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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 21.08.1908
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1908-08-21
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19080821029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1908082102
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1908082102
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1908
-
Monat
1908-08
- Tag 1908-08-21
-
Monat
1908-08
-
Jahr
1908
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vezu-t'Prei» Schwan, Schwltt «l» Sxäolr«. I» i wrtgeo vta«rc« »« dwev durch 81 Li» «UMl« Nuum« kotzet I» VkS Arbuktt»» ««» Grvrdkttout 8oh«mt»,atzrL «rvd»»«r. 1«VL «r. 14»«, Sir. I««. vurch dt« Wutz u> de>tedrui fl «al Itgitld) tnaerkalb Deutlö uud der deutichen «olomeu vtenelft b.L W„ uumatltch I.7S M. millchl. ,tr Let0»la «u» >Sor»n» durch «s«, lrtz-er »üt kp«di»«r, tut Hau« gebracht! klud«b» t (»ur moraeu») vtertallthrltch v «., moaaML I I-taad« I (mors«« »»» «brudy »trrtrl. Abend-Ausgabe L, UriWM.TMblalt HandelszeUung. Amtsblatt des Rates und des Notizeiamtes der Ltadt Leipzig. Luzeigen-Vrei» ftzr Iasmnll, aa« i!«tp^a und Umgebung dt« Saespalrrn« Petitjetle 25 Pt., finanzielle Lnzetgea 80 Pt., dieklamen Ivi.; »au aurwtrt» SV Pt., kiekt amen 1.2) M . »««Uu»lanbS0Pt., finaiu. Anzeigen 7L V kirklameo I-SO M. Inserat« v. v«hbrd«n ir «nlltchen Leil 40 Pt. vetlag«-«dllbr bM. ». lautend exkl. Poft, gebühr. Getchäfttanzetgen an bevorzugter Stell« t« Preise erhitzt. Rabat! nach larl yeftertetlt» AustrSg« kinnen ntchi zurück, gezogen werde«. Für da« itrtcheinen au bettimnrwa lagen und Plitzen ivrrd keine Saranti« übernommen. Anzeige«. Annahme 1 L»guftu«platz »«, b«i sämtliche« Filiale« «. allen Annoncen« Expedition«« de« Ja» und Aullande«. Haupt»Mltal« «erlini Tarl Doackrr, Her^gl. Bahr. Hotduch- tzandlung, Lütowftrafie 10. (lelevtzon VI, Nr. 4608). Haupt-Silial« Dresden! Seeftraße 4,1 (lelevtzon 4821). Nr. 231 Freitag 21. August 1908. 1V2. Jahrgang. Da» wichtigste. * Gegen eine Licht st euer sprachen sich die Magdeburger Stadtverordneten auS. (S. Disch». R.) * Der russische Ministerpräsident Stolypin hat einem uns aus Petersburg zugegangenen Privattelegramm zufolge seine De mission eingereicht. sS. Ausl.) * Bosnien soll eine Art Selbstverwaltung erhalten. sS. d. bes. Art.) * In der Türkei plant man eine Heeresreform großen Stils. sS. AuSl.) Die Fel-uniformen -es Dreibun-es. Don militärischer Seite wird uns geschrieben: Nunmehr ist die Einführung einer Felduniform, die auf alles Blanke und Bunte verzichtet, in allen Staaten des Dreibundes, also außer Deutschland auch rn Oesterreich und Italien, beschlossen. Die Farbtöne der verschiedenen Jelduniformen sind einander sehr ähnlich, da sie alle daS Bestreben zeigen, sich der Erdfarbe zu nähern. Für das gesamte österreichisch-ungarische Heer ist die hechtgraue Farbe der Kaiserjäger zugrunde gelegt worden. Die öster reichische Jelduniform setzt sich aus folgenden Stücken zusammen: erstens auS der Bluse, die mit einem Stehkragen versehen ist und zur größeren Bequemlichkeit der Mannschaften vorn auhensitzende Brusttaschen hat. Die verborgenen Taschen des früheren Schnitts haben sich als unbequem und unpraktisch erwiesen. Diese Bluse entspricht dem Schnitt etwa unserer Litewka. Jedoch kann die Bluse zu jedem Dienstzweig getragen werden, während unsere Litewka nur zum „kleinen Dienst" angelegt werden darf. Ferner besteht die österreichische Felduniform aus dem Beinkleid, aus Gamaschen, Käppi und Mantel. Das Lcderzeug, wie z. B. der Leibriemen (Koppel), ist von mattgelbem Leder. Die italienische Felduniform ist von grünlichgrauer Farbe. Sie