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Feierabend. K»tnh>lt«ilßi-Kkjl>-k der „Sachs. Bolkszeitung". 38. Sonntag, den 17. September 1S0S. Der Weg zum (Mick. Eine wahre Geschichte. Nach den Aufzeichnungen eines Konvertiten, bearbeitet von Antonie Haupt. S. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) So wurden mir der Brief meiner Mutter und das Reisegeld erst nach einigen Wochen eingehändigt, als ich wie der genesen war, und man daran denken konnte, mich aus dem Krankenhause zu entlassen. Ich küßte den ersten Brief meiner Mutter inbrünstig nnter Frendentränen und drückte ilm an mein Herz. Ich glaube, die freudige Ungeduld, bald zu ihr zu kommen, beschleunigte meine Genesung. Ehe ich die große Reise in das fremde Land antrat, ging ich noch einmal zum Abendmahl. Als ich von dem Pastor Abschied nahm, gab dieser mir ein Handschreiben zur Beglaubigung mit. La meine Mutter wünschte, daß ich als ihr Neffe austrete, lautete das Schreiben wörtlich fol gendermaßen: „Frau Laura Kaschkal in Szegedin übersende ich hier ihren verwaisten Neffen, nachdem derselbe im vorigen Jahre konfirmiert ist, damit sie die bisher nicht mögliche standesmäßige Erziehung ihm nachträglich zu Teil werden lassen, wozu ich den göttlichen Segen wünsche. Februar 1873. Wortmann, Pastor." Ter Herr Pastor sagte mir, daß ich nun in eine ganz katholische Gegend kommen werde. Er verlangte von mir das Versprechen, auch dort ein eifriger Protestant zu bleiben. Wie gern gab ich dieses Versprechen. Ich gab es nicht allein dem Pastor, ich gab es auch meinem lieben Vater im Himmel. Ich betete: „O wie könnte ich dich, meinen Gott, verlassen, um als Katholik die Maria, die sogenannten Hei ligen, ja Bilder aus Holz und Stein, die sie sich machen, an- zubeten! Nein, lieber will ich sterben, als dich, meinen barmherzigen Gott, verleugnen." Mit den besten Vorsätzen, mit einem Gefühle unbe grenzter Dankbarkeit gegen die göttliche Fürsehung ging ich zur Bahn und hin zur Mutter. Ja, hin zur Mutter, zur allerbesten Mutter, zur heili gen katholischen Kirche! Wenn nur einer gesagt hätte: „Ucbcrs Jahr bist du ein Katholik" — was würde ich ihm gesagt haben? Empört würde ich ausgerufen haben: Lie ber lasse ich mich zu Tode martern, als daß ich meinem all- gütigen Gott untreu werde! Während der langen Reise — sie dauerte mit dein ^ Schnellzuge ohne nennenswerten Aufenthalt fast 48 Stirn- ! den — lebte ich nur ein Jnnenl<ck>en: Ich achtete nicht auf ! die Länder, die wir durchflogen, ich achtete nicht auf meine ^ Mitreisenden. Mit halbgeschlossenen Augen malte ich mir hundert erste Begegnungen mit meiner Mutter aus. Ich sann darüber nach, wie ich sie begrüßen, womit ich sie an- reden sollte. Dann wieder plagte mich der Zweifel, ob sie mich am Bakmhofe auch gleich erkennen, ob sie mich nach der Beschreibung, welche ich ihr von meinem Acußeren gegeben, rm Getriebe heransfinden werde, und immer größere Auf regung bemächtigte sich meiner. Nach mir fast endlos dünkender Fahrt befand ich mich allein in der Wagenabteilung. Da nahm ich mein Gesang- j buch hervor, schlug es aufS Geradewohl auf und traf das Lied: „Ich habe nun den Grund gefunden, Der meinen Anker ewig hält." Etwas Passenderes hätte ich nicA aufschlagen können. Ich wiederholte immer und immer wieder den letzten VerS: „Bei diesem Grunde will ich bleiben. So lange mich die Erde trägt. Dies will ich denken, tun und treiben, So lange sich ein Glied bewegt." Ich labte und tröstete mich an den frommen Versen. Noch war ich ganz in mein Buch vertieft, da hielt der Zug. Ich war am Ziel. — Wie schlug mir das Herz! Meine Habseligkeiten raffte ich zusammen und verließ den Wagen. Draußen ließ ich meine Blicke forschend über da- Getümmel gleiten. An einem vornehm aussehenden Paare, welches in ruhiger Haltung abseits stand, blieb mein Auge haften. Der gelehrt dreinschauende Herr mit dem langen schwarzen Schnurrbart und die schöne Frau mit den glänzenden dunk- len Augen und dem welligen schwarzen Haar, sie fessÄten unwillkürlich meine Blicke. Angezogen wie von magneti scher Kraft ging ich in deren Nähe, da hörte ich, wie die Dame zu ihrem Gatten sagte: »Is orow, oost lui." Gleich darauf schritt sie auf mich zu und schaute mir tief in die Augen. „Ottomar?" bebte es leise und fragen- über ihre Lippen. „Ja, ich bin's!" vermochte ich nur zu stammeln-, dann kam es über mich wie ein Starrkrampf, ich konnte die Lip pen nicht mehr bewegen. Die Mutter aber, schnell gefaßt, vermied jede Rührszene: sie nahm mich bei der Hand und führte mich zu ihrem Gatten. „Hier lernst du deinen Stiefvater kennen, lieber Otto mar. Du wirst zu ihm Oheim sagen, ebenso wie du mich Tante nennen wirst," so gab sie mir ihre bestimmten Unter- iveisungen. 'Der Herr Professor bot mir steif die Rechte, und ich, noch immer keines Wortes mächtig, legte die meinige fluch- tig hinein, dann schritten wir gemeinsam in die Stadt. „Zunächst geben wir zu deiner Großmutter, sie erwartet uns," sagte meine Mutter. Mühsam nach Atem ringen-, ging ich an ihrer Seite. Eines klaren Empfindens war ich mir nicht bewußt, nur ein dumpfes Schmerzgefühl hatte ich nach der hochaufjauchzenden Freude. Wir kamen in das Haus meiner Großmutter. Eine Jungfer meldete uns. Sofort erschien im Türrahmen die Gestalt einer ehrwürdigen alten Dame, deren freundliches, seines Gesicht von grauen Löckchen umrahmt war. „Ottomar, mein Enkel!" klang zitternd die Stimme der Greisin und sie fand ihren Weg zu meinem Herzen. Ich flog die Stufen hinauf und lag im nächsten Augen blicke schluchzend, lachend und weinend in den Armen der jenigen, die einst meiner Mutter das Leben gab. Gleich darauf waren wir alle in Großmütterchens ge mütlichem Wohnzimmer versammelt. Mir zum Willkomm hatte sie ein kleines Mahl Herrichten lassen. Ich mußte nun erzählen von meiner Kindheit. Unbeholfen und schüchtern tat ich das.