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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«-Prei« 22z Silbergr. (j Tdlr.) vierteljährlich, Z Thlr. für da« ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Comp., Iägerjlraße Nr. 28), so wie von allen König!. Post'Printern, angenommen. Literatur des Auslandes. 1L0. Berlin, Freitag den 15. Dezember 1843. Italien. Neapel in seiner heutigen Gestalt. Von Paul de Müsset. Nächst London und Paris mag Neapel wohl die volkreichste ^Stadt in Europa sepn. Man zählt hier an 800,000 Bewohner, die aber so viel Lärm und Geschrei machen, als wären eS zwei Millionen. Wenn alle Bewegungen der Neapolitaner einen Zweck hätten, so bedürften sie nur des Stützpunktes, den ArchimedeS verlangt, um unseren ganzen Erdball aus seinem Gleise zu heben. Kommst Du von einer Spazierfahrt auf dem Golfe, so erreicht das verworrene Getöse oer Stadt eine Miglie weit Dein Ohr, und Du glaubst fast, einen Vulkan in seinem Innersten toben zu hören, bevor er sich entladet. Von der Karthause San Martino, wo die guten Mönche der schönsten Aus sicht genießen, die es auf Erden geben kann, bietet Dir Neapel den Anblick einer empörten Stadt, so rennt und wogt das Volk in allen Straßen durch einander. Jede Hauptstadt theilt sich wieder in zwei Städte, die Stadt der guten Gesellschaft und die des Volkes. Die eine ist schön, aber eng bcgränzt, und man lernt sie oft schon am ersten Tage gründlich kennen; die andere, weniger angenehm zu schauen, ist nicht selten merkwürdiger und fesselnder. Ein Bruch stück der Boulevards ist für gewisse Leute ganz Paris; eben so giebt es für die schöne Welt kein anderes Neapel, als den Theil von der Straße Toledo bis zum Ende der Villa Reale. Nur in diesem Garten am McercSrand herrscht Schweigen und Ruhe; sonst nirgends. Beim Eintritt in die Straße Toledo siehst Du nichts als Leute mit offenem Munde, lebhafte Augen, ga- loppirendc Pferde. Man ist immer eilfertig ; man rennt aus Leibeskräften, um eine Schale Gefrornes einzunchmen, die Zeitung zu begehren, das Frcm- denblatt und die Theaterzettel zu lesen, oder ein LooS zur Lotterie zu kaufen, die am nächsten Sonnabend gezogen wird. Man hat Recht; daS Leben ist ja kurz, die Zeit kostbar, ein reines Vergnügen selten. Die Miethkutschen, nicht wie bei uns an Haltplätze gebunden, rollen leer durch alle Gaffen und ver- folgen Einen mit ihren Anerbietungen. Der Vorübergehende, der eine dieser irrenden Kaleschen nimmt, schwingt sich so rasch auf seinen Sitz, als hätte er den Feind im Racken. Der Kutscher peitscht die Pferde und bringt seinen Mann eiligst an Ort und Stelle, um dann wieder einen Anderen zu suchen. Selbst die Kärrner sagen mit verhängtem Zügel, als ob das Stroh, das sic fahren, Jemanden vom Tod erretten sollte. Toledo hat keine Bürgersteige, und ist das Gewissen des Kutschers durch sein xnurcl»! (vorgesehen!) einmal beschwichtigt, so treibt er ohne Umstände vorwärts, drängt Haufen von fünfzehn Menschen gegen die Mauer, oder wirft die Stühle der guten Leute um, die frische Luft schöpfen und gern von ihrer Seite die ganze Straße in Beschlag nehmen möchten. Mitten in diesem Getümmel geht Alles in bester Ordnung vor sich. Der sgusjolo (segusjuoio) auf seinem hölzernen Sitz gerüste, bis an die Ohren in