hat an Stelle der Bluse eine Joppe. Außerdem findet sich bei ihr als Bestandteil die Weste, di« bekanntlich bei den meisten Arm««» fehlt. Die Hosen und die Schuhe der Italiener sind besonders für Märsche sehr bequem eingerichtet. Die Schuhe, die zum Schnüren gemacht sind, besitzen nämlich sehr lange Schäfte. Bei feldmarschmäßigem Anzuge werden die Hosen in die Schäfte der Schuhe gesteckt, die erst jetzt zusammengeschnürt werden. Bei den staubigen Straßen Italiens muß das als ganz besonderer Vorzug angesehen werden, da diese Schuhe die Wirkung der langen Schäftenstiefel haben, ohne den Nachteil ihrer Schwere und Unhandlichkeit zu besitzen. Bekanntlich bereitet ja nach langen Märschen das Anziehen der Stiefel den Mannschaften ganz be sondere Schwierigkeiten. Das Käppi der italienischen Felduniformen be sitzt einen grünlichgrauen Schirm und ebensolchen Kinnriemen. Ganz besonders bemerkenswert ist der Umstand, daß die Kavallerie einen grauen Helm trägt. Der Federhut der Bersaglieri ist mit einem grauen Ueberzug versehen. Das gesamte Lederzeug ist kastanienbraun. Die Patronentaschen sind zur schnelleren Handhabung am braunen Tornister riemen befestigt. Die Tragversuche der italienischen Uniformen werden allseitig sehr günstig beurteilt. Durch diese allgemeine Einführung der Felduniform in allen Staaten des Dreibundes ist eine erfreuliche Ueber- einstimmung und Gleichmäßigkeit des Gesamttones der Armeen im Felde erzielt worden. Schpeibev-l-n-. Erschütternde soziale Nachtbilder zeichnet die „Fachzeitschrift des Verbandes deutscher Bureaubeamter" zu Leipzig. Es ist ungefähr wie bei den Musikern; aber es ist beinahe noch schlimmer. Diese Bureau beamten müssen zum mindesten eine gute Volksschulbildung besitzen und sie können zu ihrer Tagesarbeit nicht in Pantinen und im kragenlosen Hemde gehen. „Stehkragenproletarier" nennt sie der Jargon der So zialdemokratie. Dennoch steht ihr Lohn tief, tief unter dem des unge lernten Handarbeiters. In Halle a. S. ist eine Erhebung über die Lohn stufenfolge in den Berufsgruppen der Arbeiterschaft veranstaltet worden, die wohl auch für andere Orte zutrifft. Da heißt es: Am geringsten besoldet sind die Schreiber. Von 25 Personen erhält kein einziger mehr als 3,75 .X, während ein Drittel aller befragten Tag arbeiter 4,75—5 .X bezog. Die Wochenverdienstangaben, die für 3314 Personen vorliegen, stellen dar, daß 32 Angestellte (darunter 17 Haus diener) einen Wochenlohn von weniger als 17 .kl erhalten. Die Monats verdienstangaben bestätigen wiederum, daß die Schreiber die schlechtest entlohnten Angestellten sind: von 46 Personen beziehen 32 unter 50 .X. Von den männlichen Arbeitern und Angestellten haben einen durch schnittlichen Jahresverdienst unter 600 .X (Lehrlinge, Lauf- und Haus burschen ausgenommen) nur die Kanzlisten. Zwischen 600 und 900 .X stehen die Gärtner, Hausdiener, Wächter, Bureaugehilfen s729,81 .X), Schreiber (756,25 .X) und Wärter usw. . . . Eine greisbare^Äeranschau- lichung erfahren diese jämmerlichen Verhältnisse in Halle a. S. durch eine Anzeige in einem dortigen Blatte (29. Mai 1907): „Junger Schreiber bei 10 .X monatlicher Ent schädigung für Bureau gesucht." Der ortsübliche Tagelohn gewöhnlicher Tagarbeiter beträgt in Halle für Männer 2,45 .X, was einem Jahreseinkommen von 735 .X gleichkäme. Die Kanzlisten, Bureaugehilfen und Schreiber in Halle verdienen aber knapp 600 bzw. 729 bzw. 756 .X. Nach einer über das ganze Reich sich erstreckenden Erhebung verdienten von 2283 Rechtsanwaltsbureau- beamtcn 44,6 Prozent nur bis 50 .X monatlich und etwa 9 Prozent über 150 .X. Nach einer Enquete unter den Bureauangestellten der Berliner Rechtsanwälte verdienen 50 Prozent nur bis zu 70 .X im Monat, d. h. etwa 2,40 .X, also weniger als den Mindestlohn ungelernter Arbeiter. Wie dem abzuhelfcn wäre, ist allerdings, zumal bei dem gleichzeitigen Wettbewerb weiblicher Kräfte, vorerst kaum abzusehen. Vielleicht könn ten Staat und Kommune hier mit gutem Beispiel vorangehen. Eine Verfassung für Bosnien? Seit Bosnien und die Herzegowina sich unter österreichischer Ver waltung befinden (1878), haben sich die Länder in ungewöhnlichem Maße gehoben. Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Auf schwung ging das Bestreben nach größerer Selbständigkeit und rechtlicher Gleichstellung mit den übrigen Kronländern. Nicht zum wenigsten unter dem Drucke der so erfolgreichen jungtürkischen Reformbewegung scheint sich jetzt die österreichische Regierung zu entschließen, den Wünschen der beiden Länder entgegcnzukommen, worüber folgende Nachricht vorliegt: Agram, 20. August. (Telegramm.) Wie die der Regierung nahestehende „Agramer Zeitung" berichtet, chat Minister Baron Burian mehreren von den bosnischen Mohammedanern in Angelegenheit der Automonie, Verwaltung und der Kirche in einer Denkschrift an ihn gerichteten Forderungen seine Zustimmung gegeben. Es werden im Interesse einer gewissen Autonomie auf dem Gebiete der inneren Verwaltung Bezirks- bzw. Kreisausschüsse organisiert werden, welche beratenden Charakter haben würden und in gewissen Angelegenheiten von lokalem Interesse seitens der Regierung zu Rate gezogen würden. Auf dem kirchlichen Gebiete will der Minister den einzelnen Konfessionen bereitwilligst volle Autonomie gewähren. Die Frage der zur Zeit der Okkupation für fiskalisches Gut erklärten Wal dungen soll in der Weise geregelt werden, daß alle jene Bosnier, die ein ehemaliges Eigentumsrecht auf diese Waldungen nachweisen können, eine entsprechende Vergütung erhalten sollen. Von anderer Seite wird uns zur bosnischen Verkassungssrage noch geschrieben: Seitdem die siegreiche jungtürkische Bewegung die Wiederherstellung der vor 30 Jahren gegebenen Verfassung in der Türkei erzwungen Hal, wollen die Stimmen in Oesterreich-Ungarn nicht mehr verstummen, die auch für das Okkupationsgebiet eine Verfassung verlangen. Eine Ver fassung! Das Wort ist leicht gesprochen, und diejenigen, die es rufen, geben sich auch weiter nicht viel Mühe, Näheres über diese „Verfassung" zu sagen. Die Dinge liegen im Okkupationsgebiete nicht so, wie in einem anderen Lande und das staatsrechtliche Verhältnis Bosniens und der Herzegowina zu zwei vollkommen unabhängigen Neichen sollte von jenen, die eine Verfassung für das Okkupationsgebiet verlangen, doch auch ein wenig in Betracht gezogen werden. Wir haben es ja eben, wie schon der Name sagt, mit okkupierten aber nicht mit inkorporierten Gebieten zu tun. Durch den Berliner Vertrag erhielt Oesterreich-Unzarn die Aus gabe, Bosnien und die Herzegowina zu okkupieren und dort im Wege der Verwaltung Ordnung zu schaffen. Weiter reicht einfach die Ausgabe der Monarchie nicht. Wenn man nun diesen okkupierten Ländern eine Verfassung geben will, so stellt man sie in Selbstverwaltung, entäußert sich also der durch den Berliner Vertrag gegebenen Aufgabe. Hierzu hat aber Oesterreich-Ungarn einfach kein Recht. Von einer Neuregelung der Verhältnisse in Bosnien und der Herzegowina in dem Sinne, wie es der staatsrechtliche Begriff einer Verfassung verlangt, kann also so lange keine Rede sein, als von einem Okkupationsgebiete gesprochen werden muß. Die Voraussetzung für eine wirkliche Verfassung, also für die Schaffung eines Parlamentes in Bosnien und der Herzegowina, das autonom die inneren Fragen durch Gesetze regelt, müßte die Aushebung des Punktes des Berliner Vertrages sein, der