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Rr. 15V — V» Jahrgaag Freitag den 15. Juli 1V1V MGscheNolksreitmg Erlchelnl täglich »ach«. mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. A»Sg«b« 4., Mit »Die Zeit in Wort und Bild' vierteljährlich« S,1« ^ In Dresden durch Boten In gan, Deutschland ftet Haus »,8» AttSaabe «. i Ohne illustrierte Beilage dtertelj. 1,8« I» Dresden d. Boten i»,I« In ganz Deutschland frei Hau« »,SL ^ — «inzel-Nr. I« 1 — ZettunzSpreiLI. Nr. «888. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserate werden die kgeshaltene Petitzeile oder deren Raum mit 18 «, Reklamen mit 8« I die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entbrechenden Rabatt vuchdrmkerel, Redaktion und Veschäftäftellei Dresden, Pilluttzer iktrahe 4». — Fernsprecher IS«« gür Rückgabe »nverlangt. Schriftstücke keine Verbtadlichkeil RedasttonS-Sprechstunde: II I» Uhr. ^pfpisejisnc! uucj labenc! O»'6clO-^>8d66»'6p> ^kunct 15 ^fsliniks. di>sclsvlg8vti In silsn Sdsclttsilsn. nid Vassennanns Ende. Unser parlamentarischer Mitarbeiter schreibt uns: „Kaum gedacht, ward der Lust ein End gemacht! Gestern noch auf stolzen Nossen, heute durch die Brust ge schossen, morgen in das kühle Grab." Dieses Neiterlied kann der Führer der Nationalliberalen auf seinen politi schen Grabstein setzen. Wie war es doch noch vor zwei Jahren? Da sonnte sich Bassermann im Spiegel seines Glückes-, da stolzierte er im Reichstage einher wie ein Pfau, kannte andere Abgeordnete kaum mehr; seine Tochter durfte bei der Fürstin Bülow Blumen verkaufen, der Reichskanzler nannte ihn „Freund und Gönner": in libe- ralen Blättern hieß es, daß dieser hervorragende Mann nicht mehr länger „einfacher Stadtrat von Mannhel bleiben könne, die Exzellenz sei ihm gesichert: es handle sich nur noch um die Bestimmung des Ressorts nsw. Kurzum, Bassermann war der „große Mann", der Held des Libera lismus, der Mann der Zukunft. Aber bewahrheitete sich nicht hier wiederum der Satz, daß Hochmut vor dem Falle kommt? Bassermann baute seine ganze Politik darauf auf, daß das Zentrum ansge- schaltet werden müsse und daß die Konservativen auf ewig die Leibsklaven der Liberalen seien. Aber schon Busch sagt: „Erstens kommt es anders, zweitens als inan denkt!" Und so ging es auch hier. Das Kartenhaus Bassermanns stürzte zusammen: er verlor das Spiel gegen das Zentrum und trieb nun Verärgerungspolitik, statt sich der neuen Situa- tion anzupassen. Er folgte den Einflüsterungen von links und ließ sich als Führer des Gesamtlibcralismns lange feiern: setzt muß ek däs Lied anstimmen: „Ich bin allein auf weiter Flur!" Das Mandat wurde ihm unsicher. Wie ein irrender Ritter zog er durch Deutschland und holte sich einen Korb nach dem anderen. Als er in Saarbrücken ab blitzte, da erkannte er, daß die Stunde der Entsagung für ihn gekommen sei, und so erklärte er in der „Nat.-Zeitg.", daß er aus dem Reichstage scheiden werde. Man sollte nun annehmcn, daß der Rücktritt des einst so gefeierten Mannes die liberale Presse tief rühren müßte. Als Dr. Hicber sein höheres Staatsamt erlangt hatte — man sprach damals schon davon, daß die Natten das Schiff verlassen — da brachten manche liberale Zeitungen schmerz bewegte „Leid"-Artikcl. Heute aber ist alles stumm, nicht vor Schmerz, sondern aus Gleichgültigkeit. Die „Hamb. Nachr." widmen Bassermann folgenden Scljeidegruß: „Es wäre aber nur ein Akt richtiger Selbsterkenntnis, wenn die Uebcrzengung sich Bahn gebrochen hätte, daß die Leitung der nationaliberalcn Partei zweckmäßig wieder in norddeutsche Hände zu legen ist." Nur aus Sachsen kommen etwas wärmere Töne: aber sonst ist die nationalliberalc Presse eisig kalt. Das mag Herrn Bassermann in seinem Entschlüsse bestärken, aus dem Reichstage auszuscheiden, daher auch seine endgültige Ab- sage. Kein einziges liberales Blatt von Bedeutung fordert, daß der bisherige Führer gehalten werden müsse, wohl aber