Rosenkränzen und Citronen steckend, schreit sein Schneewaffer und seine Limonade aus; der Fischer, welcher mit dem Dreizack in der Hand die Nacht am Meere zugebracht, brüllt noch am Tage, um einige Fische zu verkaufen. Einer, der mit Schwefelhölzchen handelt, macht einen größeren Lärm, als wenn eS Kleinodien wären. Wie plagen sich diese Leute, um ihr Leben bis morgen hinschleppcn zu können! Und haben sie sich ganz erschöpft, was für einen Lohn finden sie? Ein Stück Brod, ein Glas Wasser und das Elend von gestern. Eine Menge armer Teufel, die immer auf der Lauer stehen, sangen gleich Feuer, wenn fie nur die entfernteste Möglichkeit eines kleinen Verdienstes wahrnchmen. Einer meiner Freunde kaufte bei einem Trödler einen ver rosteten Dolch. Als er damit aus dem Laden trat, ging ihn sogleich ein zu- dringlicher Mensch an, der ihm Schutz- und Trutzwaffcn jeder Art, Helme, Panzer, Hellebarden u. s. w. zum Kaufen anbot, die Bitte hinzufügend, daß Ercellenz ihm nach einem Magazin folgen möge, wo diese Schätze sich be fänden. Der französische Heu versicherte ihm vergebens, er wolle nichts mehr kaufen; auch sey schon in dem eben verlassenen Laden an Hellebarden kein Mangel gewesen: der Mäkler aus dem Stegreif redet ihm nur mit ver doppeltem Eifer zu. Als er endlich bemerkt, daß mein Freund zufällig die Richtung nach dem Magazine einschlägt, läuft er in stürmischer Eile voran. Etwa fünfzig Schritte weiter gekommen, erblickt der Franzose seinen Mäkler auf dem Dachboden eines HauseS; mit einem Helm auf dem Kopfe, mit Schwertern und Dolchen in jeder Hand, streckt er den halben Leib auS einer Luke, schlägt die Waffen an einander und schreit mörderlich. Die Villa-Reale ist das Gebiet der kleinen Kinder und der feinen Welt. Man ficht hier des Morgens die rüstigen Ammen in ihrem mit Rauschgold besetzten Mieder, dem Kennzeichen ihres Berufes, auf den fie stolz find. Die von Procida und Amalfi haben besonders hübsche Gesichter. Am Abend kommen die Damen in den Garten, und während des Sommers spielt eine vortreffliche Militair-Musik unter den Bäumen Stücke aus beliebten Opern. Jenseits der öffentlichen Anlage kommt man, längs des Strandes gehend, vor der kleinen Kirche Picdigrotta vorüber, welche am Fuße der prächtigen Grotte Paufilippo liegt, und gerälh unter eine Bevölkerung von Fischern und Bootsleuten. Alle Gesichter zeigen hier das alterthümlich römische Gepräge. Ihr Elend hat diese Menschen noch mehr gekräftigt und abgehärtet; fie er tragen eS mit stolzer Würve- Man kann ihre wahrhaft athletischen Umrisse nach Muße und Gefallen bewundern, denn diese Herkulesse kleiden sich gern so wie Cincinnatus, als er hinter dem Pfluge ging. Wer nur ein Stück von einem Seil, einen Lcderstreifen oder ein Netz über seiner nackten Schulter trägt, der nimmt noch eine Haltung an, als hätte er eS nicht verlernt, eine römische Toga umzuschlagen. Manche von ihnen geben sich berühmte Namen des AlterlhumS, wie Bcspasian, Titus, Asdrubal, sogar Tiberius; den letzterwähnten machen sic durch Einschiebung eines dumpfen Buchstaben (Timbcrio) volltönender. Sieht man diese Leute mit ihrer ruhigen und entschlossenen Miene in der Sonne bei einander sitzen oder auf ihren Barken sich ausstrcckcn, so fühlt man, vaß sie starker sind als ihr Geschick, und eS kommt