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Wöchentlich ers-bemen drei Nummern. Pränumeration«- Prei« 22; Sgr. (- Thlr.) vierteljährlich, 3 Tdlr. für da« ganze Jahr, ohne Er- hähung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. für die Man vrännmerlrt auf diese« Beiblatt der Allg. Pr. StaatS- Zeitung in Rerlin in dec Expedition (Mohren-Straße Nr. 3H); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohlldbl. Post > Aemtern. Literatur des Auslandes. 101 Berlin, Mittwoch den 23. August 1837. Frankreich. Die Reisen der Französischen Schriftsteller. Der Sommer ist eine Feil der Ferien für alle Freien und für alle die, welche sich mit ihrer Sklaverei absinden können. Lon den ersten Lagen des Juni an verändert Paris allmalig sein Antlitz; Lie Salous werden zuerst geschloffen; bald nehmen auch dier glänzenden Equipagen ad, welche die Alleen Les Boulogner Gehölzes durchziehe». So wie die Session deendigl ist, die Pairs aus ihre Schlösser abgcgangen sind und die Lepulirlen ihr Hauswesen in Ler Provinz wieder ausgesucht haben, wo sie sich von Leu in Len letzten Sitzungen so reichlich voiiricn Ge setzen ausruhcn, verlieren Pari« und Lie Zeitungen einen Ler bedeutend sten Zuge ihrer Physiognomie. Noch einige Tage, und auch die Schulen, Kollegien und Gerichtshöfe gehen zwei Monate auf Urlaub; dann ist die Auswanderung fertig. Zum Ersatz Lasur, um den Ausfall der Pariser Bevölkerung möglichst zu decken, senden uns die Departements ihre Notabilitälen. Wir bekommen nun einen ganzen Kongrcß von Leuten auS der Provinz: ein wunderliches, liebenswürdiges Ecmengsel, zu welchem jeder Bezirk Frankreichs seine Farbe, seinen Lbaraktcr, seine Figur liefert. Gegen Ende Les Monats erhält Lie Invasion aus den Departements noch eine Lerstärknng von .königliche» Proknratoreu, Advokaten und Substituten. Der Richlerstand und die Barre Ler Pro vinz liefern der Oper ein neues Publikum, und der Ruhm unseres Duprez wird wie ei» RechlSpimkl erörlerl und von der JuriSprulenz fammllichcr Gerichtshöfe des Königreichs bestätigt. Die Künstler und Lie Literaten folgen seil einigen Jahren Lem allgemeinen Hange; sic machen e« wie die Pairs, Dandys, Depulincu, Modenärrinnen und Richler; sie verlassen Paris in der schönen Jahres zeit. Die Bühnenkünstler waren die Erste», Lie diese Mode annahmrn. Alle unsere berühmten Schauspieler reisen fast zu gleicher Zeit mit Len Jtaliänischen Sängern ab; in der Provinz suchen sie die Zuschauer, die ihnen Ler Sommer in Paris entzieht; so ist Ler Sommer eben so wohl die schöne Jahreszeit Les Theaters von Monlargis und EarpcntraS. wie des Drurylaue- und des Evventgarden-Theaters. Die Provinz richtet sich in dramatischer Hinsicht nach Lem Londoner Mode-Kalender. Wäh rend das Gvmnase und Las Palais-Royal vo» ihre» Triumphen und von ihren Winter-Einnahmen ansruhen, lägt Nantes zu Ehren Bouffö'S Medaillen prägen, und Marseille trotzt der Hitze au; Len Bänken LeS Beauveauschcn Saals, nm der Dlle. Dcjazet Beifall zu klatschen. Die Provcnyalen^ hangen so sehr an ihren ländlichen Sillen, daß in Mar seille, den Sommer über, Lie Theater des Sonnabends geschloffen sind und die Zeitungen Les Sonntags nicht erscheinen; Dlle. Dcjazet aber bat die Marseiller ihre Meicrhof-Vergnügungen und ihre Schrotjagd- Freuden vergessen lassen. Frclillon spielt am Sonnabend, und um ihretwillen vernachlässigen diese Phoceer ihre