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Nr. L8S — ». Jahrgang Freirag de« LL. August LV1V MlhsMeUolksMng «scheint «ägllch »ach«, mit «uSnahme der «oim- und Festtage. «n»aa»e L.r Mit .Die Zeit tn Dort und »>Id- vierteljährlich. S.IU ^». In Dresden durch Boten » 40 In ganz Deutschland frei Hau» S,8S ^ »«»gäbe «., Ohne illustrierte Beilage vierteil. 1.80 ^». I» Dresden d. Boten »,10 X. In ganz Deutschland sret Hau» ».»» — «uzel.Nr. 1« 1 — LeitungSpretSI. Nr. «888. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat« werden die «gespaltene Petitzeile oder deren Raum mit »8 ^ Reklamen mit 8V 1 die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt. Buchdruckerei, Redaktion und Veschäft-stellei LreSdea, Vtllnttzer ««ratze 4«. — Fernsprecher 1»«« Für Rückgabe unverlangt, «chrtsrftücke keine vcrbtudlichkett Redaktion».Sprechstunde: 11—IS Uhr. ^pfpisekenci unci labenc! vi'Sclo-^isbssi'e^ k^funcj 15 pfskinigs. Gerling 8- ftocßstroti, Drescken. ktlscksi'jgkvn In sllvn SdsclNsIIsn. ISlb Oie südafrikanische Union. Kapland, Oranje. Transvaal und Natal sind seit einem Vierteljahre zu einer Union verschmolzen, ein ebenso küh nes wie interessantes Projekt und einer der bedeutsamsten Schritte der modernen Kolonialpolitik, die sich in drei Ab teilungen vollzog: bis auf das Blut bekämpfen, nieder- reißen, Autonomie geben. Es ist das Werk des liberalen englischen Ministeriums Asquith, das wir hier vor uns haben, ein wirklicher Liberalismus, der sich so vornehm von dem deutschen abhebt. Asquith hat bekanntlich die Be schimpfungen der Katholiken aus dem Krönungseide ent fernt, Deutsche liberale Parteiführer benützen das päpst- liche Rundschreiben zur parteipolitischen Hetze. Darin liegt es auch, daß der englische Liberalismus manche Fort schritte zeitigt, während der deutsche nur niederreißen und verwüsten kann. Das größte Werk des liberalen englischen Kabinetts ist die Schaffung der slldwestafrikanischen Union. Die besieg ten Bnrenrepubliken traten zu gleichem Rechte an die Seite von Kapland und Natal, und schon bald darnach tauchte der Gedanke auf, diese vier Kolonien zu einem föde rativen Ganzen zusammenzufassen. War es doch die Ent wicklung, die sich als eine natürliche Notwendigkeit in Australien und Kanada, gleichsam von selbst ergeben hatte. Aber gewiß gehörte mehr Kühnheit und mehr Vertrauen dazu, in Afrika zu wiederholen, was dort ohne Erschütte rungen geschehen war. In Afrika standen zwei Nationen, die holländische und die englische, nebeneinander, mehr äußerlich als innerlich verbunden, Nationen, die vor kurzem noch auf Leben und Tod miteinander gerungen hatten, und von denen die siegreiche englische, was doch sehr bedeutsam ist, eine Minderheit darstellts. Es ist ganz ausgeschlossen, daß sie aus eigener Kraft der Buren Herr hätte werden können. Tie gesamte Macht des britischen Reiches mußte dazu herangczogen werden Indien, Kanada, Australien kchickten ihre Kontingente. Tie englische Flotte schnitt den Buren jede Verbindung mit der Außenwelt ab und das neutrale Portugal gestattete englischen Truppen den Durch zug durch sein Gebiet, damit sic den Buren in den Micken fallen könnten. Was das englische Südafrika an Kämpfern aufstellte, kam dagegen kaum in Betracht. Aber die Opfer an Blut und Leben, welch.' die Buren auf dem Schlachtfelde wie in den Konzentrationslagern ge bracht haben, waren ganz ungeheure. Man hätte glauben können, daß hier ein Haß erwachsen müsse, der nicht zu löschen sei. Das aber ist nicht der Fall getvesen. Die Buren beugten sich einer Entscheidung und strebten nun auf fried lichem Wege nach der Herrschaft. Deutsche Träumer spra chen von einer allgemeinen Auswanderung der Buren nach dem Kriege und wir erhielten den Abscl-aum der Buren- bcvölkeruna, den wir so gern los wären. Der Kern der Buren arbeitete mit Energie an der Wiederaufrichtung und fand in dem siegreichen General Botha seinen Führer und Staatsmann. Die Union ist sein Werk. Am 4. Juni 1909 nahm eine konstituiereirde Versammlung, auf der Kapland. Oranjestaat und Transvaal vertreten waren, eine