Einem nicht in den Sinn, sie zu beklagen; gehen wir aber an einem Regentage vorüber, wenn sie, so gut cs ihnen möglich ist, in ihre lumpigen, vom Seewaffer zerfressenen Kittel sich hüllen, so macht der Adel ihrer Züge uns das Herz bluten. Hier in Chiaja war es, wo Guise, in einer kleinen Barke der spanischen Flotte entkommen, nach Masanicllo's Tode landete, und wo die Fischer ihn auf ihre Schultern hoben und triumphirend nach dem her zoglichen Palastc trugen. Von hier zog jene furchtbare Schaar aus, die, obgleich ohne Waffen und ohne Mannszucht, das siegreiche Heer der Republik an vcn Thoren der Stadt beinahe zum Weichen zwang. Die Frauen sind weniger schön als ihre Männer, aber gleichfalls tüchtiger Art; fie zanken sich wie Furien und raufen einander die Haare auS. Wahrscheinlich find fie eS, die den Kindern die Leidenschaften vererben, während der Mann die körper- liche Schönheit aus seinen Sohn überträgt. Du kennst Neapel noch nicht, ehe Du aus diesen Revieren scheidest, die sich Dir zuerst aufthun. Verlasse Toledo und den Chiaja-Fluß und vertiefe Dich in das alte Neapel. Zwischen der Briefpost und dem Schloßplatze ange langt, wende Dich einer schmutzigen und niit Schutt angefüllten Straße zu; hier wartet Deiner das Schauspiel der alten Stadt in seiner ganzen Eigen- thümlichkeit. Die Menge ist immer dicht gedrängt, wie auf einem bestän- digen Jahrmärkte; der Mann vom Volke wird hier Konsument und Kunde; wie vielerlei Dinge bietet man ihm gegen die vier Bajocchi in seiner Hosen, lasche! Gemüse sind neben wollenen Mützen, Schuhe neben Fleisch, Hosen träger neben Fischen zum Verkauf ausgclegt. Die bewegliche Küche dampft am Rinnstein , der Bratengeruch macht den Mund wässern. Camacho ist ein Lazzaroni geworden, und man feiert seine Hochzeit. Es ist ein unglaubliches Durcheinander von Eßwaaren, Trödelwerk, Fußbekleidungen, Käsen und Orangen. An Lärm und Getümmel thut es die Altstadt den übrigen Theilen sehr zuvor. Der Verkäufer, der einige Ba,occhi des gemeinen Mannes verdienen will, rührt sich mehr, als derjenige, dem eS um die Piaster der Köche und Küchenmeister zu thun ist. Bratenhändler hängen ihr Fleisch an eine lange Stange, die uns den Weg versperrt, damit wir sie besser sehen können. Die Bewohner der Dachstuben machen, um sich daS Hinab - und wieder Her- aufstcigen zu ersparen, ihre Käufe durchs Fenster, indem sie aus dem vierten Stock einen Korb an einem Seile heruntcrlaffen. Man kann sich denken, was das für ein Hin- und Hcrschrcien giebt, wenn beide Theile aus solcher Ent fernung mit einander feilschen, während ohnehin schon ein Zeter auf der Straße ist, der Einem das eigene Wort raubt! Ganze Gesellschaften im Kreise fitzender Frauen machen unter freiem-Himmel Toilette; fie flechten ein- ander gegenseitig das Haar, kleiden sich um und schnüren ihre Mieder. Diese find noch die sorglichsten, denn eS giebt andere, die gleich Wilden dahin leben und nie etwas sür ihren Körper thnn. Dic jungen Mädchen vom Volke haben einen mittleren Wuchs und kräftigen Bau; ihre GefichtSbildung ist ziemlich grob, die Farbe sehr braun, die Stirn etwas niedrig, das Auge wohl ge schlitzt, der Blick nach unten gerichtet. Ihr langes und dichtes Rabenhaar ist so verworren, daß ein Kamm es niemals durchdringen kann- Den äußer-