 20 Pf. geschäftlicher Teil: Artur Lenz in Dresden. r,lchält°stille, Druck und B«rla«: Germania A >G. für Verlag «»d Druckerei. Filiale Dresden, Dresden-A. I, Polierstrahe 17. zrruiuj 21012. Postscheckkonto Dresden 2703. Bankkonto: Stadtbank Dresden Nr. Kl 71». Aür christliche Politik und Kultur Redaktion der Sächsischen Volkheit«», Dresden-Altstadt 1. Polierstratze 17. Fernruf 20 711 und 21 »12. Voiucatts für Sawes Wir wollen die Wolken beiseite schieben 44 Wahlrede in Carcassonne D Paris, 1. April. Die Rede, die Poincarü heute in Carcassonne gehalten hat, bildet den Abschluß des großen Rechenschaftsberichtes, den der Ministerpräsident nach fast zweijähriger Regierungsdauer vor der neuen Befragung des Volkes ablcgte. Der Ton dieser zwei ten und letzten Rede Poincarüs war womöglich noch versöhn lich e r als der der ersten Rede in Bordeaux. Man denke nur an die berüchtigten und verletzenden Sonntagsreden Poincarüs vor Jahren, die alle Welt in Atem hielten und vergleiche hiermit Ton. Mäßigung und Versöhnungsbercitschaft, die aus den jetzi gen Reden desselben Poincarü klingen, um ermessen zu können, welchen Grad innerer Bereitschaft zur Versöhnung heute weite Kreise in Frankreich erreicht haben. Die heutige Rede Poin- carüs war nach Form und Inhalt eine der vollendetsten, die er wohl überhaupt in seiner nunmehr fünfunddreißigjährigen Tätigkei als Politiker gehalten hat. Man kann sie auch als seine Kandidatenrede für die Präsidentschaft der Republik ansehen, und ernste Kerise versichern, daß Poincarü, der sich heute selbst als am Abend seiner politischen Laufbahn stehend bezeichnet, mehr denn je sich danach sehnt, in das Elysee einzuziehen, statt noch lange die Würde eines französischen Ministerpräsidenten zu tragen. Nach scharfen Ausführungen gegen den Kommunismus, dessen Bekämpfung er für eine Notwendigkeit erklärte, kam Poincarü auf den äußeren Frieden zu sprechen, indem er sagte: Wir haben hierüber unglücklicherweise nicht allein zu bestimmen, sonst würde er für immer sichcrgestellt sein, aber wir wollen unsererseits tun, was von uns abhängt, um ihn sicher zustellen, und nichts wird in uns diesen Willen schwächen können. Man wird »ns niemals eine Handlung, eine Geste oder ein Wort vorzuwerfen haben, die nicht genügend friedlich seien. Wir alle haben genug unter dem Kriege gelitten, um ihn zu mißachten und um entschlossen alles beiseite zu schieben, was «ns der Gefahr aussctzen könnte, ihn wieder heraufzubeschwören. Wenn man »ns irgendwelcher Hintergedanken bezichtigt, so ist Vas verleumderisch oder töricht. Als wir mit allen Wcstmächtcn in den letzten Tagen den Sowjctantrag ablehnten, geschah es nicht, weil wir gegen irgend jemand Angriffsmittcl haben wollten, sondern weil wir nicht ein Entwaffnungsverfahren annchmen konnten, das die zahlreichen geschwächten Völker den stärkeren ausliefern würde. Durch A »nähme des Protokolls von Genf, durch größtmögliche Verallgemeinerung der Anwendung des Schiedsgerichtsverfahrens und durch die Unter zeichnung des Abkommens von Locarno unter Mitwirkung von Vriand hat Frankreich jede Gelegenheit ergriffen, um seine friedliche Absicht kundzutun, und jeden Tag bemüht es sich. Konflikten im Völkerbund vorzubeugen. Es ist also kein Grund zum Mißtrauen vorhanden. Frankreich will nur in einer Atmosphäre des Vertrauens alle Fragen inter nationalen