Oesterreich-Ungarn mit der Okkupation betraut hat. Jene, die für das Okkupationsgebiet die Verfassung wollen, müssen also anstreben, daß zunächst die Okkupation als solche ein Ende nimmt. So lange das nicht erreicht ist, gibt es für Bosnien und die Herzegowina nichts anderes, als den jetzigen Zustand. Was dagegen geschehen kann, ist eine Erweiterung der Gemeinde-Autonomie. Deutsches Reich. Leipzig, 21. August. * Auszeichnungen des Herzogs von Anhalt. Wie uns aus Dessau geschrieben wird, verlieh der Herzog das Großkreuz des Herzoglichen HauSordenS Albrechts des Bären an den Vizepräsidenten de» Königlich Preußischen Staatsministeriums und Staatssekretär des Reichsamt» de» Innern, Staatsminister Dr. v. Bethmann-Hollweg in Berlin und an den Königlich Preußischen außerordentlichen Gesandten und bevoll mächtigten Minister Prinzen zuHohenlohe-Oehringen, Durchlaucht, in Dresden. * Tie Stratzburger Prinzenpromotton hat belanntlich zur Klage- erhebung gegen zwei Straßburger Blätter geführt, wobei die Staats anwaltschaft die Anklage erhob, als im öffentlichen Interesse liegend. Dazu behauptet die „Reichs!. Korresp.", daß die Klage vor allem darauf abzielen solle, sestzustellen, ob und welcher Professor die von den verklagten Zeitungen niitgeteilte Aeußerung über den Ausfall der prinzlichen Prüfung gemacht hat. Es handelt sich dabei um die bekannte Aeußerung: „Er hat Pech gehabt, aber er ist ein Prinz." Sollte diese Mitteilung zutreffen, so käme auch in diesem Falle nur ein verstecktes ZeugniSzwangöverfahren in Frage. * Zum Fall Schücking. Der preußische Justizminister hat, wie uns ein Privattelegramm aus Frankfurt meldet, gestern abend eine amtliche Abschrift der Akten in Sachen gegen den verantwortlichen Redakteur der „Frankfurter Zeitung" — das ZeugniSzwanzsverfahren wegen der Schücking-Artikel — telegraphisch eingesordert. * Gegen eine Lichtsteuer. Die Magdeburger Stadtverordneten beschlossen, der Magistrat möge bei Bundesrat und Reichstag gegen Feuilleton. Ich finde nichts vernünftiger In der Welt, als von den Torheiten anderer Vorteil zu ziehen. Goethe » Nietzsche rrnter -en grotzen Sachsen. Von Dr. Erich Eckertz (Düsseldorf). Nietzsche ist Sachse; nicht lediglich Uebernationaler, Heimatloser, Europäer, wie er später in Hasel, Lils und Turin sich gerne nannte. Er gehört zu dem alten thüringnchen Bolksstamme, der sich über das heutige Thüringen und Königreich Sachsen ausbreitet. Die Bewohner nennt man heute ie nach der politischen Zugehörigkeit Thüringer und Sachsen. Gemeinsam kann man sie als Obersachsen im Gegensatz zu den westfälischen und hannöverischen Niedersachsen bezeichnen. Das Geschlecht Nietzsche wurzelt zwar, wie schon der Name sagt, in Polen, aber es ist seit manchen Generationen in Sachsen ansässig. Was etwa von dem früh verstorbenen Pfarrer sich an slawischer Art auf den Sohn sortgepflanzt haben mag, dem stand entgegen das Sächsisch-Deutsche nicht nur seiner Mutter, sondern was wichtiger ist, seiner Heimat und seines Aufenthaltes, seiner Jugend und Jünglingszeit. In Obersachsen, zwischen dem Königreich und den Staaten Thüringens, unweit Leipzig, auf dem Schlachtfelde von Lützen, siebt die Röckener Pfarre, Nietzsches Geburtshaus. In der alten Naumburg, der Mitte zwischen Leipzig und Weimar, verbringt er seine Jugend, in der nahen Pforte eine neunjährige Schulzeit, in Leipzig endlich den weitaus größten Teil seiner Studien. Als er die sächsische Heimat verläßt, da ist er so weit, di« Baseler Professur zu bekleiden, und mit seinem sächsischen Viertel- johrhundert auf dem Rücken ein leidlich fertiger Mann. Nietzsche ist sich seitdem wohl nie mehr als Sachse vorgekommen, bat nie mehr mit seinen Landsleuten sich