merkt man deutlich genug das Aufatmen, daß dieser Ballast über Bord geworfen werden konnte. Wenn ein liberales Blatt verschämt von „Gesundheitsrücksichten" spricht, so zieht dieser Schlager nicht einmal mehr bei Ministern, ge schweige denn bei Parteiführern, die kein Mandat mehr er halten können Bassermann hat sich das Grab selbst gegraben durch seine Politik des Zentrumshasses. Haß führt auch im politischen Leben nicht zum Erfolge und ist kein sicheres Fundamenit für erfolgreiche Tätigkeit. Als er bei der Reichstagsauflösnng 1906 Beifall klatschte, hat er Wohl nicht geahnt, daß er seinen eigenen Untergang beklatscht hat. Aber es ging ihm, wie allen den großen Vlockfreun- den, von denen keiner mehr eine Rolle spielt: Bülow, Löbell. Keim, Dernburg, Graf Oriola, Bassermann. Sie haben dieses unverantwortliche Experiment teuer bezahlen müssen, mit dem Verluste ihres ganzen politischen Einflusses. Die Galerie der politisch Toten ist um ein halbes Dutzend ^öpfe vermehrt worden. Bassermann kann nun seine Mußestunden oer Betrach tung über die Vergänglichkeit alles Irdischen widmen: viel leicht leistet er darin dem Fürsten Bülow Gesellschaft, beide können sich dann Trostsprüche spenden. Politische Rundschau. Dresden, den 14 Juli 1810. — Amerikanische und englische Blätter suche» einen Brief Kaiser Wilhelms an den Präsidenten von Nicaragua Sennor Madriz im antideutschen Sinne auszubenten. An „unterrichteter Stelle" in Berlin wird erklärt, daß cs sich weder um einen Privatbrief noch um eine besondere po litische Aktion des Kaisers handle. Der neue Präsident habe dem deutschen Kaiser die Uebernahme seines Amtes angezeigt und daraufhin die uu internationalen Verkehr übliche, vollkommen stereotype Antwort erhalten. — Leider wollte es das Unglück, daß diese Antwort gerade in dem Augenblicke eintraf, als die Vereinigten Staaten mit dem Präsidenten Madriz in schwerem Konflikte lagen. Es heißt, andere Staaten hätten aus Rücksicht auf Amerika aus die sem Grunde die Anerkennung der Präsidentschaft Madriz' überhaupt nicht abgeschickt. — Ter Grosiherzog von Hessen hat von England aus an den Evangelischen Bund in Hessen für das Begrüßungs telegramm von der Mainzer Tagung seinen Dank übermit teln lassen, worin er betont, er wisse, daß der Bund die evangelische Sache stets richtig vertrete. Warum wird nicht der Wortlaut des Schreibens publiziert? Der Evangelische Bund hat schon so oft Fälscherstücke verübt, daß diese For derung angezcigt ist. Wir wollen nicht behaupten, daß auch in diesem Falle es sich um eine Fälschung handelt, aber Vorsicht ist geboten. — Nach den neuesten statistischen Daten betragen die gesamten fundierten Staatsschulden des Reiches und der Bundesstaaten die Kleinigkeit von 17,6 Milliarden, wovon 3,9 Milliarden auf das Reich und 13,7 Milliarden auf die Einzelstaaten entfallen. Die Staatseinnahmen und -Aus gaben für Reich und Einzelstaaten gehen nach der schönen Melodei von 9,2 Milliarden, wovon auf das Reich 3,6 und auf die Einzelstaaten 6,6 Milliarden treffen. — Da der russisch-japanische Vertrag die Politik der offenen Tür gewährleistet, hat die Negierung in London ebensowenig wie die in Washington etwas gegen ihn ein zuwenden. Daß man in Berlin denselben Standpunkt einnimmt, ist bekannt. Das Bestehen eines Geheimver trages zwischen beiden Signatarmächten ist vom Grafen Komnra kategorisch in Abrede gestellt worden. Japan werde, so versicherte der Minister des Aeußern, keine Schritte unternehmen, die die berechtigten Interessen der anderen Mächte in der Mandschurei schädigen könnten. In Japan betrachtet man das Abkommen nur als ersten Schritt weiterer Verhandlungen, die über kurz oder lang zu einem russisch-japanischen Bündnis führen müßten. Besonders die Freundschaft zwischen Deutschland und Amerika macht einzelne Parlamentarier besorgt. Man fürchtet einen Vertrag dieser beiden Großmächte. Andere reden davon, daß das Deutsche Reich