Interesses, die aufgeworfen werden könnten, ver handeln. Es hat gestern freundschaftlich mit Spanien verhandelt, es verhandelt heute freundschaftlich mit Italien. Es hat mit einem Lande, dem es seine herzliche Zuneigung bewahrte — Rumänien—, eine Regelung der Kriegsschulden getroffen, die übrigens revidiert werden müßte, falls Frankreichs eigene Schulden revidiert würden. Es muß gesagt werden, daß vorbehaltlich der Sicherheit Frankreichs und seines Rechtes aus Reparationen wir, wenn die Stunde gekommen ist, Kombinationen annehmen werden, die durch die Unterbringung der Obligationen cs den früheren Alliierten und Deutschland und Frankreich selbst gestatten würden, so rasch wie möglich ihre Schulden zu begleichen. Keine Nation hat mehr als Frankreich das Gefühl für die wirtschaft liche Solidarität, die alle Völker der Welt miteinander ver bindet. Weit davon entfernt, an eine Isolierung zu denken, haben wir die feste Absicht, mehr und mehr an der universellen Annäherung der Geister zu arbeiten. Ich weiß nicht, ob der Tag nahe oder fern ist. Aber, wenn er fern sein sollte, dann sind wir cs der Menschheit und uns selbst schuldig, ihn mit allen unseren Wünschen herbeizusehnen und den Versuch zu machen, die Wolken zu beseitigen, die ihn verdunkeln könnten. Die Wahlrede, welche Poincarü am gestrigen Sonntag in der Reitschule von Earcassone hielt, unterscheidet sich nach Inhalt und Ton nicht unwesentlich von seinen Aus führungen in Bordeaux. Sie war in erster Linie innen politisch gemeint, und in der Art, wie P. die drängenden Finanzprobleme beleuchtete, liegt ein fühlbarer Appell an die Wähler der französischen Linken, denen er sich empfehlen will. Aber darüber hinaus enthielt die Rede zwei Punkte, welche sie für uns in höchstem Grade bedeutsam machen. Zunächst spricht Poincarü von Kombinationen, welche durch die Unterbringung der Obligationen der frühere» Alliierten und Deutschlands selbst gestatten würden, so rasch wie möglich ihre Schulden zu begleichen, eine Frage, die bereits anläßlich einer bevorstehenden Dawes-Annüi- tät zu prüfen sei. Es ist unzweifelhaft, daß Poincarü hier auf die in letzter Zeit unternommenen Versuche anspielt, die deutsche Schuldsumme zu fixieren und als Entgelt den Gläubigern durch Kommerzinalisierungsmaßnahmen evtl, durch eine große internationale Anleihe, wirt schaftliche Vorteile zu gewähren. Daß diese Eventualität von einer Persönlichkeit ins Auge gefaßt wird, welche bis her von irgendeiner Revision des Dawes-Planes nichts wissen wollte, ist ein Zeichen dafür, ein wie ernst zu neh mende Rolle die Dawesdislussion auch in Frankreich be reits spielt. Schließlich bedeutet der Hinweis aus die Friedensliebe Frankreichs und.die Notwendigkeit universeller Annähe rung eine Antwort auf die letzten Ausführungen Strcse- manns, der im Gegensatz zur Mehrzahl der Pressekommen tare aus der Bordcauxrede Poincarüs die positiven Mo mente hervorhebe und Frankreich aufforderte, unter Zurück stellung des Vergangenen positiv am Friedcnswerk mit zuarbeiten. Poincarü hat seinen Versuch nicht wieder holt, seine Ruhrpolitik zu rechtfertigen und Briands nicht mehr als Grundzeuge für die Ruhrbesetzung, sondern als wertvollen Mitarbeiter von Locarno Erwähnung getan, was wähl nicht allein eine Verbeugung vor der radi kalsozialistischen Mehrheit, seiner Hörerschaft in Larcasson bedeutet