Tannen, ihre Sonne, ihre Wachteln und ihre Krammeisvögel. Einen solchen Triumph hat selbst Talma nicht davongelragen. Auch die Musiker, wie Lie Schauspieler, verlassen Paris, sobald Lie Nachtigall ihre Stimme hören läßi; sie eilen unter einen anderen Himmel, um neue Begeisterung zu suchen und sich von den Winlerstra- pazen zu erholen, Leun Ler Winter ist für Lie Lonkünstler sehr anstren gend. Die Statistik der öffentlichen und Privat-Konzerte ergiebt eine Anzahl von zwei- bi« dreitausend vom November bis Mai. Der Saal Lenladour und der Saal Sl. Jean haben von dieser melodischen Wuth besonder« gelitten, und die Musik trägt bedeutende Schuld an den Aus besserungen, Lie man in diesem Augenblick im SlaLlhause vornehme,> muß. H»„t Glück sür die Künstler, für die Zuhörer und für die Pla fonds unterbricht Ler Sommer Liese Feste; die Virtuosen gehen aufs Land oder ins Bad, nm sich »ach ihren gewaltigen Arbeiten neu zu stärken, »»v yj, Tondichter benutzen den Waffenstillstand, um ihren Genius in großen Quellen der Natur wieder anzusrifchen. Der Eine studirt die Geschichte der Völker, die er in kosmopolitische Noten übersetzen soll; Andere, der Schreckensgoll, der äuzsilor tonans des Piano, schreibt im Schatten der Wälder oder am Gestade des Meere« unter den Emstusternngen der Elemente die pbaulastischen Harmoniken, die in den regen Wipfeln bnnLerljÄbrigcr Eichen säusel», und die wo genden Symphoniker,, die in den Wellen jener unermeßlichen Orgel, ge meinhin Ocean genannt, stuihcn und brausen. Den nächsten Winter kömmt er zurück Mil eine», Portefeuille voller Orkane, und unsere ge sühlvollen Damen beben vor Entzücke,1, wen» unter den Donnerkeilen seiner Finger Erard'S Piano« zertrümmern. Was sollten Lie Maler in Paris machen, wenn die Natur sich sür sie mit all' ihren Gaben schmückt, und wenn Lie schönen Tage ihnen gestatten, ihre Staffele! unter freiem Himmel auszupflanzen? Die Maler ziehe» also mit Len Tonkünstlern davon. Die Einen, die Meister und Reichen Ler Kunst, gehen in weite Ferne, um neue Urbilder zu kopiren und Lie Sonne Le« Orient« oLrr Lie Nächte Venedig« an Ort und Stelle auszunchmen. Die Anderen, bescheidenere Leulchkii, streifen Lurch Lie nahen Gehölze um Pari« unL lassen sich die Bäume von Fontaine bleau und Boncy sitzen. Hicrnül leistet Lie Kunst Ler öffentlichen Sicherheit einen großen Dienst. Im Sommer sind auch die berüch tigtsten Wälder von allen Uebclthäiern gesäubert. Sobald die Land schaftsmaler erscheinen, verlieren sich die Diebe, wohl wissend, daß eS bei diesen neuen Gästen für sie nicht« zu gewinne» gicbi; ein Maler wird nicht bestohlen. Zuallerletzt kam die literarische Wanderschaft: ein neues Element in der Lebensweise der Schriftsteller, eine Nolhwcndigkeil, die ihnen durch die Entwickelung aufcrlcgt wurde, welche die TageSliteratur seit einiger Zeit genommen hat. Man ist es müde, sich beständig in demselben Kreise herllmzudrchcn; die Erfordernisse einer raschen Production sind schwer zu befriedige»; Lie Reisen gewähren zugleich eine heilsame Zerstreuung und einen fruchtbaren Stoff; die pittoreske Gattung schmiegt sich leicht alle» Launen der Einbildungskraft an, und der Leser reist gern in seinem Lehnstuhl, folgt gern einer lebendigen, bewegten und geistvollen Schil derung auf Vic große» Heerstraße» und Lurch Städte und Felder. Da her besteigen im Sommer so viele Literaten den