ein Zusammengehen Italiens, Amerikas und Chinas gegen England, Frank reich und Japan anstrebe. In China ist man der Ansicht, daß das Abkommen gegen Amerika gerichtet ist. Unter dem Vorwände, den Statusguo in der Mandschurei aufrecht zu erhalten, »ahmen die Großmächte gegen die amerikanische Neutralisierungs-Politik Stellung und ver suchen, dem weiteren Vordringen in China ein Ende zu machen. Obgleich also der Vertrag China am meisten an geht, da er ja eine seiner Provinzen betrifft, so richtet sich seine Spitze in Wirklichkeit gegen die Vereinigten Staaten, wie auch unser diplomatischer Mitarbeiter in Nr. 169 vom 9. Juli auSgeführt hat. — Beendigung de» dentsch-österreichischeu Torifkampfe«. Der „Franks. Zeitung" wird auS Berlin gemeldet, daß der deutsch-österreichische Tariskawpf seit gestern als endgültig erledigt betrachtet werden kann. Die getroffenen Verein barungen treten nunmehr in Kraft. DaS Ergebnis ist. daß dcutscherseitS die Kündigung der AuSnahmetarife gegen österreichisch-ungarischcS Petroleum zurückgenommcn wird, so daß also das österreichisch-ungarische Petroleum nach wie vor zu den niedrigsten Frachtsätzen nach Deutschland eiu- geführt werden kann. Oesterreich hat deswegen eine ganze Anzahl tariflicher und eisenbahnfiskalischer Maßnahmen, die gegen die deutsche Industrie und namentlich gegen die Einführung von deutscher Steinkohle gerichtet waren, zurück genommen. — Eine höchst bemerkenswerte Rede hat Abgeordneter Freih. v. Hertling in der Kammer der bayrischen Reichs räte gehalten; er erklärte, die Reichsfinanzreform habe durchaus nicht Fiasko gemacht, vielmehr seien die Neichs- sinanzen in fortschreitender Gesundung begriffen. Das schließe aber nicht aus, daß der Etat für 1911 nur schwer zu bilanzieren sei. Deshalb müsse man sich unter allen Um ständen entschiede» dagegen wehren,* daß an den Reichstag neue große Forderungen gelangten, besonders Militär- und Marineforderungen. Der Anleiheweq dürfe nicht beschrit ten werden, die Matriknlarbeitröge seien begrenzt Neue. Steuern aber dürften dem schwer belasteten deutschen Volke i-nter keinen Umständen anferlegt werden. Es müsse daher im BnndeSrate alles aufgeboten werden, damit wenigstens für den nächsten Neichshaushaltsetat solche Forderungen nicht komme». Ter Finanzminister erwiderte,, die Negie rung werde im Bnndesrate alles tun, um die SparsamkeitS- lcstrebnngen zu unterstützen. Hoffentlich handelt Bayern auch hiernach. Was aber Freiherr v. Hertling erklärte, :.ntersch.-eibl die ganze Zentninissraktion einmütig. Man wird ja bald sehen, wie weit die Negierung dem Rechnung trägt. Jüdische Frechheiten findet die „Deutsche Tageszei tung" mit Recht in der neuesten Nummer der „Lustigen Blätter", die sich Witzblatt nennen, aber in der Hauptsache Adolf Menzel über die Zeit der Reformation. (»Geschichte der Deutschen', 6. Auslaae, Stuttgart.*) „Die letzten noch übrigen deutschen Fürsten traten bis auf vier zum Luthertume über, Karl und Ernst von Baden, Julius von Braunschweig-Wolfenbllttcl, des wilden Hein richs Sohn. Nur Oesterreich, Bayern, Lothringen und Jülich waren noch katholisch. Aber die reformierte Partei war ohne Kraft und Einheit. Ein Gefühl von Schuld drückte sie, weil sie die Reformation nicht würdig durch geführt hatte. Statt eines Papstes hatten die Protestanten jetzt deren eine Menge, denn jeder Fürst war Papst ge worden. Es trat eine ganz neue Barbarei an den Höfen und auf den Universitäten der Protestanten ein. Von wo das Licht und die Humanität ausgehen sollte, ging nur Finsternis und rohe Bestialität aus. Die lutherischen Hofpfaffen teilten ihren Einfluß auf die Fürsten mit Buhldirnen, Sauf- und Jagdgenossen, Stern deutern, Goldmachern und Juden. Die protestantischen Fürsten verloren alle Scheu und Scham, da sie sich durch den Augsburger Religionsfrieden innerhalb ihrer Terri torien zu unumschränkten Diktatoren über Glauben und Sitten gesetzt