haben wird. Wenn Poincarü dazu aufforderte, die Wolken zu beseitigen, welche den Menschheitsfrieden noch verdunkeln, so besitzt das ja nach dem Vergangenen und nach dem Anlaß seiner Ausführungen noch keine aus schlaggebende Ueberzeugungskraft, aber wir wollen hoffen, daß der Ministerpräsident diesen erfreulichen Worten er freulichere Taten folgen läßt und vor allem d i e Wolke zerstreut, welche heute noch den Frieden verdunkelt, nämlich die RheinlandrÜumung, von welcher er nicht gesprochen hat. Abschied vom Reichslag Man wird über das vorzeitige Ende dieses Reichs tages nicht betrübt sein; auch dann nicht, wenn, wie das unsererseits geschieht, in vollstem Maße anerkannt wird, daß das Parlament, nach wie vor mit den schwierigsten Verhältnissen kämpfend, eine umfassende, auf den meisten Lebensgebieten eines Volkes fruchtbare und in Wahrheit aufbauende Arbeit geleistet hat. Als aber der große Teil der in ihm wirkenden Parteien offen bekundete, daß die entscheidende Kulturfrage nicht im Sinne von Toleranz, Vcrfassungsachtung und Freiheit des Gewissens gelöst werden konnte, als kein Platz mehr war für die Einlösung gegebener Versprechungen und als sich ein kleines Geschlecht bereitfand, für di« Verweige rung eines Verfassungsrechts gegen eine Minderheit ein- zuircten, da waren — immer noch ein Zeichen für die große Bedeutung kultureller Fragen — nicht nur die Stun den der Negierung, sondern des Reichstages überhaupt ge zählt. Das Zentrum hat nach seiner Gewissens- pslicht gehandelt, wenn cs die parlamentarische Zu sammenarbeit mit einer Partei aufkündigte, die dem Schul gesetz noch im letzten Augenblick in den Rücken fiel. Der deutsche Wähler mag sich bei der Deutschen Volkspartei be- danten, wenn er das Vergnügen vorzeitiger Frühjahrs- lvahlen auf sich nehmen muß. Der dritte Reichstag der Republik, der eben von der Schaubühne abgetreten ist und besten praktisches Wirken nunmehr der Geschichte angehört, muß natürlich bewertet werden nach der Gesamtlei st ung» die er seit seinem Vestehe», also seit dem 7. Dezember ll>24 aufzuweisen hat. Wenn aus diesen oder jenen parteipolitischen Gründen nur Teile für die Beurteilung herausgebrochen werden, so weisen wir ein solches Verhalten als unsachlich zurück. Koalitionspolrtisch gesehen weist die vergangene Zeitspanne, in die der verflossene Reichstag hineingestellt werden muß, zwei wesentliche Merkmale auf. Die Sozialdemokraten haben keiner Regierung angchört. In diesen 3(4 Jahren haben sie es nicht fertig bekommen, sich positiv und aktiv mit dem Staate führend und beeinflussend zu verbinden, den sie in der Hauptsache hoben schaffen helfen. Das war ein großes Manko — nicht nur vom Standpunkt der großen Volkspolitik aus, sondern nach unserer Auffassung auch, wenn man es im Hinblick auf die Sozialdemokratie selbst sieht. Ist im parlamen tarischen Staat auch, rein formal genommen, die Zahl cin wesentlicher Faktor, noch viel mehr und stärker kommt es auf Geist und Gesinnung gegenüber dem Staate an. Zugegeben, daß die Sozialdemokratie begreifliche Hemmungen hatte, so ist es leider ein politisches Ver sagen, wenn sie d«n Weg der Verantwortung in drei Fahren nicht hat finden können. Das führt, auf die Dauer geübt, allmählich überhaupt zur praktischen Regierungs- Unfähigkeit, da di« Kräfte nicht positiv cingespannt und eingerichtet werden. Das Streben