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Unterhaltungs-Beilage -er Sächsischen Volkszeitung Nr. 22 Sonntag den Juni W3 Ave Maria! »er Morgen graut; die goldnen Sternlein neigen Mit mattem Glanze sich zur Ruhe schon; Noch ist es still. Durchs weihevolle Schweigen Dringt silberhell des Aveglöckleins Ton. „G sei gegrüßt, die «ns das Heil geboren, Jungfrau Maria, lichter Morgenstern! Dich Hab' zum Leitstern ich mir auserkoren, Dein strahlend Licht zeigt mir den weg zum Herrn!* Ave Maria! Der Mittag glüht; des Tages Mühen drücken, von Lrdensorgen ist bedrängt das Herz. Zu dir, o Jungfrau! voll vertraun wir blicken, Dich grüßend fliegt die Seele himmelwärts. „will Angst und Bangen unser Herz beschleichen, Greift uns der Feind mit List und Tücke an. Erwirk' uns Gnad', daß wir in» Kampf nicht weichen, Daß wir beharrlich gehn die Tugendbahn.* Ave Maria! Der Abend sinkt; ein zarter Nebelschleier Legt leise sich aufs stille Erdental. Das Glöcklein mahnt, daß wir zur Abendfeier Dich, holde Jungfrau! grüßen noch einmal. „Erfleh' am Himmelsthron uns Ruh und Frieden, Behüt' in stiller Nacht die Kinder dein; Umhüllt uns einst die Todesnacht hienieden, So führ' uns alle in den Himmel ein!* Ave Maria! 3. Sonntag nach Pfingsten. Evangelium: Vom verlorenen Schafe und Groschen. LukaS 1b. 1 — 10. Ein großer Prediger hat einst das Wort gesprochen, man sollte nie laut und öffentlich von Gottes Erbarmung reden, sondern man sollte diese Wahrheit nur heimlich einer reumütigen Seele zuflüstern, weil der sündige Mensch die Barmherzigkeit Gottes leicht mißbraucht, und auf seine Er barmung sündigt. Diese Gefahr ist nie größer gewesen als rn unserer jetzi gen Zeit, in welcher Millionen nur noch einen Glaubenssatz zu haben pflegen, nämlich den von der Barmherzigkeit Gottes und daraufhin sorglos in ihrem Sündenleben dahin leben, ohne an die Abscheulichkeit der Sünde zu glauben und die Gnadenmittel zu gebrauchen, die ihnen Gott darbietet, um sich von der Sünde zu reinigen. Gott wartet, ob der Mensch sich bessert und Buße tut und selbst dann, wenn er strafend eingreift, tut er es mit Erbarmung und Liebe. Endlich aber schlägt die Stunde, wo die Barmherzigkeit Gottes erschöpft ist. Wer der Stimme seiner Erbarmung das Gehör versagt, wird einst die Schläge seiner Gerechtigkeit fühlen müssen. Tenn im Hintergründe der Barmherzigkeit Gottes steht eben dunkel und schwarz seine Gerechtigkeit, um den zu ergreifen, der seine Erbar mung verachtet; und um so dunkler sind die Wolken des Zornes, je herrlicher und liebereicher die Erbarmung Gottes sich zeige. Im Hintergründe der Barmherzigkeit des Herrn, die er den ersten Eltern erwiesen, fließt jener Strom de? Elendes und tausendjährigen Wehes, den die Welt in ihren zahllosen Geschlechtern für die erste Sünde trinken muß. Im Hintergründe der ersten Sünde steht blutig das. Kreuz des Herrn und sein Leiden, das sie büßte und die Welt ver söhnte. Im Hintergründe der Erbarmung, die Gott in deck Tagen des Noe und Lot geoffenbart, rauschen die Wasser der Sündflut; und es zischet und glühet das Feuer, das über die sündigen Städte herabregnete, um sie zu vernichten, weil sie die Barmherzigkeit des Herrn mißbraucht hatten. Im Hintergründe jener Erbarmung, die der Herr seinem Volke im alten Bunde erzeigt, stehen die Strafgerichte, bist sich in der verschiedensten Weise an dem Volke Gottes er« füllten, und die Stadt Jerusalem, die wie das ganze auser wählte Volk eine große Ruine geworden ist, zum klaren Beweise, wie die Gerechtigkeit den straft, der die Erbarmung mit Füßen tritt. Ebenso steht im Hintergründe der Erbar mungen Gottes, die er durch seinen Sohn Jesus Christus uns erwiesen,- im Hintergründe unseres ganzen Lebens und' der Wcltzeit, dieser Zeit der Erbarmung und Gnade, die Ewigkeit mit ihrem Gerichte und ihren Strafen — daS Feuer, das ewig brennt, der Wurm, der ewig nagt, ein ewiges Heulen und Zähneknirschen, um denjenigen, der die größte Erbarmung Gottes verachtet hat, zu strafen und ZN züchtigen. - Daher sei es die Gnadenhand der Erbarmustgeg . Gottes, die wir in unserem Leben ergreifen wollen. H s' ^ s? ^ Das Muttergottesbild. Ekschichte aus dem alten Wien. Jede? Haus erlebt einmal eine interessante G nur erfährt man sie nicht immer. Anders bei einem Hause, das fast 150 Jahre alt geworden ist. Da weiß der Chronist stets etwas zu erzählen. So berichtet er uns von dem Hause Nr. 25 der Mariahilfer Straße, das soeben in Schutt und Trümmer gesunken ist, eine Begebenheit aus der Zeit, WS Wien von der französischen Invasion heimgesucht wurde. In, Erdgeschoß des Hintertraktes wohnte im ersten! Jahrzehnt des verflossenen Säkulums eine Witwe, Frau Penninger, die sich durch Näharbeit fortbrachte. Als Anna, ihr Töchterchen, der Schule entwachsen war, half sie der Mutter redlich und entwickelte sich dabei zu einer anmutigen und lieblichen Jungfrau, deren Schönheit auf dem ganzen Grunde gepriesen wurde. Zahlreiche junge Männer be warben sich um ihre Liebe, aber alle wurden abgewiesen» weil ihr Herz bereits gewählt hatte. Es war der Sohn des Bandsabrikanten Hochfellner auf dem Schottenfeld, dem mit Recht so genannten Brillan tengrund. der so tiefen Eindruck auf das einfache Mädchen machte. Ein lustiger, hübscher Bursche, ein aufgeweckter Brausekopf, wie ihn seine Freunde hießen, kurz, ein Mann, wie ihn die Frauen lieben, hatte er ihr Herzchen im Fluge gewonnen. Was half da der Rat der Mutter, was die Ungleichheit der Verhältnisse, auf die Frau Penninger warnend hin wies? Eine arme Nähmamsell und ein zukünftiger Fabri kant vom Brillantcngrund! Anna sah nur ihn. In seinen Augen lag so viel Treu herzigkeit. von seinen Lippen floß so viel Schmeichelndes und Betörendes. Immer fester nistete sich sein Bild in Annas Seele ein, und als er. ihr schwur, daß er sie MN