sahen. Wie hätten sie sich ihrer Willkür nicht bedienen sollen? Philipp von Hessen hatte zu gleicher Zeit *1 Karl Adolf Menzel ist ein proteftantllcber BeschtibtS- forlcher. der in seinen Werken, die er diiekt auf Quellenstudien au'baute. rach Objektivität strebt und seine Urteile mit der der wahren Wissenschaft nötigen Parteilosigkeit zu geben sucht Menzel war durch M Jahre Koofiftorialrat in BreSlau und Seiler de« höheren Schu!w:sen« in Tchlefien (gestorben am IS. August 1885). zwei Frauen. Aber auch die sanfteren Charaktere fühlten sich vollständig geschmeichelt durch die schrankenlose Willkür. Weder Brandenburg, noch das fromme Sachsen wider standen der Versuchung. Kurfürst Joachim II. von Branden burg (1536—1571), durch den höflichen Agricola in, voraus des Himmels versichert, glaubte sich auch schon auf Erden einen kleinen Himmel schaffen zu dürfen: er baute sich Lust schlösser. bevölkerte sie mit Maitressen, gab schwelgeriscl>e Feste, große Jagden, Wettrennen, ließ die Diener seiner Lüste stehlen, was sie mochten, erschöpfte das Land und mußte sich, um dem Bankerotte zu entgehen, an die Jude» wenden . . . Joachims II. zweiter Sohn, Sigmund, war sobschon Protestant) Erzbischof von Magdeburg und Bischof von Halberstadt geworden, um diese fetten Sprengel an sein Haus zu bringen, erlaubte sich aber die sckjamloseste Willkür und ließ u. a. seinen Untertanen den Bart ab scheren, weil er selbst dessen wenig hatte. — Das mark- gräflich brandenburgischc Haus war auf eine traurige Weise entartet . . . In Sachsen zeigten sich schon bei des Kur- fürsten August und des frommen Johann Friedrich Kin dern Spuren der Zeitverderbnis. Des ersteren Tochter Anna heiratete des letzteren Sohn Johann Kasimir, der bei der Teilung mit seinen Brüdern Koburg erhalten hatte. Der feindliche Geist der Väter erbte sich auf die Kinder fort. Tie Ehe war unglücklich: Anna verging sich, wurde ge schieden und eingesperrt. Johann Kasimir heiratete eine braunschweigische Prinzessin. Sein Bruder Johann Fried rich der Jüngere von Weimar duldete an seinem Hofe Alchi- misten und Geisterseher, die seine Einfalt betörten. Die Kurlinic entartete noch mehr . . . Beinahe ohne Ausnahme waren alle Höfe der viehischsten Trunksucht er geben. U. a. richteten sich dadurch die alten plastischen Häuser in Schlesien zugrunde . . . Das Ausland nahm großes Aergernis an diesen Sitten, und es wurde zum Sprichwort: „ein deutsches Schwein" . . . Damals wurdc auch die Jagdwut erst ins Große getrieben. Die Fürsten legten ungeheuere Wildgehege an und bei Besuchen wurde gehetzt, wobei die Bauern in der Frone helfen und ihre eigenen Saaten zertreten mußten. Nicht das geringste Uebel aber waren die Inden und Goldmacher (Alchimisten), die an allen Höfen Mode wurden, weil alle Geld brauchten . . . Die Sterndeuter (Astrologe») wären eins unschuldige Spielerei gewesen, wenn sie nicht an der dicken Finsternis der Zeit hätten Mitarbeiten Helsen. Ans den falsche» Vorstellungen von geheimen Naturkräslen und Teuselswirkungcn floß der Glaube an die Heren und die blutige Verfolgung derselben. Wie hätten die Protestanten nicht viel mit dem Teufel zu tun haben sollen, da Luther selbst auf der Wartburg einmal sein Tintenfaß »ach ihm geworfen hatte! Herzog Julius von Brannschweig, Sohn des wilden Heinrich, und zugleich Erbe Erichs des Jüngeren, »ahm die Reformation an, stiftete die Universität Helmstädt, brachte in einem langen Frieden sein Land in Flor, hatte aber eine so »»wider st e h l i ch c L u st. Hexen zu verbrennen, daß sich bei Wolfenbüttel ein ganzer Wald von angebrannten Pfählen bildete. Sogar die Gemahlin Herzog Erichs des! Jüngeren mußte zu ihrem Bruder, Kurfürst August von Sachsen, flüchten, weil Julius sie (vielleicht des ErbeS liegen) der Hexerei beschuldigte. Am meisten vertvahrlost was das askanische HauS in Lauenburg. Hier hatte sich gegen den elenden Herzog Franz I. 1571 sein eigener Sph»