nach der Zahl hat die Sozialdemokraten zu einer falschen Politik verleitet, für deren Korrektur es hoffentlich noch nicht zu spät ist. Der Wahlkampf wird zeigen, was wir darin zu erwarten haben. Dagegen hat das Z e n t ru m auch in diesem Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte dauernd und unun- lerb rochen an der Verantwortung teilgehabt und lkilgenommen. Die Verantwortung liegt tief begründet im Mesen der Zentrumspartei. Sie steht in der Mitte. Dort hat sie die wichtige Aufgabe, die staatliche Entwick lung einmal zu bewahren vor unüberlegten Experimenten leaiperamentvoller Flügelparteien und dann dafür zu sorgen, daß in Verbindung mit der Tradition sozialer und staatlicher Fortschritt sich in den Bahnen schrittweiser und gesunder Entwicklung hält und ebenso daß rückschrittliche Tendenzen ausgeschaltet »erden. Wir bestreiten nicht, daß die Lage des Zentrums besonders schmierig ist. Wir haben auch volles Verständnis dafür, daß andere Parteien mit größter Sorgfalt auf das Zentrum sehen, weil in der Tat die geistige Hal tung des Zentrums wesentlich ist für die Richtung, die der Staatsaufbau nehmen soll. Aber wir sind der Meinung, daß die Arbeit des Zentrums im verflossenen Reichstage kein Recht gibt, an der Aufrichtigkeit und Zu verlässigkeit unserer demokratisch-republikani schen und vor allem sozialen Staatsge linnung zu zweifeln. Im Zentrum ist die übergroße Mehrheit gesinnungsrepublikanisch, ein ganz verschwindend kleiner Teil in jedem Falle aber vernunftrepubli kanisch. Wenn das Zentrum die Arbeiten des Reichstages überblickt, dann kann es mit Recht und mit Stolz für sich in Anspruch nehmen, daß es an jeder Leistung, an jedem Erfolg unmittelbar beteiligt ist. Und auch die Tatsache, daß manches verhindert wurde, ist ein Verdienst. Der Reichstag hat vier Regierungen gesehen. Zwei Kabinette Luther und zwei Kabinette Marx. Das erste Kabinett Luther war ein Mehrhcntskabinctt von den Deutschnationalen bis zum Zentrum. Es war jenes Kabinett — keine Koalition im eigentlichen Sinne —, dem das Zen trum trotz der seinen Ministern gestatteten Beteiligung durch den Mund des damals noch lebenden Vorsitzenden Fehrenbach das höchste Maß von kühler Zurückhal tung aussprechen ließ. Das zweite Kabinett Luther war die Regierung Luther—Rcinhold, eine Minderheitsregierung, an der auch wieder die Demokra ten teilnahmen. Das darauf folgende Kabinett Marx bestand gleichfalls nur aus einer Minderheit. Es war jenes eigenartige Gebilde, dem sowohl die Dentsch- nationalen als auch die Sozialdemokraten wohlwollende Neutralität zugesagt hatten, eine Form parlamentarischer Klügelei, die sehr bald dazu führte, daß die Flügelpar teien den Versuch machte», das Kabinett nach ihrem Willen zu regieren und die Negierung, weil sie von wech selnden Mehrheiten abhängig war. hin und her zu werfe». Die Regierung fiel, weil sich tatsächlich Sozialdemokraten und Deutschnationale (die Deutschnationalen aus reiner Parteitaktik in der Vertrauensabstimmung über die Reichs wehr) in trautem Verein zusammenfanden. Es folgte das letzte Kabinett: Marx—Hergt—Stresc- mann, das infolge der Mutterschaft von der Deutschen Volkspartci anfangs verhätschelte Kind. Vis dieselbe Partei, die das Kabinett gewollt hatte, es wiederum zer schlug. Den Epilog hielt Herr Stresemann, der in seiner heftigen Frontstellung gegen Westarp