Unionsverfassnng an, ein Unionsparlament in Kapstadt, Regierung und Verwaltungsbehörden in Pretoria, die Obergerichte in Blocmfontain; die Exekutive sollte dem von England eingesetzten Generalgouvcrncur gehören, mit einem Minister zur Seite, die Legislative dem Parlamente, das aus Senat und Abgeordnetenhaus bestehen sollte, in Angelegenheiten aber, die nicht die Gesamtheit betrafen, den autonomen Einzelstaaten. Die Zentralverwaltung über nimmt alle Vsrmögensbestände und Schulden der Kolonien, die beiden Sprachen, Englisch und Holländisch, sind inner halb der Union gleichberechtigt, es gibt das allgemeine Wahlrecht für alle Männer europäischer Herkunft. Nach einigem Zögern hat sich auch Natal am 13. Juni (mit 11121 gegen 3701 Stimmen) der Union angeschlossen und darauf, am 20. August, das englische Unterhaus in dritter Lesung diese Verfassung angenommen, ohne ein Titelchen an ihr zu ändern. Ta nun feststand, daß im Mai 1910 die Union ins Leben treten sollte, begann man in Südafrika Vorberei tungen zu den Wahlen zu treffen, die darüber entscheiden mußten, wem die Führung im neuen Verfassungsleben der Union zufallen solle, den Engländern oder den Buren. Ter erste Gedanke ist wohl gewesen, ein Koalitionsministe rium zu bilden, wobei der englische Kandidat, der frühere Premiermilüster des Kap John Lavier Mcrriman, ein ausgezeichneter Finanzmann ist, der aber auch bei den Eng ländern sehr wenig populär war. Was ihm Aussichten bot, war, daß Jameson, der eigentliche Führer der imperialistisch- progressiven Partei, energisch für ihn eintrat, uud JamcsonS Einfluß unter der englischen Bevölkerung Südafrikas ist außerordentlich groß. Die Buren aber haben ihm seine Vergangenheit wohl vergeben, nicht aber vergessen können. Als leitender Minister der Union war er undenkbar. In Transvaal wurde diese Partei durch drei Minenmagnaten vertreten: Sir Percy Fitzpatrik, Bailey und Lionel Philipps. Ihnen gegenüber stehen die Parteiorganisationen der Buren, im Kap der „Bond", im Oranjcstaat die „Unie", in Transvaal „Hek Volk" unter Führung von Louis Botha und Smuts. Am 15. April wurde die letzte Session des Kapparlamentes eröffnet, Mitte Mai verabschiedete sich Lord Selborne, der durch sein konziliantes und taktvolles Auftreten wesentlich dazu beigetragen hatte, die Gegensätze zwischen Siegern und Besiegten auszngleichen. Dann traf der erste Generalgouvcrncur von Südafrika, Viscount Glad- stone of Lonark ein, und die Spannung stiegt nun aufs höchste: Es fragte sich, wem er die Bildung des Ministe riums anvertrauen werde. Ter in Kapstadt erscheinende „Leader" schrieb damals, obgleich imperialistisch gesinnt. Merriman sei ungeeignet, da das Land nicht einen vor sichtigen Finanzmann, sondern einen Mann brauche, der die in den letzten Jahren aufgespeicherte Energie kühn zur Entwickelung bringe. Das beste wäre ein Ministerium Botha-Jameson, das nächstbeste Botha allein. Botha ver folge eine positive Politik, keine Politik der Negation, er fördere eine wissenschaftliche Landwirtschaft und benutze seinen großen persönlichen Einfluß im Sinne jedes Fort schrittes. Am 21. Mai brachte die „Sonth Africa News" die Nachricht, daß die Transvaalminister sich geweigert hätten, in einem Kabinett Merriman ein Amt zu über nehmen, und das mag die Entscheidung gebracht haben — am Nachmittage desselben Tages folgte die amtliche Bestäti gung der Ernennung Bothas zum Chef des Kabinetts. Daß Jameson der Führer der Opposition wird, ist sicher: er hat auf einem Kongreß zu Bloemfontain die imperialistischen Progressisten der vier Staaten um sich gesammelt. Dagegen steht auch fest, daß Merriman sich ihm nicht anschließen, sondern als „Unabhängiger" Botha unterstützen wird. Botha hat seinem Ministerium folgendes Programm ge geben: 1. gerechte und gleichmäßige Behandlung aller Mitglieder der Union: 2. Gleichberechtigung beider Natio nalitäten und Sprachen: 3. Ausschließung der Eingebore nenfrage ans der Parteipolitik, gerechte und sympathische Behandlung der Eingeborenen in weitherzigem und libe ralem Sinne: -1- Beförderung