Eilwagen oder La« Dampfboot. Da« erste und schlimmste Unglück der literarischen Reisen ist, daß sic fast alle einander gleichen; Lek größte Theil derer, die nach dem Malerischen pilgern, schlagen einen und denselben Weg ei», und wenn sich nach ihrer Rückkehr das Feuilleton ihren Eindrücken öffnet, sieht da« Publikum plötzlich und gleichzeitig auf allen Punkten der periodischen Presse eine Masse von Schilderungen auflauchen, die säinmllich die selben Stationen durchlaufen, an denselben Orlen verweilen, dieselben Denkmäler beschreibe». Ma» weiß, wie viel Wanderungen durch die Normandie und Ausflüge nach Belgien jeder Herbst uns bringt. Die Normandie ist immer der erste Anfang des literarischen Rei senden. Er gebt von Pari« nach Maison« mit der Diligence; umer- wcge» bewundert er Lie Eisenbahn-Arbeiten zu St. Germain. In Maisons-Laffillc schifft er sich aus dem Dampfdool ein. Hier beginnen Lie Rcisebildcr. die der Literal ausjunehmen Hal. Er öffnet sein Album und greift nach dem Bleistift. Dir Abfahrt eine« Banipsbooies ist ein Gegenstand, Ler sich zu einer herrlichen Schilderung eignet; der dampfende Schornstein, die rauschenden Räder, da« fliehende Ufer und die originellen Figuren, die sich auf dem Verdeck herumdräugen, La« liefert schon ein sehr pittoreske« erste« Kapitel. Nachdem ec seine ersten Beobachtungen flüchtig zu Papier gebracht, wendet der Reisende sich ganz auf Lie Landschaft; er betrachtet die Ilfer Ler Seine, die bi« Pcissv ziemlich langweilig sind; aber Alle«, was er steht, scheint ihm eine unerschöpfliche Fundgrube neuer, köstlicher Dinge, und er nolirt sich Häuser, Bäume, Hcerden und Mühlen in seine Schreiblasel. Wa« wird er nicht über Verneuil, Triel und Meulan, diese gar zu wenig bekannten Städte, Alles zu sagen haben, und über da« allerliebste ManlcS, da« von den Druiden gegründet wurde, über Manie«, dessen Kirche mit ihren Hobe» Thürmen ihm einen Vorgeschmack von den Glockenlhürmen der Normandie gicbi! Dann erscheint vor ihm RoSny mit seinen Erinncrungen an Lie Restauration; weiterhin la Roche- Guyon mit seinen Echloßlrümmcrn, die das Mittelalter zurückrusen. Warum aber muß ei» pittoresker Reisender, wie der gemeine Haufen, den unbescheidenen Mahnungen eine« von der freien Lust ge reizten Appetit« untcrworfen, warum muß er genötbigt sevn, sich von dem hkrrlichcn Schauspiel loszurcißen, welches die beide» User der Seine vor ihm entfallen, und in dcu Salon zum Mittagessen hinabzusteigen? Welche» Schatz verlorener Bcobachlungcn wird diese Mahlzeit unserem Reisenden kosten! Kaum gönnt er sich so viel Muße, die uolhdürslige Nahrung einzunchmcn, dir dem gefälligen Magen eine« Beobachter« unerläßlich jst, und schleunigst eilt er wieder auf da« Verdeck. „Hier sind wir nun im Eure-Departement", sagt der Steuermann, und da« Fahrzeug, seine schwarze Rauchsäule neigend, gehl unter der Brücke von Vernon hin; der Reisende kann auch noch Cbalcau-Gaillard, die beiden Andely« und Pont de > Arche nach Gefallen betrachten; mit dem De partement der Niederen Seine aber bricht die Nacht herein; Finstcrniß vcrhülll die Landschaft, und da« Schauspiel ist von neuem unterbrochen; man sieht weder Elboeuf, noch die interessante Oertlichkeit von Rouen, und traurig muß man sagen: Es war Mitternacht, als wir in der Haupt stadt de« alten Ncuslrien ankamcn. Der pittoreske Reisende tröstet sich damit, daß er am folgenden