eins gefühlt. Den Baseler Gelehrten zieht eszu den Schweizern und Franzosen hin, der einsame Seher von Sils Maria kommt sich als der Uebernationale, 6000 Fuß hoch über Europas Flachland vor, und der südliche Denker und Dichter von Turin nach Sorrent ist vollends der Heimatlose, der gute Europäer, der höchstens den Süden gelten läßt; und wenn er schon seine Herkunft angibt, dann ist es Polen; dann ist er der polnische Edelmann, nicht der sächsische Pastorensohn. Ihn selbst hatte es wohl am meisten betroffen, sich aus den weiten, sonnigen Gefilden seines Europäertums und dem unendlichen Bereich seine» Uebermenschen in die engen Pfahlbürgergrenzen seiner sächsischen Heimat zurückgebannt zu sehen, aus seinem Verkehr mit den gleich- gesinnten Europäern in die Gemeinschaft jener Sachsen, über denen er sich doch so hoch dünkte. Aber den europäischen Denker und Künstler st: seine sächsische Heimat zurückversetzen, ihn mit seinen großen Lands leuten in geistigen Verkehr und Zusammenhang bringen, das heißt an die Wurzeln seiner Art und Kunst, in den eigentlichen Kern seines Wesens gelangen. Nietzsches Schaffen ist zeitlich durch die Geburt der Tragödie und den Antichristen abgesteckt. Sein erstes und letztes Werk bezeichnen gleichzeitig die äußersten Grenzen seiner Gedankenwelt. Aus der Nachbarschaft des Antichristen hebt sich vor allem der „Fall Wagner" heraus, als „Turiner Brick" gleichzeitig Ergänzung und schärfster Gegensatz zu jener Bayreuther Apotheose der „Geburt der Tragödie". Mit dem Antichristen endlich muß man zusammen nennen das Werk, das im Mittelpunkt und aus der Mittagshöhe seines Schaffens steht, den Zarathustra. An diese markantesten Werke seines ganzen Schaffens kann man nicht denken, ohne zwei große Sachsen als ihre Vorzeichen vor Augen zu haben: Martin Luther und Richard Wagner. Die Ge- burt der Tragödie ist die große Huldigung für den Schöpfer des „Tristan" und des „Ringes", der Turiner Brief die Verdammung Parzivals. Die deutsche Bibel des Thüringer Mönchs von der Wartburg ist Lehrbuch und Vorbild für den Zarathustra, und noch den Antichristen hält jener deutsche Mönch mit seinem Christentum ge fangen. Es ,st schließlich gleichgültig, ob er sie anbetet oder verflucht, Wagner und Luther haben ihn Zeit seines Lebens nicht losgelassen. Wenn auch in der Geburt der Tragödie der klassische Philologe vaS antike Drama mitspielen läßt, so ist doch dem musikalischen Romantiker der Leipziger Wagner und jein Haus in Bayreuth die Hauptperson, und wenn er auch im Turiner Brief den Komponisten der Carmen in seinen südlichen Himmel hebt, so dient dessen „Limpidezza" doch nur dazu, den „deutschen Wasserdampf" Wagners niederzuschlagen. Wenn auch die Gedanken des Zarathustra mit einer östlichen Welt lieb äugeln, so ist doch die Sprache, die der Pfarrerssohn von Röcken darin anstimmt, engverwandt mit der Sprache des Erfurter Mönches. Wie er mit Carmen sich nur den Parzival aus Ohr und Auge bringen will, so dient ihm der Antichrist Cesare Borgia lediglich dazu, den Christen Luther zu vernichten, der ihn nie losgelassen, dessen Art wie die Wagners als Teil seiner selbst ihn stets in Atem gehalten hat. Doch wir können uns durch Anrufen der anderen großen Sachsen einen breiteren Grund legen. Es sind solche, die ihn zwar nicht wie jene beiden zeitlebens gesellest haben, immerhin aber im Drama seines Geistes mitspielen. Aus Leipzig, dem Studienplätze, der weiteren Heimat Nietzsches, der Vaterstadt Wagners, ist auch in einer früheren Geistesepochc ein Denker hervorgcgangen: der große Leibniz. Und in Leipzig verbringt die zweite Hälfte seines Lebens ein gewaltiger Künstler, dessen urwüchsige Männlichkeit und protestantisch