der europäischen Einwande rung, Ausschließung der asiatischen: 5- ausgedehnte Er ziehungspolitik: 0. Verbesserungen der Arbeitsbedingungen weißer Handarbeiter: 7. Einrichtung eines ausreichenden Systems nationaler Verteidigung für Südafrika als Glied des britischen Reiches und Verpflichtung der Bürger, an der Verteidigung teilzuuehmen: 8. Reorganisation der Staatsverwaltung: 9. energische Eisenbahnpolitik: «0. För derung der Landwirtschaft und neuer Siedelungen. End lich betont dieses Programm mit großem Nachdrucke die Zugehörigkeit zur britischen Flagge. Die Unionisten sind durch dieses Programm, dem sie in keinem Punkte widersprechen können, in Verlegenheit gesetzt Auch ist ihr eigenes Programm ziemlich farblos. Es redet nicht von der allgemeinen Wehrpflicht, ist in der Frage der Eingeborenenvolitik radikale- und rückt die Chamberlainschen Reziprozitätsgedanken in den Vorder grund, das heißt lauter Sätze, denen die Buren ihren Widerstand entgegenstellen. So stehen heute die Tinge im Süden Afrikas. Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß die neue Union sich gut entwickeln wird, so lange sie ihre hohen Einnahmen ans den Bergwerken hat. Tie Land wirtschaft unterhält Südafrika nicht. Fünfter Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt. Opo. Berlin, den 10. August 1910. Versammlung vom Dienstagabend. An jeder Seite des Einganges zum Landwehroffizierskasino, wo der Kongreß tagt, sind Männer aufgepflanzt, die jedem der Ankommen den eine Broschüre aufdrängen. „Bitte, nehmen Sie! Gratis! Hochinteressai^tl" Wir greifen zu. Titel: „Was ist der Ultramontanismus?" Broschüre herausgegeben Vom antiultramontanen Reichsverbande. Zweifellos glaubte der Mann, der die beiden Broschürenverteiler an den Ein gang postierte, daß die Besucher des Weltkongresses das richtige Publikum für seine Broschüre seien. Er kannte seine Leute. Der ganze Abend war übrigens hochinterssaut für uns Katholiken, denn er zeigte uns recht deutlich, wes Geistes Kind die Leute sind, die sich hier unter der Firma „freies Christentum" zusammcngefunden haben. Mau hatte für diesen Abend eine Glanz- und Zugnummer aller ersten Ranges auf die Tagesordnung gesetzt: Don Romolo Murri aus Nom, exkommunizierter katholischer Priester! Daß Herr Murri auf diesem Kongresse nicht fehlen durfte, versteht sich von selbst, denn die Geister, die hier vertreten sind, decken sich in ihren Anschauungen mit den seinigen. Ton Murri wird auf dem Podium placiert, direkt neben den Vorsitzenden, damit ihn alle sehen können. Hinter mir sitzt eine Französin, die durch einen Herrn von den Helden- lalcn des Ton Murri unterrichtet wird. „Kam. «'««t nu l-ckros! I'our s« ckodarsssor Oes «bnlnes rk« Roma, il kaut avoir ckn eourax«! Rrnvo, Llurri, bravo!" Und begeistert blickt sie hinauf zu dem Helden, der da sitzt und sein« Rede memoriert. Nun zu den Rednern. Zunächst doziert Professor Paul Sabatier aus Paris über die freundschaftlichen, besser gesagt sympathischen Beziehungen, die zwifckien Ka tholiken und Protestanten bestehen sollen. „Die strategischen Punkte unserer Väter, führte der Redner aus, haben wir verlassen. Wir bewundern zwar diejenigen, welche die alten Festungen verteidigen, aber bei ihnen bleiben und mit ihnen kämpfen konnten wir nicht, weil wir unZ in ihren Festun gen nicht wohl fühlten. Wir entdeckten neue Ausblicke und diesen strebten wir entgegen. Die Jrrtümer der katho lischen Kirche wollten wir nicht mehr mitmachen. Trotzdem lieben wir unsere katholischen Brüder, nickst wie die Kanni balen den Schiffbrüchigen lieben, sondern in wahrer brüder licher Liebe sind wir ihnen zugetan.' Wir müssen unseren Gegner von gestern aufsuchen, denn wir brauchen ihn und er braucht uns. Tic Bibel ist für uns nicht mehr heilig wie sie es früher war. Sie ist für uns nicht mehr das Ge setzbuch Gottes, sondern sie ist das Buch der Menschen, das zu Gott führt. Wir französischen Protestanten betrachten uns als die Avantgarde des Katholizismus, haben aber den großen Vorzug, daß keine konfessionellen Interessen uns den Weg verlegen. Wir sind wie Leute, die vor Sonnen aufgang aufstehen und den Weg ebnen!" Sodann erschien auf der Rednertribüne Don Romolo Murri. „Di« religiöse Frage und die Demokratie in Ita lien" lautete sein Thema. Wenn das Verhältnis von Staat und Kirche nicht einmal in Staaten mit mehreren Konfes sionen auf eine befriedigende Formel gebracht werden könne, so gestalte sich diese Aufgabe noch viel schwieriger in den lateinischen Ländern. Hier stoßen die durch nichts beschränkten Ansprüche der katholischen Kirche zusammen mit dem Versuche der Demokratie, Kultur und Erziehung auf eine rein humanistische, das heißt in der Praxis aus eine materialistische und atheistische Basis zu stellen. In dem man auf beiden Seiten einsehe, daß es so nicht weiter gehen kann, entwickle sich das, was man Modernismus nenn«. Italien sei für diese Entwickelung klassischer Boden. Unter politischem Modernismus sei zu verstehen der Ver such eines Ausgleiches zwischen den Ansprüchen der katho lischen Kirche und des modernen Liberalismus. Redner geht sodann auf die Trennung von Kirche und Staat über. Wenn diese Trennung komme, könne die Kirche ihre mehr oder minder staatlichen Einrichtungen nicht mehr beibehalten sonst ist sie ihrem Wesen nach eine Art Staat und bildet so einen Staat neben oder in dem anderen Staate. Soweit die Kirche staatlicher Einrichtungen bedürfe, müßten sic vom Staate geschaffen werden oder doch vom Staate sank tioniert sein. Dabei müsse stets die Möglichkeit offen blei ben, daß der Staat solche Einrichtungen für mehr als eine Kirche schaffe. Die große Schwierigkeit liege nur darin, welche Einrichtungen auf diesem Gebiete für die Kirche nötig sind. Die katholische Kirche betrachte sich als ein Institut mit göttliche» Rechten und sie könne höchstens dulden, daß einzelne Staatsbürger sich ihr entziehen. Sie bestehe aber grundsätzlich auf ihren herrsck>aftlichen An sprüchen. vor allen auf dem Gebiete der Schule. Diese An schauung gelte es zu widerlegen und zu zeigen, daß die Kirche nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum höheren Zwecke der Religion und der Sittlichkeit sei. 1870, führte der Redner weiter aus, nahm der Staat zwar deni Papste Rom und den Kirchenstaat und damit die politische Herr- kchaft, überließ die Kirche aber im übrigen sich selbst und stellte sich auf den Standpunkt des „laisscv knii-o". Seit 1898 ist unter den jüngere» italienischen Geistlichen eine etwas freiheitlichere Bewegung im Gange, und seit 1902 kämpfe Pius X. mit allen kirchlichen Mitteln dagegen an. wobei auch «r (Redner) der Exkommunikation zum Opfer gefallen sei. (Stürmischer Beifall, minutenlanges Fuß getrampel). Im Christcntume selbst entdecke man Ansätze ?» Institutionen, die mit der Demokratie im Einklange stehc» und die Hierarchie verneine». Tie sozial« Demo kratie wolle die modernen Kräfte zusanuuenfassen, um eine neue Gesellschaft zu gründen. Sie erblick« aber bis jetzt in der Kirche die geborene Feindin jedweden kulturellen Fort schrittes, ja die Kirche wende sich gegen den religiösen Geist selbst. Die Kirche vergesse, daß es sich um das Aufbaucn und nicht um das Zerstöre» handle. Seit 300 Jahre» habe sie das religiöse Gewissen nicht erzogen, sondern gcknechte' durch den Buchstaben des Dogmas und durch den Beicht stuhl. Das Christentum müsse anfhören, die Religion der Satten zu sein und müsse wieder die Religion derer werden, die hungern und dürsten nach Freiheit und Gerechtigkcu Kann das Christentum die Religion der Demokratie sein? Er sei überzeugt, daß es so sein könne und so sein wird. Es müsse der Katholizismus von innen heraus erneuert werden: die offizielle Kirche werde immer schwäckier, aber die gereinigte Religion werde eine starke Triebkraft in der Welt des Willens sein, wenn sie auf jeden Zwang verzichte. Dieses Ziel sei nur zu erreichen durch den katholischen Mo- dernismus. durch die Arbeit der Seelen, die ein Band der Einheit gefunden haben, das stärker zusammenl>altc als jeder Zwang. (Minutenlanger Beifall ward dem exkom- innnizicrtcn Priester zuteil, als er die Tribüne verließ.)