christlicher Eifer an Luther gemahnt, wie ja auch seine Heimat mit Luthers Jiigendauscnlhalt zusammensällt: Johann Sebastian Bach aus Eisenach. Mil ihm muß man zusammen nennen den Hallenser Händel, den Schöpfer des gewaltigen Messias, dessen kühne „dem Hcroiichen zu geneigte" Kunst dem Dichter des Zarathustra so geistig wie örtlich nahesteht. Diesen gewaltigen Klassikern des Tones steht entgegen der Romantiker Schumann, dessen Musik als Begleitung der Schopcn- bauerschen Philosophie den jungen Nietzsche so ganz gefangen nimmt. Auch der hat in Leipzig studiert und geschaffen und seine Heimat ist Zwickau im südlichen Winkel des Königreichs. Aus dem östlichen end- lich, der sächsischen Oberlausitz, stellen sich noch zwei kraftvolle Denker und mannhafte Neuerer ein: Lessing, der immer streitbare Kritiker aus der Pfarre zu Kamenz, aus Rammenau endlich Johann Gottlieb Ficvle, der große Philosoph der Romantiker, als Prediger des Jchs ein Vor läufer Nietzsches. Den Romantikern Fichte und Schumann endlich schließt sich an der ManSfelder Novalis aus der engeren Heimat Luthers, dessen symbolistische Avhorismen-Philosophie zu dem hinneigt, was in seinem Landsmann Nietzsche an Romantik verborgen liegt. Wahrlich eine zeitlich und sachlich bunt zusammengewürfelte Schar von Musikern, Denkern, Poeten, Philosophen und Predigern; markanteste Köpfe für die größten Äeistesepochen von der Refor mation bis zum neuen Reich; ein geistiges Geschlecht, dem anzugehören selbst ein Nebermensch sich nicht zu schämen braucht! Nietzsche hat ihnen auch, wenigstens den meisten, von Zeit zu Zeit einen kritischen Besuch abgestattet. Doch sehen wir von einer Beweisaufnahme ab, die sich an das Zeugnis Nietzsches hält, und suchen zusammenzufassen, welche Eigenarten Nietzsche mit seinen großen Landsleuten verknüpfen. In Obersachsen, dem Stammlande der deutschen Reformation und der Hochburg des deutschen Protestantismus, ist das Pfarrhaus die Goburtsstätte großer Geister und das Christentum, wenn auch nicht der volle Gehalt, so doch Bestandteil ihres Denkens und Schaffens, ihrer Lehre^nd Kunst. Wie Nietzsche sind Lessing und der Chemnitzer Pufendorf Söhne protestantischer Pfarrer. Wie Luther ist Nietziche selbst ein Prediger, wenn auch in anderem Sinne. Die protestanti'chc Christlichkeit erklingt aus der Musik Bachs und Händels und bestreitet den Stoff dieser Großen. Christlich und religiös denkt und fühlt No valis, der Dichter der geistlichen Lieder, christlich auch der Schöpfer des Parzival. Christentum, Tbeologenblut, Religiosität bindet fast alle diese großen Sachsen. Die Christlichkeit offenbart sich in einer stark wollenden Ethik. Erziehend und lehrhaft ist dort die Kunst, pathetisch und rhetorisch ihr Gewand, überzeugend und packend ihre Wirkung: wie bei Nietzsche so bei Wagner und Luther, Lessing und Fichte. Negativ: sie haben keine Naivität und Unbefangenheit, die Wahr zeichen des Genies im höchsten Sinne, eines Goethe und Mozart. Sehr bezeichnend fehlt jenen sentimentalen Lehrmeistern und pathetischen Predigern der Sinn für das naive deutsche Volkstum, das ich im Volkslied (nicht Kirchenlied) auSdrückt. Dem Mangel an Vo kstüm- lichkcit und Naivität ist nahe verwandt ein Mangel an Seßhaftigkeit, der für keinen Stamm so bezeichnend ist wie für die thüringischen Sachsen. Trotz geregelter Jugend in der Heimat zieht es sie außerhalb der sächsischen Grenzen; selbst ihr „krudes Deutschtum" hindert sie nicht daran, durch andere Länder Europas zu schweifen und sich in ihnen woblzufühlen und sestzuwurzeln. Nietzsche findet außerhalb Sachsens eine südliche Heimat, in der eS ihn zwischen Basel und den
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